"Enorme Nagelprobe
für die Koalition"

Wie man in souveräner Landesherrlichkeit regiert, hat Erwin Pröll in Niederösterreich 25 Jahre lang vorgezeigt. Im Interview warnt er vor dem Zerbrechen der Koalition, mahnt Disziplin und christlich-soziale Werte ein, tadelt den Bedeutungsverlust der Kulturpolitik und bewirbt die Schönheit vor der Haustür, die in einem eben erschienenen Niederösterreich-Bildband dokumentiert wird.

von Politik - "Enorme Nagelprobe
für die Koalition" © Bild: Ricardo Herrgott

Herr Doktor Pröll, das Land debattiert erregt über die Ampel, aber Gesundheitsminister Anschober hat Rekordwerte in den Umfragen und schlägt seit Längerem den Kanzler. Haben Sie für Anschobers Werte eine Erklärung?
Politik spielt sich nicht nur auf sachlicher, sondern auch auf emotionaler Ebene ab. Daher haben Erscheinungsform, Charisma und Auftreten einer Politikerpersönlichkeit entscheidenden Einfluss auf die Beliebtheit. Anschober und Kurz schaffen das besser als viele andere. Der Gesundheitsminister punktet vor allem damit, dass er weniger polarisiert und Ruhe und Gelassenheit kommuniziert.

Aber das konsequente Chaos in Anschobers Behörde?
Für die Menschen offenbar auf die Extremsituation des Lockdowns zurückzuführen. Wenn die Regierung es in solchen Extremsituationen versteht, nicht zu streiten, sondern ein Miteinander der Krisenbewältigung zu signalisieren, dann entstehen solche Werte.

Jetzt entwickeln sich die Regierungslinien aber steil auseinander.
Das wird insofern schwierig, weil für die Partner in der Regierung jetzt eine entscheidende Phase kommt, wo große wirtschaftliche und soziale Herausforderungen bewältigt werden müssen. Wenn da der Kitt, der zu Beginn der Krise gehalten hat, plötzlich nicht mehr hält

Hält er denn?
Ich wünsche es mir, denn je kritischer staatspolitische Entwicklungen werden, desto wichtiger ist es, dass der Kitt durch dick und dünn hält. Dazu müssen aber die Protagonisten über ihren eigenen Schatten springen und sehr sensibel das finden, was ein erfolgreiches Regieren ausmacht: nämlich einen Konsens, der von der breiten Öffentlichkeit mitgetragen wir. Das macht gute Politik aus. Eine Konstellation, die das kann, wird Erfolg haben. Wo das nicht gelingt, gibt es weder Erfolg noch Vertrauen.

»Momentan steht eine enorme Nagelprobe für die Koalition an«

Und die Konstellation kann? Erstens hat man den Eindruck, dass Kurz die Beliebtheitswerte Anschobers nicht mit größter Gelassenheit zur Kenntnis nimmt, und zweitens kommt jetzt Moria dazu.
Momentan steht eine enorme Nagelprobe für die Koalition an. Schon die ideologischen Positionen entwickeln enorme Fliehkräfte, und Lesbos brauche ich Ihnen nicht zu erklären.

Doch.
Lassen Sie mich allgemein antworten. Es gibt in der Politik eine Herausforderung, die jetzt deutlich spürbar wird: Sachlich ist die Argumentationslinie des Bundeskanzlers durchaus logisch und nachvollziehbar. Aber in der Politik gibt es Situationen, in denen nicht nur die sachliche Ebene allein wiegt.

Sondern?
Auch eine emotionale. Und das ist die enorme Herausforderung. Die Bruchlinien gehen quer durch die Koalition.

Das von Ihnen gepflegte christlich-soziale Denken finden Sie hier ausreichend umgesetzt?
Beide Koalitionspartner haben ideologische Positionen. Die eine ist die christlich-soziale, die andere die ökosoziale. Und beides verpflichtet gerade in diesen Zeiten.

Eventuell im gemeinsamen Bestandteil "sozial"?
So ist es.

Soll man also ein paar Kinder aufnehmen?
Ich glaube, das war deutlich genug. Dass geholfen werden muss, steht außer Zweifel.

