"Putin ist nicht erst seit sechs Wochen ein Schreckensherrscher"

Der Ethiker Peter Kirchschläger über den richtigen Umgang mit Diktatoren und unsere Verantwortung für die Menschenrechte.

von "Putin ist nicht erst seit sechs Wochen ein Schreckensherrscher" © Bild: Matt Observe
Der gebürtige Wiener ist in der Schweiz aufgewachsen. Er hat Theologie und Judaistik studiert und ist Professor für theologische Ethik und am Institut für Sozialethik an der Universität Luzern.

Wenn ich mit einem Diktator sprechen könnte, würde ich sagen: 'Auch Sie sind verletzbar.'" Das ist ein Zitat von Ihnen über die Menschenrechte. Wenn hier Wladimir Putin säße - was würden Sie ihm sagen?
Ich würde Wladimir Putin darauf hinweisen, dass er damit rechnen muss, dass er sich irgendwann vor einem russischen Gericht oder einem internationalen Strafgerichtshof verantworten muss. Dann wird er froh sein, dass er Menschenrechte hat und daher nicht gefoltert oder hingerichtet wird. Wie kann ich die Menschenrechte begründen, so, dass es einen Diktator überzeugt? Indem ich ihn auf seine eigene Verletzbarkeit hinweise und darauf, dass es in seinem eigenen Interesse klug ist, allen Menschen Menschenrechte zuzugestehen. Diktatoren überzeugt man nicht, indem man sagt, alle Menschen sind solidarisch, deswegen sprechen wir einander Menschenrechte zu. Sie überzeugt man mit egoistischen Argumenten.

Putin wird streng bewacht. Diktatoren wollen unverwundbar sein. Zieht da ein: Auch du bis verletzbar?
Die Maßnahmen, die Diktatoren ergreifen, um sich vor dem Dolchstich in den Rücken zu schützen und lebenslang im Amt zu bleiben, zeigen ja, dass sie genau wissen, was mit ihnen passieren würde, wenn sie die Macht verlieren und die Menschenrechte auch für sie gelten.

Der russisch-orthodoxe Patriarch rechtfertigte den Überfall auf die Ukraine in einer Predigt als Verteidigung gegen den Westen und seine Lebensweise.
Die Rolle, die die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche nicht erst seit diesem Angriffskrieg, sondern schon länger durch ihr enges Bündnis mit dem russischen Regime spielt, ist aus menschenrechtlicher Perspektive höchst problematisch. Im Unterschied zum Wesensmerkmal von Menschenwürde, nämlich, dass diese bedingungslos für alle Menschen gilt, vertritt die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche einen Standpunkt, der Putin in die Hände spielt: Menschen müssten sich den Status ihrer Würde als gute Bürger erst verdienen. Aber die Menschenrechte gelten für jeden, egal, ob wir uns an Gesetze halten, Steuern zahlen, für die russische Regierung sind oder nicht. Das ist schon länger ein Streitpunkt mit der Leitung der russischen Kirche und kulminiert in dieser fatalen Predigt, die Putin in seinem Tun auch noch unterstützt.

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Allerdings muss man sagen: In vielen Religionen und Weltanschauungen überhöht man die eigene Position, indem man anderen Menschenrechte abspricht.
Wir finden in allen Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften sowohl liberale Strömungen vor, die sich für Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde für alle aussprechen, als auch Stimmen, die das Gegenteil vertreten und Menschen ausgrenzen, in ihrer Menschenwürde verletzen sowie diskriminieren. Man sollte also nicht denken, eine Religion ist liberal und die andere nicht, sondern die liberalen Stimmen in all diesen Gemeinschaften sollten sich gegenseitig stärken und sich gemeinsam gegen illiberale Stimmen engagieren. Die Menschenrechte lassen sich mit den Inhalten und Traditionen aller Religionen und Weltanschauungen begründen. Es ist nicht so, dass es einen Gegensatz gäbe zwischen Glaubensinhalten und Menschenrechten. Im Übrigen sind ja die Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften auf den Schutz durch die Menschenrechte angewiesen.

In der Politik bringen Ausgrenzung und Hetze Stimmen. Warum?
Hetze vermittelt den Eindruck, dass man selber davon profitiert, wenn es anderen schlechter geht. Diese Hetze und Manipulation erfolgen zunehmend mit den Instrumenten digitaler Transformation und datenbasierten Systemen. Menschen bemerken oft gar nicht, dass und wie sie beeinflusst werden. Welche datenbasierten Systeme hinter sozialen Medien stehen, die genau wissen, welche Tasten sie bei mir drücken müssen, damit die Musik spielt, das heißt, dass ich das tue, was diese Unternehmen von mir wollen. Das Geschäftsmodell der sozialen Medien ist, Menschen durch Wut länger auf ihren Plattformen zu halten. Die Technologiekonzerte nehmen in Kauf, dass Menschen auch im realen Leben auf einander losgehen, weil sie damit sehr viel Geld verdienen.

