Was am Golan wirklich geschah

EXKLUSIV: Nach dem Massaker-Video spricht erstmals ein österreichischer Soldat, der dabei war. Er verteidigt die Truppe, kritisiert die UNO aber scharf. Die heimischen Blauhelme waren schlecht ausgerüstet und sind immer öfter unter Beschuss geraten. Die Öffentlichkeit ahnte nicht im Ansatz, wie gefährlich die Lage war

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© Video: News

Österreichische Soldaten, die Bewaffnete dabei beobachten, wie sie ­einen Hinterhalt errichten. Die erst untätig zuschauen, als neun Männer den letzten Punkt passieren, der ihr Leben hätte retten können. Und die dann noch deren Erschießung in derber Sprache kommentieren. Ein dem „Falter“ zugespieltes Video, das diesen Vorfall bei der UN-Mission des Bundesheeres am Golan dokumentierte, sorgte vergangene Woche für Empörung, aber auch Verwirrung und hinterließ ein gespaltenes Land. Die einen verurteilten das Handeln der Soldaten, andere verteidigten es. Selbst dabei war keiner von ihnen.

Jener Informant, der nun in News spricht, war es jedoch: Stationiert am Golan, im Dienst an jenem Ort, an dem der Vorfall stattfand, eingesetzt dort, wo ein Eingreifen noch möglich gewesen wäre. Erstmals erzählt er, was am 29. September 2012 wirklich geschah.

Wo befanden Sie sich, als es zum Massaker kam?

An der Position 12, das war unser Checkpoint am Fuß des Mount Hermon. Wir waren neun Soldaten dort, hatten einen Wachturm, vier Meter hoch, mit Rundumblick.

Und wer waren die Österreicher, die das Video filmten?

Das waren zwei Soldaten auf Patrouille, viel weiter oben am Berg, etwa 20 Autominuten von uns entfernt.

Habt ihr einander gesehen?

Nein.

Was habt ihr mitbekommen?

Über Funk meldeten sie, dass sie beobachtet hatten, wie sich Zivilisten dort oben verschanzten, von einem Hinterhalt war noch nicht die Rede.

Im Video wurden die Männer jedoch Schmuggler genannt.

Schmuggler bewegen sich, machen vielleicht Halt, kurz Pause. Die Patrouille hat aber Waffen gesehen und auch, dass sie einander militärische Weisungen gaben. Aufgrund unserer Erfahrungen im Gebiet nahmen sie daher an, dass es sich um Rebellen handeln dürfte.

Was geschah dann?

Es kam zum üblichen militärischen Befehlsverlauf. Die Kommandozentrale wurde benachrichtigt, diese stand wiederum in Kontakt zum Kompaniekommandanten und der mit dem Bataillon. Der österreichische Bataillonskommandant war zu diesem Zeitpunkt auf Urlaub, sein Stellvertreter, ein Kroate, hatte das Oberkommando.

Zu diesem Zeitpunkt wusstet ihr am Kontrollpunkt unten noch nichts vom Eintreffen der Männer vom Muchabarat, der syrischen Geheimpolizei. Fuhren diese regelmäßig Patrouille?

Das war ganz unterschiedlich. Manchmal kamen sie einmal in der Woche, dann häufiger, und dann wieder zwei Wochen gar nicht. Es gab nicht die obligatorische Runde, welche immer zur gleichen Zeit stattgefunden hätte. Auf einmal machte der Beobachtungsposten Meldung, dass sie sich mit einem weißen Pick-up unserer Position 12 näherten. Das gaben wir über Funk weiter. Bis zum Eintreffen der Geheimdienstler vergingen fünf bis zehn Minuten.

Welcher Befehl erging daraufhin an euch?

Grundsätzlich ist die Lage klar. Laut UN-Mandat darf man die syrische Geheimpolizei nicht daran hindern, in die AOS, also die entmilitarisierte Pufferzone, zu fahren. Der Zugang ist ihr immer zu gestatten.

War euch zu diesem Zeitpunkt schon bewusst, dass die Männer, sobald ihr sie passieren lässt, in den sicheren Tod fahren würden?

Nicht gänzlich, da wir nicht das volle Lagebild hatten. Natürlich machten wir uns Gedanken, als wir den Wagen kommen sahen, und fragten uns, ob es eine Möglichkeit gäbe, sie aufzuhalten? Jedoch lautete der an uns gerichtete Befehl eindeutig, sie passieren zu lassen. Alles andere wäre auch eine Verletzung des UN-Mandats gewesen.

