Perfekt bis unter die Gürtellinie

Wer will es nicht - von Kopf bis Fuß perfekt aussehen? Perfektion ist die neue Norm. Anders auszusehen, als es gesellschaftlich vorgegeben ist, erscheint schon fast unangemessen und wird mithin als Mangel bewertet.

von Dr. Monika Wogrolly © Bild: Matt Observe/News

Gregor ist neunundsechzig, sportlich, erfolgreich und im Grunde selbstbewusst und lebensfroh. Aber er hat ein - nennen wir es vorsichtig: intimes - Problem. Sein Hodensack hängt. Und das stört ihn nicht nur beim Radfahren, sondern verletzt seine Gefühle. Richtig gelesen! Nicht Annemarie nimmt Anstoß am Anblick ihres nackten Mannes mit seinem "schlaffen Gehänge", sondern er selbst könne sich so nicht akzeptieren, finde sein Spiegelbild unzumutbar, sagt er. Der Leidensdruck, den Betroffene wie Gregor haben, lässt den darauffolgenden Eingriff - in diesem Fall eine Hodensackstraffung - nicht nur im Lichte der Eitelkeit erscheinen. Auch die psychische Stabilisierung und eine Verbesserung des Selbstwertgefühls sollte ein derartiger Eingriff nach sich ziehen. Und jetzt die Wahrheit über den ganz normalen Wahnsinn in der Schönheitsindustrie: Immer mehr ästhetische Optimierungen im Intimbereich werden realisiert. Und dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Was ist Männern bezüglich ihrer Ästhetik im Intimbereich am wichtigsten? Dr. Thomas Rappl, Facharzt für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie weiß, dass Männer wie Gregor auch "unten ohne" gut aussehen möchten: "Neben der Vorhautbeschneidung, kommen vor allem Anfragen nach der Verlängerung oder Verdickung beim Penis. Beides kann heute schon realisiert werden." Und was wollen Frauen am häufigsten vom "Beauty Doc" im Intimbereich? Thomas Rappl: "Ziemlich gefragt sind Schamlippenkorrekturen, wobei in den meisten Fällen dieser Wunsch nicht nur aus ästhetischer, sondern auch aus medizinischer Indikation durchaus nachvollziehbar ist. Überdimensionierte kleine Schamlippen können zu funktionellen Beeinträchtigungen führen. Weiters boomen Eingriffe, die zu einer Verengung der Vagina führen sollen. Auch das ist möglich."

Zurück zu Gregor. Nachdem seine Frau "das Gehänge" nicht stört, muss, wie schon erwähnt, neben der Straffung durch den Chirurgen auch eine psychologische Straffung von Gregors Selbstbild erfolgen. Und ja, natürlich kann hier eine Abwehr des Älterwerdens dahinterstecken sowie die Angst, einem unansehnlichen Anblick im Spiegel zu begegnen. Das Zauberwort lautet Selbstakzeptanz, was nicht unmittelbar bedeutet, dass jede Optimierung des Intimbereichs unnötig oder exzentrisch ist: Chirurgische Eingriffe sollten wohlüberlegt erfolgen und nach umfassender Aufklärung. Thomas Rappl legt Wert auf ein eingehendes Aufklärungs- und Sondierungsgespräch, um das Motiv des Patienten auszuloten. "Nur dann kann seriös beraten und ein bestmögliches Ergebnis erzielt werden", so Rappl, "wenn Transparenz darüber herrscht, ob jemand wirklich leidet und ein psychologisches oder medizinisches Erfordernis besteht - oder ob die Person einfach nur unter sozialem Druck steht, perfekt sein zu müssen." Im Fall der ewigen Suche oder ja schon Sucht nach dem perfekten Erscheinungsbild gibt es eine gute und eine weniger gute Nachricht. Zuerst die gute: Eine OP kann förmlich Wunder wirken und eine Person psychisch beruhigen, ja ins soziale Leben zurückbringen, die schon ein Vermeidungsverhalten an den Tag legt, sich komplett zurückzieht und sich in ihrer Haut buchstäblich nicht mehr wohlfühlt. Aber andererseits, meint auch Experte Rappl, sei die Sehnsucht nach Perfektion nie zu stillen, woraus ein endloser Optimierungswahn resultieren könne. Gregor droht zum OP-Shopper zu werden, der sich neben Botox und Hyaluron gegen Falten mit weiteren chirurgischen Eingriff die ewige Jugend suggeriert. Hier kann eine Psychotherapie zu wesentlich mehr Selbstakzeptanz verhelfen, indem Betroffene lernen, ihr Selbstbewusstsein nicht nur an Äußerlichkeiten festzumachen. Sondern unabhängig von Alter, Penislänge und Schamlippengröße einfach sie selbst zu sein. Kurz gesagt: mehr Mut zur natürlichen Schönheit zu haben.