Hans-Peter Martin:
Das Spiel ist aus

Hans-Peter Martin ist wieder da. Als Journalist. Rasender Reporter. Und vor allem Analytiker von all dem, was in der Welt passiert. Mit seinem Buch "Game Over" prägt er ein neues Bild der Welt. News publiziert exklusiv einen Auszug aus dem Buch

von Politik - Hans-Peter Martin:
Das Spiel ist aus © Bild: News Matt Observe

Einst zog es ihn aus Bregenz hinaus und er raste für das renommierte deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" um die Welt. Bis zum Höhepunkt seiner journalistischen Laufbahn, als er mit seinem "Spiegel"-Kollegen Harald Schumann "Die Globalisierungsfalle" verfasste, die globale Missstände im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge aufzeigte und prompt zum weltweiten Bestseller wurde. Zuvor war er schon Mitautor der "Bitteren Pillen", eine Abrechnung mit der Pharmaindustrie.

Vor vier Jahren zog es Martin zurück nach Vorarlberg, nach Lech. Einer, der es früher an einem Ort nicht länger als drei Tage aushielt, sagt jetzt: "Hier ist mein Lebensmittelpunkt, aber ich brauche das Reisen. In Lech kann ich jedoch gut fünf Wochen am Stück leben, ohne unruhig zu werden. Das tut meiner Familie gut, das tut mir gut, und das hat dem Buch gutgetan." Seiner Frau Heike, die bei Daimler die Arbeitsmarktpolitik leitet, hat er das Buch gewidmet, sie teilt ihr Leben seit 20 Jahren mit ihm.

Der rasende Reporter

In Lech hat Martin sieben Monate lang sein neues Buch geschrieben -nach 14 Monaten Recherche von San Francisco über New York und London bis Frankfurt. "Ich bin wohl ein rasender Reporter geblieben", lächelt Martin. Und er fühlt sich wohl in dieser neuen alten Haut.

Das Ergebnis ist "Game Over". Der wissbegierige Vorarlberger stellt viele Fragen: "Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle -und dann?" In gewohnt kritischer Art analysiert der Vorarlberger die Welt und wie sie funktioniert. Ein kleiner Auszug: "Wir leben in globalrevolutionären Zeiten: Handelskriege, Währungskriege und Cyberattacken, Digitalisierung und Robotik bestimmen unsere Welt", schreibt Martin. "Ein Showdown in der EU und ein neuer Finanzcrash stehen uns bevor. Sie wirken ebenso als Beschleuniger für Nationalismen wie die wachsende ökonomische Ungleichheit." Und kommt zu dem Schluss: "Ein neuer 'heißer' Krieg droht uns."

»Ein neuer 'heißer' Krieg droht uns«

Allein der packende Einstieg lässt nachdenken über die Welt von heute und morgen. Martin ist prompt auf der Shortlist für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis gelandet. Der ehemalige Politiker, der zuerst als Quereinsteiger die SPÖ bereicherte und schnell zum unbequemen parteiinternen Kritiker wurde, schaffte mit einer eigenen Liste bei den EU-Wahlen 2009 knapp 18 Prozent Stimmenanteil. Zwölf Verfahren wegen schweren Betrugs, Unterschriftenfälschung, Kreditschädigung ließ er ohne Diversion und Makel hinter sich. Die Ermittlungen, die allesamt auf Anzeigen von politischen Gegnern beruhten, wurden unverzüglich eingestellt, als er aus der Politik ausstieg.

Martin ist ein Unbequemer. Auch sein neues Buch verspricht nichts Bequemes. "Game Over" - das Spiel ist aus. Der 61-Jährige liefert nicht nur eine Analyse des globalen giftigen Cocktails und einen schonungslosen Blick in den Abgrund. Er gibt auch unkonventionelle Antworten: "Nur Radikalität kann helfen -aus der politischen Mitte heraus. Der Ausweg: eine große, glaubwürdige Teilhabe -sozial, ökonomisch, politisch und digital."

