Peter Seisenbacher:
Die Glaubensfrage

Der zweimalige Olympiasieger Peter Seisenbacher ist wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Mädchen angeklagt. Nur wenige kämpfen noch an seiner Seite. Der Prozess zur Wahrheitsfindung beginnt am 25. November in Wien.

von Porträt - Peter Seisenbacher:
Die Glaubensfrage © Bild: Nina Strasser

Am Himmel über dem ersten Bezirk in Wien explodierten Feuerwerkskörper, drinnen tanzte die Judowelt Walzer. 300 Gäste feierten im März 2018 das 70-Jahre-Jubiläum des Österreichische Judoverbands (ÖJV) im Kursalon Hübner. Funktionäre aus dem Inund Ausland überreichten einander Ehrenurkunden und huldigten verdienstvollen österreichischen Judoka von einst und heute. Der Superstar des Verbandes fehlte -nicht nur körperlich. Der Name Peter Seisenbacher fand in keiner Rede Platz, dass er als erster Judoka weltweit zwei Olympiagoldmedaillen gewinnen konnte, wurde nicht honoriert, seine Abwesenheit nicht kommentiert. Als sich der Selbstverteidigungssport in Wien um sich selber drehte, saß einer ihrer größten Stars seit fast eineinhalb Jahren in der Ukraine fest und versteckte sich vor der österreichischen Justiz. Der Judosport übt sich nach außen in japanischer Zurückhaltung, seit der 59-jährige Wiener im Oktober 2016 nach dreijährigen Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft angeklagt wurde, zwei Mädchen unter 14 Jahren schwer sexuell missbraucht zu haben. Bei einer 16-Jährigen soll er das Autoritätsverhältnis missbraucht haben. War er es oder war er es nicht? Der Fall Seisenbacher ist in der Judoszene zur Glaubensfrage geworden.

Am 25. November und 2. Dezember soll beim Prozess am Landesgericht in Wien fünfeinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Anzeige endlich geklärt werden, was in den Jahren 1997 bis 2004 zwischen Seisenbacher und seinen Schützlingen des Budoclubs Wien vorgefallen ist. Im Falle des Schuldspruchs drohen dem Wiener bis zu zehn Jahren Haft. Die 60 Plätze im Großen Schwurgerichtssaal sind ausgebucht.

Die Flucht

Für jene, denen die Verehrung für eines der größten Sportidole Österreichs fremd ist, scheint die Schuldfrage spätestens seit dem 19. Dezember 2016 geklärt, als der Welt-und Europameister nicht beim Gerichtstermin am Wiener Straflandesgericht erschienen war. Die wilden Spekulationen über seinen Aufenthaltsort endeten erst am 1. August 2017, als ihn ukrainische Kriminalbeamte in einer Absteige in Kiew verhafteten - aber bald darauf wieder auf freien Fuß setzten. Zeitweise soll der Aufenthaltsort des international Gesuchten erneut unbekannt gewesen sein. Vertraute, so heißt es in Judokreisen, hätten in dieser Zeit Geld für Seisenbacher gesammelt, um dem in Geldnöte geratenen Olympioniken das Überleben zu sichern. Wie dann ein Pass eines Wiener Funktionärs in die Hände des international Gesuchten geriet, ist noch Gegenstand von Ermittlungen. Jedenfalls: Als Seisenbacher im Herbst dieses Jahres mit dem Dokument versuchte, aus der Ukraine Richtung Polen auszureisen, wurde er erneut festgenommen und bald darauf nach Österreich ausgeliefert - auf eigene Bitte. Denn in der Ukraine musste sich der Judoka mit 29 Zellengenossen eines von 15 Betten teilen. In der U-Haft in der Wiener Josefstadt, in der er seit 12. September 2019 einsitzt, verbringt der Wiener seine Zeit mit zwei weiteren Häftlingen vor dem Fernseher.