Nützen die sozialen Medien eine Grundtendenz in uns allen, oder wird der Zorn durch Algorithmen geschürt?
Eindeutig Letzteres. Zum einen, weil ich als Ethiker an das Gute im Menschen glaube. Zum anderen, weil wir nicht unterschätzen dürfen, mit welcher Professionalität diese Manipulation perfektioniert wird. Daran arbeiten die besten Leute, die wir weltweit in den Verhaltenswissenschaften haben. Das alles geschieht basierend auf Datensätzen, dank derer die Technologieunternehmen über uns schon mehr wissen als wir selbst. Wir könnten viel zum Positiven verändern, wenn wir Konzerne wie Facebook dazu bringen, ihr Geschäftsmodell im Kern zu ändern. Sie verdienen Geld mit Menschenrechtsverletzungen.

Andererseits erfahren wir von vielen Menschenrechtsverletzungen nur deswegen so schnell, weil sie über Facebook und Twitter in die Welt hinausgeschrien werden.
In der Tat! Datenbasierte Systeme beinhalten unglaubliche ethische Chancen für Demokratie und Menschenrechte, aber eben auch Risiken. Wir sollten diese Chancen nützen, aber die Risiken vermeiden. Bisher hieß es: Wir machen einmal und schauen, ob sich die Ethik irgendwann wehrt. Wichtig wäre eine Interaktion von Ethik und technologiebasiertem Fortschritt von Anfang an.

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Die Politik hat diesem Treiben lange zugesehen und dann gesagt: Kann man nichts machen ...
Man kann etwas machen. Wir Menschen tragen hier eine Gestaltungsverantwortung. Und ich glaube, dass Politikerinnen und Politiker schon früh kapiert haben, was da gespielt wird.

Einige haben Facebook genutzt, um ihre Macht aufzubauen und Fans gezielt anzusprechen, etwa Heinz-Christian Strache und Sebastian Kurz.
Man hat das Spiel sehr früh verstanden. Und es ist auch nicht zu unterschätzen, mit wie viel Lobbying die Technologiekonzerne eine Regulierung ihres Tuns bzw. eine bessere Durchsetzung bereits existierender rechtlicher Normen im digitalen Bereich verhindern wollen. Wir sollten da genauer hinschauen, weil die sozialen Medien derzeit auch zur Unterwanderung der Demokratie und der Meinungsbildung beitragen. Politiker scheinen eher nach Ausreden zu suchen, wenn sie sagen: Wir haben am Anfang nicht verstanden, wie schlimm das ist. So schwierig ist das nicht zu verstehen, dass, wenn jemand Daten von so vielen Menschen hat und diese dann an den Meistbietenden verkauft, das ethisch nicht in Ordnung ist.

»Die Technologiekonzerne nehmen in Kauf, dass Menschen auch im realen Leben aufeinander losgehen, weil sie damit sehr viel Geld verdienen«

Wie Putin die Menschenrechte mit Füßen tritt, weiß man nicht erst seit dem Ukrainekrieg. Dennoch haben Politiker und Wirtschaftsbosse bei ihm antichambriert und machen das gleiche nun z. B. in Katar.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine sollte uns dazu aufrütteln, dass wir unseren moralischen Kompass reparieren. Die Grundbedingung von wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit muss die Einhaltung der Menschenrechte sein. Darauf muss man bestehen. Man hätte Putin da viel früher die Grenzen aufzeigen müssen. Zeigen, dass man Menschenrechte nicht nur predigt und sie dann den eigenen Wirtschaftsinteressen unterordnet. Putin ist nicht erst seit sechs Wochen ein Schreckensherrscher. Von gezielten Tötungen in London und Berlin bis zur Drangsalierung der russischen Bevölkerung: Diese vermeintliche Überraschung vieler im Westen finde ich problematisch. Dass wir Zugang zu fossilen Rohstoffen brauchen, muss zur Frage führen, ob wir auf diesen wirklich unsere Zukunft aufbauen sollten. Aus ethischer Sicht sollten wir auch den Umstieg auf erneuerbare Energien schaffen, damit wir nicht in die Abhängigkeit des nächsten Autokraten gelangen, bei dem es die gleiche Missachtung der Menschenrechte gibt.

Kann Österreich ethische Standards vorgeben, wenn die großen Länder weiter mit Autokraten handeln?
Ein kleines, neutrales Land wie Österreich kann ein Zeichen setzen, das man nicht unterschätzen sollte, und sagen: "Für uns gelten die Menschenrechte. Sie sind Minimalbedingung für unsere Politik und wirtschaftliche Zusammenarbeit." Insbesondere Länder, die so intensive Verflechtungen zur aktuellen russischen Regierung und Wirtschaft haben, die eng verbündet mit dem Regime sind, haben eine besondere Verantwortung. Man hat ja leider sehr lange Geld mit diesen Beziehungen verdient.

Was kann ein Politiker z. B. in Katar fordern?
Es wäre schon viel erreicht, wenn man im Zuge eines Energieabkommens einen Fahrplan für konkrete Menschenrechtsverbesserungen definiert und auf diesem besteht. Aber wir müssen uns natürlich eingestehen, dass wir uns durch das problematische Ausspielen von Wirtschaft gegen Menschenrechtsverletzungen bisher aktuell nicht unbedingt in die stärkste Verhandlungsposition gebracht haben. Ein menschenrechtsbasiertes Umdenken ist dringend notwendig!