Demokratie unter Druck

Martin: "Die Globalisierungsfalle vor 22 Jahren war als Warnruf gedacht, erwies sich aber leider in vielem als Prognose. Nunmehr heißt es 'Game Over', für den Westen, für unser Zivilisationsmodell." Kapitalismus funktioniere auch ohne Demokratie, ersichtlich am Beispiel China. "Die Volksrepublik China ist mit ihrem kapitalistischen Überwachungskommunismus der wahre Sieger nach dem Kalten Krieg und die größte Gefahr für eine Zukunft in Freiheit."

Die Kriegsspirale dreht sich

Wie konnte es so weit kommen? Das erklärt Martin in zehn Buchkapiteln als Global-Revolution. Wir alle stecken mittendrin. Die liberale Demokratie, ohne soziales Fundament, sei eine Fehlkonstruktion, denn "unhaltbare wirtschaftliche Ungleichheit und allgegenwärtige Unsicherheit münden in nationalem Chauvinismus". Und noch viel schlimmer: "Die Kriegsspirale dreht sich." Vom Trumpismus bis zum Widerstand knüpft der Vorarlberger logische Netze, die dem Leser zu verstehen geben, dass Neonationalismus nach ursprünglichen Heilsversprechen in die Irre führt und am Ende ein großes Scheitern stehen wird. Nur ganz wenige werden profitieren.

Die Analyse ist kein reiner Glaubensansatz eines Unbelehrbaren, sondern eine penibel recherchierte. "Game Over" liest sich wie ein mitreißender Schocker. Sohn Manuel, ein Mediziner, der sich dem Thema "Global Health" als junger Forscher widmet, hat Martin unterstützt und im Buch die Grafiken geliefert, etwa zur Ungleichheit auch innerhalb der Wohlstandsländer wie Österreich. Die Schere geht hier dramatisch auseinander. Und die Politiker befassen sich mit den falschen Themen. Stichwort Populismus.

Lebenslanger Grenzgänger

Martin, dem auch als Politiker schon mal Populismus nachgesagt wurde, sagt: "Als lebenslanger Grenzgänger zwischen Medien und Politik reizte mich auch die Gratwanderung -der Versuch, ein Manuskript zu verfassen, das weder Leser vor den Kopf stößt, die neonationalen Positionen etwas abgewinnen können, noch Kinder des linken Aufbruchs wie mich."

Was wurde aus seiner Prognose im Jahr 2009, dass die Wirtschaftskrise zu einer Repolitisierung der Jungen führen wird? Bisher nichts, aber Martin meint, jetzt müsse es endlich so weit sein. Für ein "New Game".

"Alle wurden noch reicher, die schon reich waren"

News bietet hier einen Einblick in Hans-Peter Martins neues Buch "Game Over", mit einem Kapitel, das die aktuelle Lage in Europa aufgreift. Es liest sich wie ein Krimi, aber es geht um die Wirklichkeit unserer Zukunft. Lesen Sie selbst:

© News Matt Observe Hans-Peter Martins neues Buch "Game Over"

Auszug aus dem Unterkapitel "Die Eurofalle","Game Over"

In der Eurofalle

Im Frankfurter Bankenviertel ist das Staunen ungebrochen. Auch zur Sommersonnenwende 2018 kritzeln Spitzenmanager in Restaurants beim vertrauten Abendessen liebevoll Milchmädchenrechnungen auf Notizzettel. EZB-Chef Mario Draghi, argumentieren sie, "hat alle reich gemacht, die Zugang zum Geld der Europäischen Zentralbank haben". Da, so ist das mit wenigen Zahlen belegbar, genügte ein spottbilliger Kredit für einen Wohnungskauf bei einer Bank, die sich dann wiederum Geld zum Nulltarif bei der EZB verschaffte.

Wer also vor zehn Jahren eine Immobilie günstig kaufte, musste zunächst noch vier bis fünf Prozent Zinsen für das Hypothekardarlehen bezahlen. Entsprechend mager fiel die Rendite aus, wenn etwa die gekaufte Wohnung vermietet wurde. Inzwischen sanken die Zinsen auch für Privatkunden auf ein bis zwei Prozent, gleichzeitig stiegen die Preise für Betongold und auch die Mieten. Je mehr sich deshalb jemand verschuldete, desto höher war und ist sein möglicher Gewinn. Mit der Ankündigung der EZB im Juni 2018, auch 2019 die Zentralbankzinsen noch am Boden zu halten, bleibt das Märchen von der fast anstrengungslosen Geldvermehrung eine Lebenswirklichkeit für alle -ja alle, die eben Zugang zu EZB-Geld haben.

