Österreich: Arm in
einem reichen Land

Österreich diskutiert wieder über das Thema Armut. Befeuert durch die Pläne der Regierung, die Mindestsicherung zu kürzen, sowie umstrittene Aussagen der Sozialministerin steht die Frage im Raum: Wie wenig Geld zum Leben ist zumutbar? Betroffene erzählen

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einem reichen Land © Bild: www.lukasilgner.at

Es gab ein Leben vor dem 8. Jänner 2012. Und es gibt das Leben danach. Bevor sie auf dem Eis ausrutschte und eines Morgens gelähmt aufwachte, stand Frau Sch. voll im Leben. Sie war als selbstständige Unternehmensberaterin erfolgreich, hatte einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, eine schöne Wohnung, alles, was dazugehört. Doch durch den Sturz änderte sich alles. Frau Sch. konnte zwei Jahre lang nicht arbeiten. Danach fand sie keinen neuen Job. Viele der alten Freunde wandten sich von ihr ab. Sie lebt jetzt von 870 Euro im Monat. „Es ist jeden Tag ein Albtraum“, sagt sie verbittert.

Ihre Einzimmerwohnung in Mödling ist gepflegt, mit bunten, fröhlichen Farben eingerichtet. Es gibt gute Tage, erzählt sie, an denen sie sich ein wenig Optimismus erlaubt – und die vielen schlechten. Der Kampf gegen Armut und Aussichtslosigkeit zermürbt. Hunderte Bewerbungen habe sie in den letzten Jahren geschrieben, erzählt die 50-Jährige, aber kaum je eine Antwort erhalten. „Es ist offenbar nicht mehr modern, zu antworten. Ich bin zu alt, zu überqualifiziert, zu lange weg vom Arbeitsmarkt und zu lange selbstständig gewesen. Das ist eine unheilvolle Kombi.“ Der Großteil der 870 Euro Notstandshilfe, die sie monatlich bezieht, geht für die Miete drauf. Strom, Heizung, Internet. 100 Euro Kreditrückzahlung für das Haus ihrer Eltern, in dem der Vater wohnt. Die Ersparnisse sind schon lang verbraucht. „Zum Leben bleibt mir eigentlich nichts,“ sagt Frau Sch. „Es ist so.“

© www.lukasilgner.at Frau Sch. in ihrer kleinen Wohnung in Mödling. Nächste Woche erfährt sie, ob sie in einem Imbissstand aushelfen kann

Leidenschaftliche Köchin

Als News sie vor ein paar Wochen besuchte, war sie guter Dinge. Die leidenschaftliche Köchin hatte eine Liste von Produkten erstellt, die sie gegen Spenden unters Volk bringen wollte. Marmeladen, Confits, eingelegtes Gemüse. Auch der Gemeinde schickte sie so eine Liste zu. Aber es kam, wie so oft, keine Antwort. Bis auf ein paar Gläser Marmelade setzte sie nichts ab. „Irgendwann willst du mit niemandem mehr reden, und du willst auch den Leuten nicht nachrennen“, sagt sie. „Ich sitze jetzt zu Hause und knacke Nüsse, die ich aufgesammelt habe, und hoffe, das ich sie verkaufen kann. Nächste Woche erfahre ich, ob ich bei einem Imbissstand in Wien aushelfen kann. Wenn das nichts wird, kann ich mir die Kugel geben. Bei mir geht’s um zehn Euro am Tag, damit ich mich und meine Katzen versorgen kann.“

An der aktuellen Diskussion störe sie, dass oft der Eindruck vermittelt werde, dass Langzeitarbeitslosigkeit selbst verschuldet sei. „Aber nicht jeder, der keine Arbeit kriegt, ist ein Sozialschmarotzer. Ich habe 25 Jahre in das System eingezahlt und bekomme keine Unterstützung. Es kommt nichts. Man sollte sich das differenziert anschauen und Leute, die sehr viel eingezahlt haben, unterstützen.“

Die Notstandshilfe könnte, wenn es nach Plänen der Regierung geht, nächstes Jahr auslaufen. Dann wäre Frau Sch. ein Fall für die Mindestsicherung. An deren Reform wird derzeit heftig getüftelt. Mehr Geld – etwa für ehemalige Leistungsträgerinnen wie Frau Sch. – ist dabei nicht vorgesehen. Im Gegenteil. Vorrangig gehen die geplanten Kürzungen gegen Ausländer und kinderreiche Familien, aber auch Österreicher könnten bald weniger bekommen. Als Höchstbetrag sollen 863 Euro pro Monat festgesetzt werden. Die Länder können aber auch geringere Summen festsetzen, wenn die Wohnkosten in der Region besonders niedrig sind.

Die geplanten Kürzungen stehen im ­Widerspruch zu Beobachtungen von Armuts-Experten. Zwar geht die Armut in Österreich grundsätzlich leicht zurück und ist im EU-Vergleich relativ niedrig, aber die Schere zwischen Einkommenshöhe und Ausgaben werde für viele immer belastender, sagt Martin Litschauer, Leiter Caritas Sozialberatung Niederösterreich Nord und Niederösterreich Süd. Selbst Berufstätige kämen immer schlechter über die Runden. „Das Einkommen wächst mit den ständig wachsenden Ausgaben nicht mit. Die Leute brauchen immer mehr Unterstützung.“ Oft von NGOs wie der Caritas, denn die öffentliche Verwaltung ziehe sich zurück, beobachtet Litschauer.

