Doskozil: An der
Grenze des Machbaren

Burgenland–Wien und retour. Hans Peter Doskozil musste als Polizeichef im Burgenland die Flüchtlingskrise 2015 managen. Als Politiker will er nun die Krise der SPÖ beim Thema Zuwanderung lösen. Eine Reise an jenen Grenzübergang, an dem sich ein Land änderte und eine Karriere begann

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Grenze des Machbaren © Bild: Ricardo Herrgott

Der Grenzübergang Nickelsdorf im Spätsommer 2018. Hans Peter Doskozil steht wenige Meter von einem der Zäune entfernt und beschreibt, wie es damals war. Vor drei Jahren, als sich im Spätsommer 2015 Tausende Menschen auf den Weg nach Österreich und Deutschland machten, auf der Flucht vor dem Krieg und auf der Suche nach einem besseren Leben, zunächst aufgehalten und dann durchgereicht von Ungarn. „Dort drüben“, deutet Doskozil auf ein grünes Dach, ein paar Hundert Meter entfernt, „haben die NGOs auf ungarischer Seite gewartet. Dort haben die Busse die Flüchtlinge aussteigen lassen und sind zurückgefahren. Dann sind die Menschen da über die Straße und über die grüne Wiese herüber gelaufen.“ Auf die österreichische Grenze zu. Und dort stand damals der burgenländische Landespolizeichef – eben Hans Peter Doskozil – und hatte den Auftrag, das, was hier passierte, irgendwie in den Griff zu bekommen.

Seit damals ist viel passiert. 17.576 Menschen kamen an diesem ersten Wochenende über die Grenze. 688.899 waren es bis zum Jahresende 2015. Knapp 44.000 von ihnen stellten einen Asylantrag in Österreich. Die anderen wollten weiter nach Deutschland.

Was heute als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, hat das Land und die Einstellung vieler Österreicher zu Flucht und Zuwanderung in die eine oder andere Richtung, aber jedenfalls nachhaltig geprägt, hat die politische Landschaft umgekrempelt – von einer rot-schwarzen hin zu einer türkis-blauen Bundesregierung. Und hat Doskozil vom Burgenland in die Bundesregierung nach Wien und wieder zurück ins Burgenland gebracht. Denn die SPÖ, für die er bald darauf Verteidigungsminister wurde, hat die Nationalratswahl 2017 verloren, weil sie keine Antwort auf das Thema Zuwanderung hatte, die die Wählerinnen und Wähler zufriedengestellt hätte. Denn jahrelang mied man die Reizworte Zuwanderung, Asyl, Integration, weil man fürchtete, damit das Geschäft der FPÖ zu erledigen. Derweil wanderten die Wähler zu den Blauen ab. Doch auch von jenen, die der SPÖ bei der Nationalratswahl die Treue hielten, meinten 61 Prozent, das Land vertrage keine weiteren Flüchtlinge, ergab eine Gfk-Umfrage.

Auf der Suche

Daher soll Doskozil, mittlerweile SPÖ-Chef im Burgenland und künftiger Landeshauptmann, nun wieder eine „Flüchtlingskrise“ managen. Jene der SPÖ nämlich, die bei ihrem Parteitag im Oktober endlich eine Antwort darauf haben will, wie sie mit dem Thema umgehen soll. Eine Antwort, die im liberalen Lager ebenso funktioniert wie bei jenen, die sich einen restriktiven Kurs wünschen. Eine Linie, an die sich dann auch alle roten Funktionäre quer durch alle Bundesländer halten sollen. Doch wo diese Linie verlaufen soll, daran tüfteln Doskozil und der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser schon seit Monaten. Und die interne Debatte verlief bis zuletzt – das Grundsatzpapier stand am Donnerstag auf der Tagesordnung des SPÖ-Präsidiums – in Detailfragen kontrovers.

Eigentlich, meint Doskozil, während er seinen Wagen vorbei an Grenzbeamten, geparkten Lkw und schrottreifen Autos Richtung Niemandsland zwischen Österreich und Ungarn lenkt, sei der Weg für die SPÖ ja gar nicht so schwer zu finden. „Es kann doch nicht sein, dass wir Fremdenrechts- und Asylgesetze haben, die die SPÖ zum Großteil im Parlament mitbeschlossen hat, aber wenn es um den Vollzug dieser Gesetze geht, sagen wir: Die sind uns ein bissel zu hart und zu scharf.“ Soll das heißen, die SPÖ duckt sich vor ihren eigenen Gesetzen weg? „Ich nicht.“

Ab 2006 stellte die SPÖ nach Wolfgang Schüssels schwarz-blauer Koalition wieder den Kanzler, jede Fremdenrechtsnovelle seither geht auf ihr Konto. Und auch davor zog die Sozialdemokratie mit. „Die große Gesetzesnovelle 2005, sogar die Zwangsernährung bei Hungerstreik stand damals zur Debatte, wurde mit den Stimmen der Oppositionspartei SPÖ beschlossen“, erinnert sich Doskozil.