Pech haben jene, die in Folge der Finanzkrise ab 2008 zu Opfern strengerer Kriterien bei der Kreditvergabe wurden, mithin Kleinverdiener, welche die inzwischen oft notwendigen 20 Prozent an Eigenmitteln nicht aufbringen konnten oder zu spät kamen, weil zum Zeitpunkt ihres Kaufinteresses die Wohnungspreise bereits für sie unfinanzierbare Höhen erreicht hatten. Das trifft auch Millionen junge, ambitionierte Menschen quer über den Kontinent, es ist ein Fluch ihrer späten Geburt. Blöd gelaufen, kann man sagen. Oder auch wütend werden, in Bozen ebenso wie in Bratislava oder Brandenburg.

"Alles, was passiert, ist rational erklärbar", sagt einer der Topmanager in abendlicher Runde unter europäischen Bankern in Frankfurt, "aber so etwas hat es noch nie gegeben." Als die EZB die Märkte mit Geld geflutet und fast zwei Billionen Euro in den Aufkauf von Staats-und Unternehmensanleihen investiert hatte, sollten damit Engpässe bei der Kreditvergabe vermieden, Investitionen erleichtert und das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden. Der Erfolg war mäßig, doch kaum jemand hatte damit gerechnet, dass die Euro-Billionen aus der Hinterhand die offizielle Inflationsrate jahrelang kaum beeinflussen würden. Die traditionelle finanzpolitische Grundregel lautet doch: Steigt die verfügbare Geldmenge, steigen auch die Preise und damit die Inflation.

Im Euroland war das aber im vergangenen Jahrzehnt anders. Deutlich sichtbar wurde nur eine Vermögenspreisinflation. Immobilien und Luxusgüter fanden Käufer, und gleich wieder neue Käufer. Die höchsten Preiszuwächse verzeichneten Oldtimer mit 360 und ohnehin schon teure, seltene Weine mit 230 Prozent. Wer sich in diese Spirale einklinken konnte, war und ist im Geschäft. Draghi machte alle noch reicher, die schon reich waren. Das ist hochgradig unsozial.

Gleichzeitig entwickelten sich die Volkswirtschaften im Euroraum unterschiedlich. Die Regierungen in Italien verstanden es nicht, die Gunst der Jahre vor der Einführung des Euros 2002 zu nutzen, als ihr Land bereits fest im Europäischen Währungssystem EWS verankert war und dadurch die Inflation massiv sank und die Kreditfinanzierungskosten für die italienischen Staatsschulden von zwölf auf fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zurückgingen. Es ist also die politische Führungsschicht der 1990er-Jahre, die für die anhaltende Misere maßgeblich Verantwortung trägt. Das wird gerne vergessen, wenn gegenwärtig so viele Nichtitaliener den Kopf über das aktuelle Wahlverhalten südlich der Alpen schütteln. Doch wie soll es weitergehen?

Ökonomen wie der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck, ein ehemaliger Staatssekretär und Chefvolkswirt bei der UNO-Organisation UNCTAD, plädieren für größtmögliche Rücksicht bei den Zahlungsverpflichtungen aus dem Defizit in Höhe von 132 Prozent des BIP und einen Wachstumsschub durch neue Schulden. Dabei wird aber die Ineffizienz der staatlichen Verwaltung in Rom übersehen und die Unlust so vieler Unternehmer und Unternehmen, in Italien zu investieren.

Andererseits wird befürchtet, die Neonationalisten könnten, wie von manchen ihrer Anführer angedroht, bald aus dem Euro aussteigen und somit auch den deutschen und französischen Banken, die italienische Schuldscheine in hohen Milliardenbeträgen in ihren Büchern stehen haben, die lange Nase zeigen. Wer aber solche Szenarien für wahrscheinlich erklärt, wird bei der Refinanzierung der eigenen Schulden sofort mit steigenden Zinsen konfrontiert. Damit sind auch Italiens Nationalisten Gefangene im System: Stellen sie das Bedienen der Staatsschulden in Frage, werden auch sie von den Finanzmärkten in Frage gestellt, und die Aufnahme neuer Schulden zur Finanzierung etwa von neuen Sozialprogrammen wird für sie noch kostspieliger.