Auch Konzerne und Sportverbände drücken oft ein Auge zu. Großevents finden an Orten statt, wo die Lage für die Menschen alles andere als gut ist.
Das hat mit einem Charakterzug der Diktatur zu tun. Diese Willkürherrschaft erlaubt es, zu protzen, Dinge irrational und isoliert zu entscheiden, die nur im Eigeninteresse des Herrschers sind, der sein Image polieren will. Dazu kommt, dass sich immer weniger Demokratien für solche Großevents bewerben, weil sie sehen, dass diese nie ein Gewinn für die eigene Volkswirtschaft sind. Sportverbände, die hier mittun, machen sich zu Mittätern bei Menschenrechtsverletzungen. Man müsste sie zur Verantwortung ziehen. Wenn bei der Vorbereitung einer Fußball-WM Tausende Arbeiter sterben, muss es für den Verband Konsequenzen geben. Ich kriege das intellektuell nicht auf die Reihe: Wenn ich in Wien falsch parke, bekomme ich zu Recht einen Bußzettel. Wenn ich als Sportverband oder multinationaler Konzern die Menschenrechte in einem anderen Land mit Füßen trete, passiert mir gar nichts. Da stimmt doch etwas nicht.

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Weil es dafür zu selten ein Urteil gibt?
Man könnte als Land, das sich für die WM qualifiziert hat, sagen: Wir kommen nur, wenn sich die Menschenrechtslage verbessert. Spiele machen ja nur Spaß, wenn die Mannschaften auch wirklich antreten. Dieses Druckmittel sollte man nützen. In den Staaten, in denen der Hauptsitz solcher Sportverbände oder Konzerne ist, sollte man dafür sorgen, dass Menschenrechtsklagen vor einem Gericht verhandelt werden können. Wir reden bei den Menschenrechten nicht von Luxus, sondern von einem Minimalstandard, der es Menschen ermöglichen soll, physisch zu überleben und menschenwürdig zu leben. Da können wir nicht noch zehn Jahre warten, ob es besser wird. Das von der EU-Kommission vorgeschlagene Konzernverantwortungsgesetz geht hier in die richtige Richtung.

Gibt es da bei uns eine Art geistige Wohlstandsverwahrlosung, die uns Probleme anderswo nicht sehen lässt?
Es gibt eine individuelle Verantwortung: Wir Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, Veränderungen anzustoßen. Jeder Konsumentscheid ist auch eine politische Entscheidung. Ich sage Ja zu Produktionsbedingungen, Lieferketten, Vermarktung und ökologischen Folgen eines Produkts, das ich kaufe - oder eben Nein. Man muss aber auch sagen, dass die Verantwortung von Individuen klein ist. Staaten und Konzerne, die mehr Einfluss haben, sollen mehr Verantwortung tragen.

Inwiefern?
Konzerne haben Verantwortung, da ihre Macht sehr groß ist und ihr Marketing dafür sorgt, dass Menschen überhaupt auf die Idee kommen, ihre Produkte zu kaufen. Und der Staat hat die Verantwortung, dass wir bestimmte Produkte gar nicht kaufen können sollten. Wir haben ein weltweites Sklavereiverbot, das niemand in Frage stellt. Dennoch kann ich in einem Supermarkt viele Produkte kaufen, die mit Sklaverei oder sklavereiähnlichen Zuständen verbunden sind. Wie kann das sein? Wieso muss ich mich als Kunde damit beschäftigen?

Der Markt regelt das - nicht.
Der Markt braucht Regeln aus ökonomischer - etwa gegen Kartellbildung -, aber auch aus ethischer Sicht. Menschenrechte und Nachhaltigkeit können sich rechnen. Aber es muss das Spielfeld für alle gleich sein. Es kann nicht sein, dass sich die einen an Menschenrechte und ökologische Standards halten, andere nicht.

Es heißt oft, faire Produkte seien teurer.
Und das ist nicht in Ordnung. Wieso muss ich als Kunde mehr bezahlen, wenn sich ein Unternehmen an bereits existierende rechtliche Regeln hält?

Viele Menschen quälen sich, was richtiges Handeln wäre, etwa in der Klimakrise etc. Was rät der Ethiker?
Wir haben die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten, und sollten das tun. Aber auch hier sollte der Hauptfokus auf jenen liegen, die etwa als Unternehmen einen hohen CO2-Ausstoß und daher, wenn sie etwas ändern, einen größeren Hebel haben. Es ist nicht ganz zufällig, dass die Idee des CO2-Fußabdrucks vom Erdölkonzern BP kam. Er soll dem Einzelnen ein schlechtes Gewissen machen und von der Hauptverantwortung des Fossilunternehmens ablenken.

Schaffen Sie es selber, Ihren ethischen Standards zu entsprechen?
Leider nein, ich bemühe mich aber darum. Nur weil man Ethiker ist, heißt das nicht, dass man sich immer ethisch verhält. Ich versuche, möglichst richtig zu handeln, leider mit meinen Grenzen.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 14/2022.