Was geschah, als der Wagen an der Sperre hielt?

Uns fiel auf, dass darin mit neun Mann mehr als sonst üblich waren. Sie trugen Waffen. Kommunikation mit ihnen gab es keine. Sie teilten nicht mit, worin das Ziel ihrer Mission bestand. Dazu waren sie aber auch nicht verpflichtet. Wir kontrollieren, ob Militär an Bord ist, denn das ist laut UN-Mandat verboten und wäre der einzige Grund gewesen, sie am Passieren zu hindern.

Wie ging es weiter?

Wir gaben über Funk die Zahl der Insassen und deren Bewaffnung durch und beobachteten deren weiteren Weg den Berg hoch. Die Straße windet sich über Serpentinen. Dann verschwanden sie aus unserem Blickfeld.

Wie weit war die Position entfernt, an der es schließlich zum Beschuss kam?

Eine halbe Stunde, wenn nicht länger, da sie langsam fuhren.

Wie ging es euch am Kontrollposten in dieser Zeit?

Wir diskutierten, was weiter passieren könnte, aber auch welcher Befehl von oben, von unserem Kompaniekommandanten kommen wird. Er lautete: beobachten und melden. Und er war richtig. Denn man braucht sich nichts vorzumachen: Wir waren ein paar Mann an einem schlecht bis unzureichend gesicherten Stützpunkt, mit nur einem Maschinengewehr, jeweils einem Sturmgewehr und 60 Schuss Munition. Mehr war da nicht.

Hätte es überhaupt eine Möglichkeit gegeben, das Massaker zu verhindern?

Ich bin kein hochrangiger Offizier, sondern einfacher Soldat. Aber im Nachhinein macht man sich natürlich Gedanken. Die Kommandanten hatten ihnen laut UN-Mandat das Passieren zu gestatten. Man hätte maximal einen Vorwand erfinden können, der sie vielleicht zum Umkehren gebracht hätte.

Was hätte das sein können?

Etwa, indem man ihnen sagt, dass der Weg an diesem Tag gesperrt ist, weil gerade Minenräumung stattfindet, oder, da es ja Ende September war, dass schon Wintervorbereitungen getroffen werden.

Von wem hätte solch ein Befehl kommen müssen?

Von ganz oben, also den UN-Spitzen im Golan-Hauptquartier, da das Nichtpassierenlassen sonst einen klaren Verstoß gegen das UN-Mandat darstellt und das Folgen für uns Soldaten am Checkpoint hätte haben können.

Wäre es ein plausibles Argument gewesen?

Ob sie tatsächlich kehrtgemacht hätten, kann heute keiner beurteilen. Ich sage nur, dass solch ein Vorwand, ausgedrückt durch einen Befehl von der UN-Spitze am Golan, der einzige Weg hätte sein können, die Geheimpolizisten aufzuhalten. Wir wussten ja auch nicht, warum sie an jenem Tag dort raufwollten: Lagen ihnen Informationen vor, dass sich Rebellen oben verschanzten, und waren sie deshalb in größerer Zahl auf Patrouille?

Hätte die Zeit ausgereicht, um einen solchen Vorwand zu finden?

Ich denke schon. Bloß waren die UN-Spitzen am Golan mit der Lage draußen selbst nicht konfrontiert. Sie kamen einmal im halben Jahr am Stützpunkt vorbei, ließen sich kurz einweisen und fuhren weiter.

Wie habt ihr schließlich vom Massaker erfahren?

Erneut über Funk. Die Bilder sah ich erst jetzt im Video das erste Mal. Wenngleich wir uns schon an Gefechte zwischen dem Regime und Rebellen gewöhnt hatten, waren wir geschockt. Bald stellten wir uns auch die Frage, wie die Syrer darauf reagieren würden. Denn nur ein Stück oberhalb unseres Checkpoints lag eine Kaserne der syrischen Armee. Mit dem Feldstecher konnten wir beobachten, dass es dort unruhig wurde, sie hektisch waren und sich zu sammeln begannen.

Was wäre die schlimmste denkbare Variante gewesen?

Ganz einfach: dass das syrische Militär versucht, unsere Position zu überlaufen, um an den Rebellen Vergeltung zu üben.

Wärt ihr militärisch in der Lage gewesen, sie zu stoppen?