Könnten Sie sich ein vorzeitiges Ende der Koalition vorstellen? Wäre das für die Hauptbeteiligten nach zwei abgebrochenen Legislaturperioden überhaupt überlebbar?
Das wäre nicht gut. Weder für die Hauptbeteiligten noch für die Republik.

Wie geht es Ihnen denn selbst? Haben Sie während der harten Phase der Pandemie jemals Angst gehabt?
Meiner Frau und mir geht es gut. Wir haben die Situation von Anfang an realistisch eingeschätzt. Wir waren sehr diszipliniert. Und wir haben das Glück, im ländlichen Raum zu wohnen. Die Frage der Einschränkung der Beweglichkeit hat sich für uns nicht gestellt. Irritierend war allerdings, dass wir mit unseren Kindern und Enkelkindern keinen Kontakt haben durften, noch dazu, wo meine Frau ihren 70. Geburtstag hatte. Andererseits haben wir es genossen, dass kein Fluglärm, dafür das Konzert der Vögel zu hören war. Und ich habe als leidenschaftlicher Rennradfahrer noch nie erlebt, dass auf den Straßen so wenig Autos unterwegs waren. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass der ländliche Raum im Image eine Renaissance erfährt. In den vergangenen Jahrzehnten war das Grundgefühl immer: Stadtluft macht frei. Und auf einmal, schon lang vor Corona, sind viele Künstlerfreunde in den ländlichen Raum gezogen, um dort ein bewegteres im Sinn eines beweglicheren Lebens führen zu können. Und jetzt zeigt sich, dass der Wert des Dorfes steigt. Plötzlich macht Landluft frei, und Corona hat einen enormen Auftrieb gegeben.

»Wenn es eng wird, hat alles andere Priorität, und die Kultur wird zum Anhängsel. Davor warne ich!«

Kommen wir zu Ihrer Lieblingskompetenz. Haben Sie den Eindruck, dass Kulturpolitik in der Krise überhaupt eine Rolle spielt?
In mir verstärkt sich das Gefühl, dass die Kultur als Luxusgut in wirtschaftlich stabilen Zeiten gesehen wird. Wenn es eng wird, hat alles andere Priorität, und die Kultur wird zum Anhängsel. Davor warne ich! Das ist ein schwerer Trugschluss in der Entwicklung der Gesellschaft. Ich möchte den Ausdruck "Deficit Spending" aus der Wirtschaftstheorie auf die Kultur umlegen. Gerade in schwierigen Zeiten sind Investitionen in die Kultur wichtig, denn wo sie zu Hause ist, ist auch Innovationskraft, die jetzt dringend vonnöten ist.

In Salzburg und Grafenegg wurde schon im Sommer gezeigt, welches Maß an Öffnung in Corona-Zeiten möglich ist. An beiden Orten ist alles ideal verlaufen. Nun kann es im Fall von Orange nächstens passieren, dass die Staatsoper von derzeit 1.200 auf 250 Zuschauer herunterverordnet wird. Ich denke auch an die Wiedereröffnung des Burgtheaters: Drinnen haben sich 700 Menschen peniblen Sicherheitsvorkehrungen unterworfen, draußen war eine Demo mit maskenlos aneinander klebenden, schreienden Menschen, die ihr Grundrecht in Anspruch genommen haben. Halten Sie es da für sinnvoll, nur 250 Leute in große Theater zu lassen, oder soll man differenzieren?
Es ist wichtig, zu differenzieren und auch zu disziplinieren. Ich war kürzlich für einen Festakt zum 60. Geburtstag des Astronauten Franz Viehböck in der TU. Drinnen ist alles unter perfekten Sicherheitsauflagen abgelaufen. Und auf dem Heimweg bin ich auf dem Karlsplatz Tausenden Menschen ohne Abstand und Maske begegnet. Das stimmt sehr bedenklich. Wenn man also, was eine Katastrophe wäre, die Kultur nicht noch weiter nach unten ziehen will, muss es zu einer differenzierten Betrachtung kommen, damit die Kultur überleben kann. Dazu gehört auch die Frage des Ehrenamtes und des freiwilligen Engagements in der Gesellschaft. Da lauert durch Corona eine Gefahr, weil viele, die sich bislang ehrenamtlich engagiert haben, jetzt finden, dass es ohne Engagement auch ganz gut geht. Das ist gefährlich.