»Er ist ganz ruhig. Seinen Humor hat er jedenfalls nicht verloren«

Die Judoszene harrt derweil der Entwicklungen. Seisenbacher ist der Inbegriff der goldenen Zeiten des japanischen Kampfsports in Österreich, als internationale Titel häufig und der Kampf um Aufmerksamkeit nicht zu verlieren war. Kein Judoka wird sich finden, der ihn ob seiner erbrachten Leistungen nicht bewundert, wenige sind es, die ihn aufgrund seines kompromisslosen Wesens schätzen.

Der Ungläubige

Norbert Herrmann, 70 Jahre alt, ehemaliger Judo-Nationaltrainer und mitverantwortlich für die größten Erfolge des Olympiasiegers, hat ihn sowohl in der Ukraine als auch im Gefängnis in Wien besucht. Seisenbacher warte stoisch auf seinen Prozess, berichtet der väterliche Freund, nur das ORF-Programm empfinde er als strafverschärfend. "Seinen Humor hat er jedenfalls nicht verloren", sagt Hermann, der fest an die Unschuld des Wieners glaubt. "Er ist ein geradliniger Mensch. Er sagt allen seine Meinung, egal ob es ihm schadet oder nicht", sagt der Vizepräsident des Wiener Landesverbands. "Das hat auch seinen Erfolg ausgemacht, auch wenn das für viele nicht angenehm war." Gekämpft habe Seisenbacher auf der Matte wie im Leben am liebsten mit vermeintlich Stärkeren. Dass sich der zweifache Olympiasieger an Kindern vergangen haben soll, sei unter diesen Aspekten schlicht nicht vorstellbar. "Das passt alles so überhaupt nicht zu ihm", sagt Herrmann. "Im Zweifel für den Angeklagten. Wenn es nach so langen Ermittlungen keine Zweifel gibt, weiß ich nicht, wo dann."

Der Gläubige

Gänzlich anderer Meinung ist Hubert Rohrauer, der mit Seisenbacher früher im Nationalteam kämpfte. Einst beste Freunde, zerstritten sie sich im Laufe der Jahre, da "Peter sich als Mensch mit der Anzahl seiner Erfolge zu seinem Nachteil verändert hat". Dennoch, betont Rohrauer, habe er ihn als Sportler und Trainer stets respektiert. Die Anzeige habe bei ihm erst Ungläubigkeit ausgelöst, dann einen Schock. Er sei überzeugt, dass die Betroffenen nicht lügen würden. "Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit. Diese Lebensweisheit hat sich für mich immer bestätigt." Er habe die mutmaßlichen Opfer schon zum Zeitpunkt der Tatvorwürfe gekannt, hatte mit einem auch später noch Kontakt. "Ein durchwegs ehrlicher Mensch." Die Meinung habe er für sich gefällt: "Sportlich ist Peter ein Kapazunder, aber menschlich ein Versager."

Die Taten

Die Taten sollen begonnen haben, kurz nachdem Seisenbacher 1996 den eigenen Judoclub, den Budoclub Wien, gegründet hatte. In der Trainingsstätte in der Wiener Blattgasse soll es ebenso zu Vorfällen gekommen sein wie bei Trainingslagern im burgenländischen Güssing, wo der Judotrainer ein Haus gemietet hatte. Dort ging es, so berichten jene, die dabei gewesen sind, überaus familiär zu. Ein ehemaliges Vereinsmitglied berichtete News: Die jeweilige Partnerin des Olympiasiegers sei oft anwesend gewesen, ebenso andere Erwachsene. "Die Mädchen und Buben haben gemeinsam in der Trainingshalle übernachtet, untertags waren wir Kinder immer zusammen."