Nein, ganz klar. Sie hätten an unserem Posten vorbei müssen, was dem Militär nach UN-Mandat verboten ist. Für uns war diese Situation sehr, sehr gefährlich. Unser Posten war nicht durch eine Steinmauer geschützt. Wir waren bei Maximalbesetzung gerade einmal neun Mann mit jeweils einem Gewehr und 60 Schuss Munition. Mehr war da nicht. Jeder hätte zu jeder Tageszeit in unsere Position eindringen können, ohne dass uns die geringste Chance geblieben wäre, sie daran zu hindern.

© Privat An jenem verhängnisvollen Tag gingen die Österreicher bereits in Schussposition. Der Checkpoint mit Wachturm ist nur schlecht gesichert

Wie lautete also die Order?

Wir zogen unsere kugelsicheren Westen an und bezogen Stellung an den Sandsäcken. Wir ahnten, dass da noch etwas kommen würde, wussten jedoch nicht, was und wann.

Was geschah dann?

Die Lage in der Kaserne beruhigte sich etwas, aber später am Abend traf ein Konvoi bei uns am Checkpoint ein. Es waren zivile Fahrzeuge mit zivilen, jedoch zum Teil bewaffneten Personen. Sie wollten nach oben. Wir wussten nicht, ob darunter auch Militärs, nur ohne Uniform, waren. Plötzlich kamen immer mehr Autos, dazu zwei Rettungswagen. Die Leute waren sehr aufgebracht, schrien, standen mit Waffen an der Sperre und wollten um jeden Preis durch. Unser Kommandant stellte sich vor sie, um sie zu beschwichtigen, was sehr viel Luft rausgenommen hat. Wir begannen eine penible Kontrolle und ließen sie nach Rücksprache mit dem UN-Hauptquartier passieren.

Was ist danach passiert?

Stunden später kehrte der Konvoi zurück – mit den Leichen der Erschossenen auf den Ladeflächen ihrer Pick-ups. Einen der Rebellen dürften sie noch gefasst haben. Er war angeschossen. Laut UN-Bericht verstarb er später.

Diese Folgegeschichte lässt das Video nicht erahnen. Wie wirkt dieses heute auf Sie?

Ich habe es vor einer Woche zum ersten Mal gesehen. Die zynische Sprache der Kameraden auf Patrouille, die das Video machten, lehne ich ab. Ich kann verstehen, dass dies viele Menschen schockiert hat. Und trotzdem ist dieses Video auf gewisse Art manipulativ, da es gekürzt und zusammengeschnitten ist. Der Betrachter sieht darin so viel mehr, als wir damals selbst sahen. Daher ist es falsch, zu glauben, dass wir einfache Soldaten an einem schlecht bis unzureichend gesicherten Kon­trollpunkt Entscheidungen hätten treffen können, die den Vorfall verhindert hätten. Wer so etwas sagt, hat weder vom Mandat noch von militärischer Hierarchie eine Ahnung.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt dennoch wegen Beihilfe zum Mord. Zu Recht?

Das weiß ich nicht. Aber es wird davon nichts übrig bleiben, da jeder von uns innerhalb des UN-Mandats und der Befehlskette gehandelt hat.

© Privat Patrouillen waren Teil der UN-Mission. Am 29. 9. 2012 beobachteten Soldaten dabei einen Hinterhalt der Rebellen, besagtes Video entstand

Verstehen Sie den Schock, den das Video auslöste?

Nur zu gut. Wenn ich selbst nicht vor Ort gewesen wäre, würde ich mich auch fragen, ob das nicht hätte verhindert werden können. Aber als Soldat am Golan muss ich mich auf die Entscheidungen meiner Vorgesetzten verlassen können, sonst bricht jedes militärische Gebilde zusammen. Wir waren auf solche extremen Vorfälle in Folge des Bürgerkriegs nicht im geringsten Maße vorbereitet.

Was änderte der Krieg in Syrien für euch?

Bei meiner ersten Golan-Mission vor Beginn des Krieges erlebte ich den Einsatz dort noch so wie wohl Generationen von österreichischen Soldaten vor mir. Wir konnten in unserer Freizeit etwa nach Damaskus fahren, besuchten dort den Basar, gingen essen. Als ich 2012 zurückkehrte, war alles anders. Vorher fuhren wir noch auf Patrouillen durch die syrischen Dörfer, nun nannte man deren Bewohner auf einmal Aufständische oder Rebellen.

Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Die syrische Armee ist gegen diese Dörfer vorgegangen. Straßen wurden abgeriegelt, der Strom gekappt, die Zufuhr von sauberem Wasser unterbunden. Dagegen wehrten sich die Bewohner, sie begannen, sich zu bewaffnen und zu kämpfen. Vor Kriegsausbruch hatten wir sie als freundliche, nette Menschen kennengelernt und plötzlich galten sie als gefährliche Rebellen.

Was bedeutete das für die UN-Mission auf dem Golan?

Für uns ist die Lage dadurch ziemlich brenzlig geworden. Es kam immer häufiger zu Feuergefechten zwischen der syrischen Armee und Rebellengruppen. Dabei wurde etwa das Fahrzeug von einem meiner Kameraden beschossen. Auch einer unserer Konvois geriet bei Damaskus unter Beschuss, da gab es Verletzte.

Wer schoss damals?

Man nimmt an, die Rebellen. Denen ging es darum, medial Aufmerksamkeit zu erregen. Wir Österreicher sind dadurch auf dem Golan indirekt zum Ziel geworden.

Mit dem eigentlichen UN-Mandat hatte das dann nur noch wenig zu tun.

Richtig, denn darin steht klar, dass wir dort sind, um syrisches und israelisches Militär am Betreten der Pufferzone zu hindern. Das war unsere Mission. Es ist darin eindeutig festgehalten, dass wir uns aus den internen Angelegenheiten Syriens rauszuhalten haben.

Gelang es in der Praxis, unparteiisch zu bleiben?

Wir versuchten es, so gut es ging, was oft schwierig war. Rebellen luden etwa Verwundete vor unseren Stützpunkten ab, baten uns, sie zu verarzten, und fuhren zurück ins Kampfgebiet. Wir halfen ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten.

Was waren besonders brenzlige Situationen?

Es gab einen Stützpunkt, die Position 37, die zum gefährlichsten Ort für uns Österreicher wurde. Der Beobachtungsposten dort war dauerhaft mit 14 unserer Leute besetzt. Knapp einen Kilometer entfernt lag ein Dorf, das ständig von der syrischen Armee bombardiert wurde. Es kam zu Beschuss durch Artillerie und Panzergeschosse, sodass wir unsere Patrouillen durchs Dorf einstellen mussten.

Hört man Ihnen so zu, grenzt es fast an ein Wunder, dass kein einziger Österreicher ums Leben gekommen ist.

Richtig, das ist fast ein Wunder. Zweimal kam es direkt vor unserer Position zu Granateinschlägen. Die besonders gefährlichen Splitter trafen dabei auch unseren Stützpunkt.

Wie wurde darauf reagiert?

Wir mussten immer öfter in den Bunker. Am Ende waren wir zwei- bis fünfmal in der Woche am Abend und in der Nacht unten, weil das Dorf permanent bombardiert wurde.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es gab Bunkeralarm. Soldaten, die schon schliefen, wurden geweckt. Wir rannten dann mit Waffe, Munition und Militärausweis runter. Bei jedem Menschen, der so etwas zum ersten Mal erlebt, löst das richtige Angst aus.

In Österreich bekamen wir von all dem nicht einmal im Ansatz etwas mit. Wieso?

Ja, das hat mich auch stark verwundert und verblüfft.

Wie reagierte die UNO auf diese Zuspitzung?

Schlecht bis gar nicht. In einem Camp standen etwa monatelang Radpanzer einfach herum, durften aber von uns nicht verwendet werden. Dabei hätten sie uns gerade in brenzligen Situationen mehr Sicherheit gebracht. Obwohl die Sicherheitslage der UN bekannt war, hatten wir die falsche Ausrüstung. Die UNO hat uns Österreicher im Stich gelassen.

War der Abzug Österreichs vom Golan also richtig?

Leider, unter diesen Voraussetzungen, ja. Kurz vor dem Abzug stürmten Rebellen einen UN-Posten an der Grenze zwischen Israel und Syrien, wo unsere Versorgungslinie lag. Zwei unserer syrischen Verbindungsoffiziere wurden dabei exekutiert. Nach unserem Abzug wurden UN-Stützpunkte gestürmt. Es kam auch zu Geiselnahmen. In Wahrheit wurde alles vollkommen unberechenbar.

Dieses Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 19/2018) erschienen!