Dies alles führt zur Kernfrage in Wirtschaft und Währung: Gibt es Vertrauen? Solange die Zuversicht besteht, dass Verbindlichkeiten irgendwie irgendwann bezahlt werden, kennen Schulden keine Obergrenze. Davon wird auch die Zukunft des Euros abhängen. Wie lange wird es den Euro noch ohne Zusammenbruch geben? Solange es das Vertrauen in diese Währung gibt. Andersherum: Das Eurosystem kann nur deshalb noch funktionieren, weil das kollektive Gedächtnis an frühere Währungszusammenbrüche verloren gegangen ist. Aus historischer Sicht müsste es längst zu einer Währungsreform gekommen sein.

In Gesprächen mit Volkswirten und internationalen Bankern erlebte der Autor immer wieder ein erstauntes Kopfschütteln. So mancher von ihnen rechnete damit, dass es so weit sein müsste: Mit einer Währungsreform käme ein klarer Schnitt, wohl über Nacht würden neue, unterschiedliche Umrechnungskurse für Bargeld, Guthaben, Forderungen und Schulden beschlossen. Doch worauf gründet sich Vertrauen, beziehungsweise von wem hängt das Vertrauen ab? Durch die wachsenden Staatsschulden haben sich trotz der Finanzspritzen der EZB die Politiker in der Eurozone im vergangenen Jahrzehnt noch abhängiger von ihren Gläubigern gemacht, also von Banken und globalen Investoren wie Blackrock und anderen Investmentfonds. Mit jedem Prozent höherer Staatsverschuldung wächst die Abhängigkeit. "Ich würde alles daransetzen, nicht in die Hände von Investoren zu geraten", bilanziert ein europäischer Spitzenmanager aus dem Bankwesen seine Erfahrungen. "Wenn man sich vom Vertrauen abhängig macht, ist das Misstrauen tödlich." Die Euroländer stecken jetzt durch die so hohe Verschuldung in der Falle. "Europa wird zur Glaubensfrage, nicht zur Substanzfrage. Wenn keiner mehr daran glaubt, ist Europa tot."

So hat die Politikergeneration, die in den vergangenen Jahrzehnten in der EU regierte, eine historische Schuld auf sich geladen. Was ist das für ein Schmäh: Die EZB half entscheidend mit, dass die Finanzkrise ab 2008 nicht zum großen Zusammenbruch führte. Doch die Investoren und Geldanleger, die sich bis dahin verspekuliert hatten und eigentlich zur Kasse hätten gebeten werden müssen, gehen nun als große Gewinner in die nächste Runde und sorgen sich um die "Unvernunft" der Wähler, etwa in Italien.

Einer der ehrlichsten Erfüllungsgehilfen der hemmungslosen Finanzmarktakteure ist EU-Kommissar Günther Oettinger. In Erwartung von baldigen Neuwahlen meinte er Ende Mai 2018, "dass die nächsten Wochen zeigen, dass die Märkte, dass die Staatsanleihen, dass die wirtschaftliche Entwicklung Italiens so einschneidend sein könnten, dass dies für die Wähler doch ein mögliches Signal ist, nicht Populisten von links und rechts zu wählen". Oettinger ist in der Kommission in Brüssel für den EU-Haushalt zuständig und außerdem Deutscher. Ein schöneres Feindbild hätte sich die italienische Rechtsaußenpartei Lega gar nicht malen können.

Frühere Bücher Einmal die Globalisierungsfalle als Warnschuss für die Weltgesellschaft, dann die Europafalle als Pamphlet seiner Eindrücke.

Neues Buch "Das Spiel ist aus". Martin zeigt nicht nur die Probleme der Welt auf, sondern findet auch unkonventionelle Lösungen. Brillant formuliert, hat das Buch das Zeug, wichtige und richtige neue Debatten auszulösen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 38 2018

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