Peter Pelinka auf einen
Kaffee mit Cecily Corti

Peter Pelinka traf die Obfrau der Vinzenzgemeinschaft St. Stephan zum Gespräch

Cecily Corti unterstützt mit ihrer Vinzirast Hunderte Menschen ohne Zuhause. Sie empfiehlt "uns allen mehr Engagement füreinander, Respekt und Verständnis, weil dies die Basis für eine bessere Gesellschaft ist"

Persönlichkeiten - Peter Pelinka auf einen
Kaffee mit Cecily Corti © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Cecily Corti war früh in ihrem Leben mit Leid konfrontiert. Die Mutter musste 1945 mit fünf Kindern aus Slowenien nach Österreich flüchten, der Vater wurde bei Kriegsende von Partisanen verschleppt, sein Schicksal wurde nie geklärt. "Mit 16 Jahren habe ich dann ein Foto von einem KZ mit einem Berg übereinandergestapelter Leichen gesehen; das war ein prägendes Erlebnis. Das Leid, das der Mensch dem Menschen antut, es hat mich nicht mehr losgelassen." Auch das Vorbild der Mutter hat sie ein Leben lang begleitet. Diese war in ihrer Religiosität sehr authentisch, dabei nie belehrend, immer um ihren Glauben ringend. Grundsätzlich hat sich Cecily Corti, die aus einer alten steirischen Familie stammt, immer für Menschen interessiert. Was macht uns menschlich? Was gibt dem Leben Sinn?

»Das Leid, das der Mensch dem Menschen antut, es hat mich nicht mehr losgelassen.«

Eine lebensgeschichtliche Wende erreichte Cecily Corti bei den Hochschulwochen in Alpbach. Sie lernte den Regisseur und Publizisten Axel Corti (unvergessen durch seine Ö1-Sendung "Der Schalldämpfer") kennen und lieben. Keine einfache Beziehung: Die Ehe wurde nach damals üblicher Rollenteilung gelebt. Im öffentlichen Vordergrund stand der brillante, stets kompromisslose Künstler, dahinter die Mutter dreier Söhne. Nach deren Flüggewerden absolvierte sie nach einer mehrjährigen Lebenskrise eine therapeutische Ausbildung und arbeitete anschließend mit Gruppen und Einzelpersonen. Dann kam der wirklich große Abschied: Axel Corti starb 1993 mit 60 Jahren an Leukämie.

Cecily Corti startete ihren nächsten Lebensabschnitt ebenfalls kompromisslos ("ich war ja auch privilegiert, hatte eine Pension, die Söhne konnten auf eigenen Beinen stehen"): längere Aufenthalte in Indien und Guatemala ("ich wollte erleben, wie die mir so fremden Kulturen auf mich wirken"), panikfrei selbst bei einer lebensbedrohenden Krebsoperation in der Ferne, ganz auf sich allein gestellt ("eine extreme Erfahrung"). Später in Paris kann sie in einem Projekt für obdachlose Frauen mitarbeiten. Und dann die Begegnung mit dem "Armenpfarrer" Wolfgang Pucher und den Vinzenzgemeinschaften: Gruppen, die weltweit Armen das Leben erleichtern wollen.

Ihr drittes Leben

Vor 15 Jahren begann Cortis dritte Lebensphase: "In Indien bin ich der Einstellung begegnet: Im ersten Lebensabschnitt entdeckt man neugierig die Welt, im zweiten werden Familie und Karriere begründet, im dritten gibt man der Welt zurück, was man geschenkt bekommen hat." Die 62-Jährige wollte wie Pucher in Graz in Wien ein "Vinzidorf" errichten, schrieb 700 Bettelbriefe, wandte sich an Kardinal Schönborn, der sagte zu: "Wir hatten schon von einer Pfarre das Angebot eines Grundstücks am Stadtrand, da drohten die Anrainer, aus der Kirche auszutreten." Schönborn blieb wie Heinz Fischer ein Förderer, das gab Mut und Kraft. Ein Netzwerk entstand: 2003 wurde die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan gegründet, Corti deren Obfrau. Ein Immobilienunternehmer ermöglichte den Erwerb eines Zinshauses, ein befreundeter Architekt baute um -im Erdgeschoß entstand so eine Notfallschlafstelle für bis zu 60 obdachlose Menschen.

Seit April 2004 ist diese täglich geöffnet. Männer und Frauen können dort bis zu 30 Tage nächtigen, auch paarweise und mit Hunden. Es gibt nur drei Verbote: keine Drogen, kein Rauchen in den Schlafräumen, keine Gewalt. Und ein zentrales Gebot: "Respekt vor-und füreinander, Achtung vor dem Schicksal des Einzelnen, den Menschen wird ohne Vorurteil oder Urteil begegnet. Konkrete Regeln haben wir gemeinsam entwickelt und auch immer wieder verändert." Jeweils zwei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind während der Nacht für einen geordneten Ablauf verantwortlich. Cecily Corti war bis vor Kurzem zweimal wöchentlich eine davon. "Meist können wir schlafen, die Regeln werden gut eingehalten. Bei Gewaltkonflikten muss die Polizei einschreiten." Die Gäste -so werden die Obdach Suchenden genannt -zahlen zwei Euro pro Nacht. "Wir wollen vermeiden, dass sie sich als Almosenempfänger fühlen." Heute ist Corti verantwortlich für mehrere Vinzirast-Einrichtungen, alle durch private Spenden finanziert und ohne Subventionen ("trotz eines überraschenden Angebotes der Stadt Wien vor vielen Jahren"), mit über 100 fast ausschließlich ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Neben der Notfallschlafstelle gibt es eine für Alkoholkranke und eine für Flüchtlinge mit Asylstatus.

»Leben in Gemeinschaft kann heilen.«

Und seit fünf Jahren die "Vinzirast-mittendrin": Die "Uni brennt"-Bewegung 2009 hatte Studierende und Obdachlose nähergebracht, zwei Studenten hatten dann nahe der Uni Wien ein leer stehendes Haus entdeckt und einen Bittbrief an Hans Peter Haselsteiner geschickt. Der leitete ihn an Corti weiter: Wenn ihr Verein die Verantwortung übernehme, würde er den Kauf ermöglichen. Ergebnis: Seit 2013 leben dort Studierende und ehemals Obdachlose in zehn Wohngemeinschaften, arbeiten miteinander in drei Werkräumen und lernen voneinander, ganz nach dem Lebensprinzip Cortis: "Leben in Gemeinschaft kann heilen."

Peter Pelinka geht für News jede Woche "auf einen Kaffee" mit interessanten Zeitgenossen und Zeitgenossinnen.

© Heinz Stephan Tesarek

Cecily Corti

77, geboren in Wien, aufgewachsen in Slowenien, erlebte Flucht und Vertreibung in ihrer Kindheit. Mit 24 Jahren heiratete sie den Kulturjournalisten und Regisseur Axel Corti, mit dem sie drei Söhne bekam. Als Obfrau der Vinzenzgemeinschaft St. Stephan (Konto IBAN AT581200051413533033) leitet sie mehrere Einrichtungen für Obdachlose. Mit Peter Pelinka sprach sie im "Vinzirast-Lokal mittendrin".