Das Zustandekommen solcher Gesetze sei eben ein demokratischer Prozess. „Und wenn wir Gesetze, die unsere Abgeordneten im Parlament beschließen, nicht mehr ernst nehmen – das wäre ja skurril. Das ist für mich die Richtschnur. Alles andere wäre eine Aufforderung zum Gesetzesbruch. Und ich hätte noch nie jemanden in der SPÖ gehört, der dazu aufruft.“

Mitmachen oder abgrenzen

Nun will man ÖVP und FPÖ das Thema Zuwanderung nicht mehr allein überlassen. Aber: „Die SPÖ wird in dieser Frage nie der härteste Hund sein“, hat ihr Parteichef Christian Kern schon öfter postuliert. Wie also funktioniert die Abgrenzung zum restriktiven Kurs der Regierungsparteien? „Ich denke schon, dass wir uns unterscheiden“, sagt Doskozil. „Wir verfolgen etwa nicht wie Sebastian Kurz das australische Modell, das vorsieht, dass man die Menschen auf einer vorgelagerten Insel interniert. Und wir würden viel intensiver versuchen, jene Menschen, die Asyl bekommen haben, rasch in die Arbeitswelt zu integrieren.“

Schon im Wahlkampf 2017 haben Kern und Doskozil die Grundzüge jenes Papiers präsentiert, das nun weiter ausgearbeitet wurde. „Sieben-Schritte-Plan“ zur Eindämmung der Migrationsströme aus Afrika, nannte man das damals. Langfristiges Ziel: Asylanträge sollen „so nahe wie möglich an den Krisenherden gestellt werden“ – entweder in eigenen Verfahrens­zentren der EU oder wie früher auch in den Botschaften der EU-Länder. Es folgt ein EU-einheitliches Asylverfahren. Und nur wer danach einen positiven Bescheid in Händen hält, soll sich auch auf den Weg nach Europa machen dürfen. Wer ohne Asylverfahren einreist, soll nicht bleiben dürfen. „Das ist fair“, sagt Doskozil, „weil man nicht vorgaukelt, in Europa ist alles super, und weil die Menschen klar mitgeteilt bekommen: Es gibt Asyl, oder es gibt keines.“ Nur wenn diese Kontrolle der Außengrenze funktioniere, könne man mit allen EU-Ländern, also auch den skeptischen Visegrád-Staaten, eine Einigung über die Aufteilung von Flüchtlingen finden. „Sonst sagen diese, wir haben ohnedies schon illegale Migration, warum sollen wir legal auch noch jemand nehmen?“

Dennoch bleiben offene Fragen, die Österreich nicht alleine abhandeln kann: Wer sorgt für die Verfahrenszentren, wer übernimmt die Rückführung von Menschen, die einen negativen Bescheid haben? Wo werden die Menschen leben, die heimkehren müssen? Die Errichtung von Charter Cities, also eigens errichteten Wirtschaftszonen etwa in Afrika, war bis zuletzt SPÖ-intern umstritten.

Und, für die Parteispitze innenpolitisch noch viel bedeutender: Was, wenn sich nicht alle roten Protagonisten an die neue Linie halten? „Das wird Beschlusslage der SPÖ sein, auch wenn das der eine oder andere vielleicht nicht mittragen will. Es gibt ja auch im Nahbereich der ÖVP, wenn auch eher der schwarzen als der türkisen ÖVP, Menschen wie etwa Christian Konrad (Ex-Raiffeisen-Generalanwalt und später Flüchtlingsbeauftragter der rot-schwarzen Regierung, Anm.), der mit der Migrationspolitik des Bundeskanzlers sicher nicht einverstanden ist.“ Doch Konrad ist kein ÖVP-Funktionär, muss keine Parteilinie vertreten. „Es macht keinen Unterschied, ob einer Parteifunktionär ist oder jemand, der Leute zu Parteifunktionären macht“, grinst Doskozil ein bisschen süffisant.

Fehler der Vergangenheit

Die SPÖ hat die letzte Nationalratswahl mit dem Flüchtlingsthema verloren, doch reicht das nun Beschlossene, um dieses Wahlkampfthema zu entschärfen? „Wichtig ist, dass wir nun eine klare Meinung zu diesem Thema haben und die Bevölkerung das Vertrauen in die SPÖ gewinnt, dass wir die Zuwanderung mit Hausverstand regeln können. Doch die eigentlichen Themen der SPÖ sind doch ganz woanders“, erklärt Doskozil.

Am vergangenen Samstag wurde er von der SPÖ-Burgenland zum neuen Parteichef gewählt. Ende Februar 2019 wird er Hans Niessl auch als Landeshauptmann nachfolgen. Nicht nur für die SPÖ, auch für Hans Peter Doskozil ist es also an der Zeit, thematisch zurück zu den Wurzeln zu gehen. „Unsere Themen sind der Arbeitsmarkt mit der nun möglichen 60-Stunden-Woche und die zunehmende Privatisierung“, erklärt er daher. „Im Bereich der Sicherheit, der Gesundheit und der Pflege gibt es eine gefährliche Entwicklung, denn mit dem Verschieben von Leistungen in den privaten Sektor laufen wir Gefahr, das System nicht langfristig absichern zu können. Ich befürchte, dass wir mit diesem stetig wachsenden Wirtschaftsliberalismus in eine ganz andere Gewichtung abdriften und dass das gesellschaftspolitische Gleichgewicht aus den Fugen gerät.“