Was tun?
Ein bestimmtes Bewusstsein schaffen für Verantwortung, Disziplin und Pflichtgefühl. Jetzt zeigt sich, dass eine Gesellschaft ohne diese Werte auf Dauer nicht bestehen kann. Jetzt wäre die Zeit, all das im gesellschaftlichen Umgang beinahe zu idealisieren, als etwas Positives im Zusammenleben von Menschen.

Wie fanden Sie denn den Lockdown insgesamt? War er der richtige Weg?
Selbstverständlich, die Fakten haben Recht gegeben.

»Das Grundrecht des einen endet dort, wo das Grundrecht des anderen beschnitten wird.«

Und wie ist es mit den zuletzt oft beschworenen Grundrechten? Unter dieser Prämisse haben sich wichtigtuerische Advokaten darin gefallen, sogar lebensrettende Abstandsregeln für ungültig zu erklären. Wo haben Grundrechte denn ihr Ende?
Das Grundrecht des einen endet dort, wo das Grundrecht des anderen beschnitten wird.

Zum Beispiel Gesundheit und Leben?
So ist es.

Stehen wir nicht unmittelbar vor einem Generationenkonflikt? Erst haben die Klima-Kinder der Oma, der "alten Umweltsau", vorgeworfen, ihnen die Träume gestohlen zu haben, jetzt revanchiert sich die Oma, indem sie die Jungen quasi bezichtigt, sie durch Hedonismus an Corona sterben zu lassen. Wie kommen wir da denn heraus?
Das ist auf einen Zeitgeist zurückzuführen, der immer deutlicher wird: nämlich die Familie als die entscheidende Zelle in der Gesellschaft zu untergraben. In einer vernünftigen Familie gibt es auch ein vernünftiges Zusammenleben zwischen den Generationen. Das lernen in einer gesunden Familie schon die Kleinstkinder. Automatisch wird da die gegenseitige Rücksichtnahme gelehrt und gelernt. Wir brauchen eine Gesellschaft, die untereinander so umgeht wie eine Familie. Konflikte zwischen den Generationen zerstören eine Gesellschaft.

Und wie sollen wir die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie in Grenzen halten?
Eine Automatik wird es nicht geben. Wir kommen nur in eine Normalität, wenn wir ernsthaft den Arbeitslosen die Hand reichen und Perspektiven geben, um sie mitzunehmen. Das wird budgetäre Konsequenzen erfordern.

Koste es, was es wolle?
Ich neige nicht zu extremen Formulierungen. Man sollte die Budgetpolitik mit wachem wirtschaftspolitischen Geist ausstatten: die sozial Schwächeren mitnehmen, aber gleichzeitig nicht vergessen, dass sich überstrapazierte Budgets negativ auf alle auswirken. Das ist eine Sache des inneren Gespürs jener, die Verantwortung tragen.

Was sagen Sie denn jemandem, der jetzt Angst vor Infektion oder sozialem Abstieg hat?
Ich höre solche Ängste immer wieder und kann trotz meiner Lebenserfahrung kein Patentrezept anbieten. Aber scheinbar ausweglose Situationen lassen sich lösen.