»Sportlich ist Peter ein Kapazunder, menschlich ist er für mich ein Versager«

Wie, so fragen die Ungläubigen, soll es unter vielen Augen zu den Übergriffen gekommen sein? Wieso gab es darüber hinaus keine Gerüchte, wo es gerade in Judoverbandskreisen so viele gab, die den unbequemen Judostar gerne losgeworden wären? Der Schlüssel, spekulieren die Gläubigen, liege im großen Vertrauens-und Abhängigkeitsverhältnis, das Seisenbacher besonders mit jenen Kindern pflegte, die ihn später, als Erwachsene, anzeigten. Mit den Eltern der betroffenen Mädchen soll er befreundet gewesen sein, sie wären praktisch mit ihm groß geworden. "Die Mädchen haben ihn geliebt und verehrt." In diesem Punkt sind sich die Seisenbacher-Wegbegleiter Herrmann und Rohrauer einig. Auch vor Gericht wird es um die Glaubensfrage gehen: Rund 40 Zeugen sollen befragt worden sein, darunter hauptsächlich Judoka aus dem Umfeld der Beteiligten. Glaubwürdigkeitsgutachten der Aussagen wurden erstellt. Opfer von Sexualdelikten können verlangen, dass die Zeugeneinvernahme in einem abgesonderten Raum durchgeführt und dann durch ein Video in den Verhandlungssaal übertragen wird. Auf diese Möglichkeit scheinen die Betroffenen verzichtet zu haben. Wie einst auf der Judomatte könnten sie dem Angeklagten also im Gerichtssaal gegenübertreten. Auch deshalb wird die Öffentlichkeit teilweise vom Prozess ausgeschlossen.

© Nina Strasser Die Judoszene hat sich seit der Flucht des 59-jährigen Peter Seisenbacher fast gänzlich von ihm abgewandt

Der Verband

Wortmeldungen der Betroffenen gab es bis dato nicht -mit einer Ausnahme. 2017 reagierten sie öffentlich auf Äußerungen des damaligen ÖJV-Präsidenten Hans Paul Kutschera und des damaligen Damen-Nationalteamtrainers Marko Spittka zu dem Fall. Ersterer ließ via Presseaussendung mitteilen, er hoffe, es würden sich die gegen "das österreichische Aushängeschild im Judosport" gerichteten Anschuldigungen "nicht bewahrheiten". Zweiterer sagte dem Standard: "Peter Seisenbacher beschäftigt niemanden. Darüber wird auch nicht gesprochen. Das ist nicht wichtig für uns." Die mutmaßlichen Opfer ließen daraufhin via Austria Presse Agentur wissen: "Es ist keine Lösung, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Totschweigen und Aussitzen hilft niemandem." Kutschera entschuldigte sich später "für etwaige Vorfälle und bei möglichen Opfern".

Der neue ÖJV-Präsident Martin Poiger, seit Oktober 2019 im Amt, gelobt in Fragen der Missbrauchsprävention weitere Anstrengungen zu unternehmen, einiges sei bereits erledigt worden, etwa die Installierung von Vertrauenspersonen. "Wir werden bei dem Thema künftig noch genauer hinschauen, egal wie der Prozess ausgeht", sagt Poiger. "Da neben den Erfolgen gerade im Judo der gegenseitige Respekt eine große Rolle spielt, werden wir intern über den weiteren Umgang mit dem Thema Seisenbacher diskutieren."

Anderswo wurden längst Entscheidungen gefällt. Der Internationale Judoverband warf Seisenbacher, laut ÖJV-Information aus der Hall of Fame. Im Kodokan, der vom Judo-Erfinder Jigorō Kanō gegründeten Schule in Tokio, hing einst das Bild des in Japan verehrten Seisenbachers. Es wurde abgehängt.

Seisenbachers Olympia-Story: Bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles gewann Peter Seisenbacher Gold. Vier Jahre darauf gewann er als erster Judoka weltweit erneut Olympiagold bei den Spielen in Seoul. Weitere Titel: Weltmeister 1985 und Europameister 1986. Bis 1992 war der Wiener Generalsekretär der österreichischen Sporthilfe. Anschließend arbeitete er als Nationalteamtrainer in Österreich. 1984 gründete er den Budoclub Wien. 2005 bis 2010 war er Präsident des Wiener Judo-Landesverbandes. Als Trainer der georgischen Judo-Herrennationalmannschaft (ab 2010) sorgte er bei Olympia 2012 in London für Gold. Anschließend arbeitete er als Nationaltrainer von Aserbaidschan. Ein Schützling gewann 2013 den WM-Titel.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 47/2019.