Noch als Minister sei er zu einem Arbeitsbesuch in Deutschland gewesen. Dort habe sein Amtskollege gerade darüber nachgedacht, ob und wie er im laufenden Jahr noch Geld ausgeben könnte. Denn der Finanzminister habe einen Überschuss von 19 Milliarden Euro und warte auf Vorschläge. „Gleichzeitig haben sie dort Hartz IV, in den meisten Fällen kein 13. und 14. Monatsgehalt und niedrigere Pensionen. Ich war mit meinem Sohn bei einem Dortmund-Match, am Rückweg noch in einem Vergnügungspark in Köln, und dort habe ich gesehen, was ich in Österreich nie sehe: Pensionisten, die als Reinigungskräfte arbeiten, weil sie mit dem Geld nicht auskommen. Ich frage mich: Wollen wir uns dort hin entwickeln? Das ist der Weg, den die Bundesregierung einschlägt. Und daher sind das die Themen der SPÖ – oder sollten sie sein in der Zukunft.“

Fragen der Zukunft

Weg vom heiklen Terrain also, lautet die Devise. Dabei kommt der SPÖ der Lauf der Zeit zugute, die Zahl der Asylanträge hat sich wieder auf das Niveau vor 2015 eingependelt. Rund 8.260 waren es bis Ende Juli 2018. Doch Doskozil wagt eine Prognose: „Selbst wenn es wieder zu einer großen Flüchtlingswelle käme, glaube ich gar nicht, dass das der SPÖ schaden würde. Denn dann würde man sehen, dass die jetzige Regierung auch nichts anderes machen kann, als in der Vergangenheit gemacht wurde.“

Dem damaligen SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann hängt der Vorwurf nach, 2015 mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die Grenzen geöffnet und damit die große Flucht nach Mitteleuropa so richtig angekurbelt zu haben. Doskozil schaut auf den nun verlassenen Grenzstreifen bei Nickelsdorf: „Dieses Argument ist genauso falsch, wie zu behaupten, dass man die Balkanroute geschlossen habe, nur weil die Zahl der Ankommenden zurückgegangen ist. Diese Route war nie geschlossen und wird nie geschlossen sein. Es ändert sich nur die Zahl jener, die über sie geschleppt werden.“

Genauso wenig wie nun geschlossen werde, sei von der damaligen Regierung eine Grenze geöffnet worden, meint Doskozil. „Es waren schon alle Grenzen offen. Das Schengen-Abkommen war außer Kraft gesetzt. Wer hier steht, die Weite der Landschaft sieht und behauptet, man hätte Grenzkontrollen machen sollen, hat nichts verstanden. Da wären alle trotzdem rübergekommen, weil einfach die Macht des Faktischen Platz gegriffen hat. Aber aus den Ereignissen damals ist immerhin diese Diskussion entstanden: Wie weit kann und soll der Staat die Möglichkeit haben, selbst zu bestimmen, wer kommen darf?“ Trotz der starken Töne der aktuellen Regierung, noch gebe es keine Regelung, die Ereignisse wie 2015 verhindern würde: „Wir haben hier eine 300 Kilometer lange Grenze, und an fast jedem Punkt kann man herüberkommen. Was vor drei Jahren passiert ist, kann wieder passieren, solange wir das System der Asylverfahren nicht ändern.“

Doskozil geht zurück zu seinem Auto. Der nächste Termin in Eisenstadt wartet. In seinem Kalender stehen nicht mehr die bundespolitischen Großereignisse, sondern die Landespolitik. Ob er jetzt auch ins die Rolle des Landeshauptmannes wechseln würde, wenn die SPÖ die Wahl gewonnen hätte? „In der Politik kann man nie vorplanen. Das muss man vorher wissen und akzeptieren. Und das war halt eine der Überraschungen, die es in der Politik gibt. Eine schöne Überraschung, wie man jetzt sieht.“ Noch immer wird darüber spekuliert, dass Doskozil zurück in die Bundespolitik, vielleicht an der Spitze der SPÖ wechseln könnte. „Ich bin Parteichef im Burgenland und bleibe das auch.“ Eine Standard-Antwort. Obwohl man in der ­Politik nichts planen kann? „Kann man eh nicht. Es kann alles passieren. Es kann sein, dass wir nach der Wahl 2020 einen Drei-Parteien-Landtag haben und eine Mehrheit gegen die SPÖ. Dann ist es politisch vorbei. So ist das Leben.“

Mit welchem Gefühl Hans Peter Doskozil hier an der Grenze steht, wo seine politische Karriere so richtig begann? „Als damals der große Andrang relativ plötzlich wieder vorbei war, hat mir fast etwas gefehlt, so blöd das vielleicht auch klingen mag. Jetzt ist es eine Erinnerung mit einer großen Distanz, fast so, wie man an seine Schulzeit zurückdenkt. Vielleicht ein bissel verklärt. Es ist ja auch so viel passiert in der Zwischenzeit.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 37 2018