»Es gibt immer eine Chance, ein Lichtlein am Ende des Tunnels«

Haben Sie selbst welche erlebt?
Selbstverständlich! Ich bin in einem mittleren bäuerlichen Betrieb auf die Welt gekommen und habe mich durchgearbeitet. Meinen Eltern wurde nichts geschenkt. Auch ich musste mich behaupten. Ich hatte Jobsorgen, bevor ich in die Politik gekommen bin. Und als Politiker kann man mit jeder Wahl weg sein. Dann Fuß zu fassen, ist schwer. Lassen Sie mich ein Erlebnis erzählen, das mir ewig in Erinnerung bleibt. Eines Tages, knapp vor der Getreideernte, hat ein riesiges Gewitter mit Hagelschlag die gesamte Ernte vernichtet. Meine Mutter, in Tränen aufgelöst, hat Hagelkörner genommen und sie in den Weihwasserkessel gelegt. Und der Vater hat die Mutter an sich gezogen und gesagt: "Tu dir nix an. Der 's z'sammg'schlagen hat, der wird's auch wieder gutmachen." Mir läuft es jetzt noch kalt über den Rücken bei diesem Gottvertrauen. Es gibt immer wieder einen Weg im Leben, wenn man mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt, das realistische Denken nicht verliert und die Logik nicht beiseite lässt. Es gibt immer eine Chance, ein Lichtlein am Ende des Tunnels.

Gefährliches Stichwort angesichts der Kanzlerprognosen. Wann wird sich das Licht denn so ungefähr zeigen?
Tut mir leid, als Nichtvirologe bin ich da überfordert.

Wie katastrophal würde sich denn jetzt ein Lockdown auswirken?
Ich kann nur hoffen, dass das, was sich am Horizont zeigt, nicht intensiver wird. Es wird herausfordernder, wenn sich alles nach indoor verlegt. Jetzt muss die herannahende Welle auf einem Niveau gehalten werden, das einen Lockdown verhindert.

Einen Nichtvirologen gefragt: Wie gefährlich ist dieses Virus denn wirklich, wenn man bedenkt, dass die Sterblichkeitsrate kaum steigt?
Ich bin kein Fachmann, aber ich glaube, man hat in der Therapie gewonnen. Wenn man die Krankheitsverläufe zu Beginn der Pandemie mit der jetzigen Situation vergleicht, ist das schon etwas ganz anderes. Meinem Eindruck nach gibt es mehr leichte Verläufe auch bei älteren Menschen. Und wo es einen härteren Verlauf gibt, hat sich etwas bewegt.

Sind harte Maßnahmen also überhaupt erforderlich?
Ich setze da auf die Zusammenarbeit von Medizinern und Politikern, die selten so eng und so notwendig war wie jetzt.

Sie definieren die Ampel, die mir aber nicht recht ausgereift erscheint.
Um das richtige Maß zu finden, scheint derzeit trotzdem nichts Besseres vorhanden zu sein. Ich komme da nochmals zur Disziplin zurück: Wenn ich höre, dass ein Großteil der Infektionen aus Urlaubsländern mitgebracht wurde, werde ich da noch sicherer. Meine Frau und ich lieben Opatja, Istrien und Grado, aber wir haben aus tiefer Überzeugung auf den Besuch verzichtet und sind in Radlbrunn geblieben.

Das ist die Überleitung zu Ihrem wunderschönen Niederösterreich-Bildband.
Das haben Sie richtig erkannt. Es ist ein wunderschöner Band mit sehr viel Emotion, und er kommt gerade zum richtigen Zeitpunkt, wo man den Menschen mehr und mehr die Augen für das Schöne vor der Haustür öffnen kann. Unsere Tagesausflüge waren voll von Aha-Erlebnissen, selbst für mich, der 40 Jahre lang landauf, landab in Niederösterreich unterwegs war.

An Ihren Bürowänden hängen relativ freundliche, farbbetonte Schüttbilder von Hermann Nitsch. Sind die aus der neuen Serie mit den sanften, hellen Blumenfarben?
Nein, die sind von früher. Aber die neue Serie hat mich ungeheuer bewegt, auch wegen der Beschreibung, die er gegeben hat: dass hier nämlich die Auferstehung symbolisiert wird. Da ist mir mein eigenes Nahtoderlebnis in den Sinn gekommen. Ich war fünf Jahre alt, und mein Vater hat mich mit einem vollbeladenen Pferdefuhrwerk überfahren. Ich bin lang an der Schwelle gestanden, und die Farbenpracht, eine Wiese unter einer hell leuchtenden Sonne, habe ich noch heute vor Augen. Es war nur schön, kein bisschen Angst oder Schmerz. Und all die Farben habe ich jetzt in Hermanns Bildern wiedergefunden.