1.563.000 Menschen waren 2017 in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, das entspricht gut 18 Prozent der Bevölkerung. Als Schwelle für Armutsgefährdung galt im Vorjahr ein Monatseinkommen von 1.238 Euro. Aber auch wer in einem Haushalt mit geringer Erwerbsbeteiligung lebt oder erhebliche Einschränkungen in zentralen Lebensbereichen hinnehmen muss, gilt als gefährdet.

Die Kriterienliste dafür umfasst neun Punkte. Etwa dass ein Haushalt es sich nicht leisten kann, regelmäßige oder unerwartete Zahlungen zu leisten, über keinen Pkw, kein Handy oder keine Waschmaschine verfügt, nicht eine Woche Urlaub pro Jahr machen oder die Wohnung nicht angemessen beheizen kann. Wenn vier von diesen Punkten erfüllt sind, gelten Personen als „materiell depriviert“. Die Standards hätten sich in den letzten Jahren geändert, sagt Caritas-Experte Martin Litschauer. Man müsse akzeptieren, dass Fernsehen und Handy mittlerweile zum Leben der Menschen gehören.

Besonders von Armut betroffen sind laut Statistik Arbeitslose, Nicht-EU-Bürger, Alleinerziehende, Personen mit niedrigem Bildungsgrad. Oft spielt Krankheit eine beschleunigende Rolle beim Abrutschen in die Armut. So wie bei Frau Sch. aus Mödling. Und so wie bei Herrn S. aus Wien.

Der gelernte Lüftungstechniker arbeitete bei einem Würstelstand in der Wiener Innenstadt, als er wegen seiner ständigen Müdigkeit zum Arzt ging. Diagnose: Diabetes. Drei Wochen Krankenstand, Job weg. Das ist sieben Jahre her. Mittlerweile lebt Herr S. gemeinsam mit seiner slowakischen Lebensgefährtin, die nicht anspruchsberechtigt ist, von 647 Euro Mindestsicherung im Monat – der Hälfte des Paarrichtsatzes. 100 Euro Miete für die 20-Quadratmeter-Wohnung, 125 Euro Schuldenrückzahlung. Essen vom Sozialmarkt – „Sozimarkt“, wie der 62-Jährige routiniert sagt. In den herkömmlichen ­Supermärkten kauft er nur Produkte, auf denen ein 50-Prozent-Pickerl klebt. Der Türke ums Eck hat Geschirrspülmittel um einen Euro. Aber trotzdem, „es läppert sich zusammen“. Auf seinem Handy hat Herr S. eine Food-Sharing-App installiert, die anzeigt, wenn Menschen irgendwo in Wien kostenlose Lebensmittel abgeben. Herr S. fährt oft stundenlang mit Bus und U-Bahn durch die Stadt, um abgelaufene Konservendosen oder altes Gebäck abzuholen. Er hat ja sonst nichts zu tun.

Keine Hobbys

Früher ging er gerne ins Fußballstadion, erzählt er, „aber das kann ich mir nicht mehr leisten, außer im 20. bei den Amateuren, da zahlst keinen Eintritt. Früher hab ich gerne Bier getrunken, aber mich stört’s nicht, wenn ich keines hab. Andere gehen zum Würstelstand, ich geh zum Sozimarkt. Ist mir eh wurscht, ich mein nur. Aber wenn ich in der Früh mit dem Hund aus dem Haus gehe, und ich hab keinen Tschick, dann werd ich deppert.“ Das Rauchen, meint er ein wenig schuldbewusst, sei sein großes Laster, das könne er sich einfach nicht abgewöhnen. „Wie soll man mit so etwas aufhören, wenn man ständig Probleme hat? Wenn man ein ruhiges Leben hat, braucht man’s vielleicht nicht. Aber ich warte ja ständig auf etwas.“

Beim Arzt, vor dem Sozialamt. Oder auf einen Bescheid, wie es mit seiner Lebensgefährtin weitergeht. Die 50-Jährige wird wegen ihrer schlechten Deutschkenntnisse vom AMS nicht vermittelt – und hat ohne Job keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Derzeit belegt sie einen Deutschkurs. Der werde aber nicht viel helfen, meint Herr S.: „Sie ist das älteste von fünf Kindern und hat der Mutter früher im Stall helfen müssen, anstatt in die Schule zu gehen. Sie ist halt nicht die Intelligenteste. Sie kann nicht einmal gescheit Slowakisch. Wie soll sie gescheit Deutsch lernen? Und warum braucht sie zum Putzen Deutsch?“

Herr S. hat schon einiges erlebt. Auch den einen oder anderen Konflikt mit dem Gesetz. Er nimmt seine Lebensumstände mit Humor und arrangiert sich, so gut es eben geht. Und er will kämpfen, damit er und seine Lebensgefährtin wieder die vollen 863 Euro bekommen.

An einer Stelle im News-Gespräch kämpft er aber mit den Tränen. Die Schwester seiner Partnerin liege in der Slowakei im Spital, erzählt er. „Sie stirbt wahrscheinlich. Meine Lebensgefährtin sollte rüberfahren und sie besuchen. Aber wir können eigentlich nur warten, bis sie stirbt. Das, was wir haben, sparen wir, damit wir zum Begräbnis fahren können.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 40 2018