Peking im Herbst 1959

China-Erlebnisse lange vor Olympia

von Chinas Präsident Xi Jinping, Olympia 2022 © Bild: imago images/Kyodo News

1959, während der Sommerferien, kurz vor meinem zwölften Geburtstag, stellte meine Mutter einen Wäschekorb in mein Zimmer, das so klein war, dass die geöffnet Tür immer gegen die Rücklehne meines Sessels vor dem Schreibtisch stieß, und sagte: "Pack ein, was du mitnehmen willst, mehr Platz haben wir nicht."

"Wozu, wohin fahren wir?", fragte ich sie. "Nach Peking, und nimm nur Bücher und andere Sachen, die dir wichtig sind, deine Wäsche mach ich", antwortete sie. "Und wie lange bleiben wir dort in China?", fragte ich.

"Wahrscheinlich drei Jahre", hörte ich sie aus einem anderen Zimmer, setzte mich auf das Bett und verstand meine kleine Welt im Reihenhaus am Rosenhügel im zwölften Bezirk in Wien nicht mehr.

Das ist lange her. Doch die Nachrichten über die Olympiade in Beijing machten mich nachdenklich, und ich kramte in meinem Gedächtnis nach Erinnerungen. Was für ein Unterschied zwischen dem "China" 1959 und 2022. Das Land hat sich innerhalb von zwei Generationen aus dem Mittelalter in die Jetztzeit katapultiert.

Im November 1959 übersiedelte unsere Familie meine Eltern und meine zweijüngeren Brüder nach China, wo mein Vater als Korrespondent berichten sollte. Die Reise, die heute mit einem Acht Stunden Flug zu bewältigen ist, dauerte damals zehn Tage. Sie begann mit einer Bahnfahrt nach Prag, dann weiter mit dem Flugzeug nach Moskau. In Moskau warteten wir auf eine Verbindung nach Omsk, von Omsk nach Irkutsk. Von dort nach Ulan Bator und dann endlich nach Peking.

Wienerisch

Am Flughafen erwartete uns neben einer offiziellen Delegation ein schlanker Mann in einer blauen Jacke und eine rundliche Frau mit einem etwas komischen Hut. Beide begrüßten uns in perfektem Wiener Dialekt. Es war nicht diese grobe Sprache des Taxifahrers oder Briefträgers, die Qualtinger so fantastisch wiedergeben konnte. Sie sprachen das sogenannte "Hietzinger Wienerisch", dieses leicht nasale Hochdeutsch mit wenigen Verdrehungen. Der Mann stellte sich als Richard Frey vor, die Frau als Ruth Weiss. Beide kamen aus Wiener jüdischen Familien, verließen Österreich in den 1930er Jahren in Richtung Shanghai. Doch was sie von vielen österreichischen Flüchtlingen unterschied: Sie blieben in China, wechselten von der Synagoge in Wien in das Zentralkomitee der KP China und erreichten als zwei von nur wenigen Ausländern dieses politische Zentrum der Macht.

Wir lebten in Peking in einer großen Wohnung an der Jianguomen Straße, nichtweit vom Tian'anmen Platz. Meine Elternmeldeten meinen Bruder und mich in der Schule der Botschaft der DDR an, es gab weder eine englische Schule noch eine der Bundesrepublik. Als einzige Schüler aus dem "westlichen Ausland" war uns der ganze Kult um die kommunistische Jugendorganisation fremd. Während alle anderen Kinder als Mitglieder der Thälmann-Pioniere mit blauen Halstüchern herumliefen, blieben mein Bruder und ich nur einfache "Schüler". Montagmorgen zum Fahnenappell meldete der Klassenvertreter, dass so und so viele Pioniere und zwei Schüler angetreten wären. Nach einer Wartefrist von einem Jahr "verlieh" mir die Pionierleitung das Halstuch, nahm es mir jedoch nach einem Monat wegen "schlechten Benehmens" wieder ab.

Tischtennis

Während der Zeit, in der wir in China lebten, boykottierte die Regierung die Olympischen Spiele.1952 nahm ein einziger Sportler an die Spielen in Helsinki teil, 1958 trat China wegen der Diskussion um die "Ein-China-Politik" aus dem IOC aus und schickte erst 1980 wieder Athleten zu den Winter-und Sommerspielen. In zwei Sportarten ist China nahezu unschlagbar: Tischtennis und Badminton. Im Tischtennis gewannen sie bisher 53 Medaillen, in Badminton 41. Bei Winterspielen gab es die ersten Medaillen 1992 in Albertville. Die Eisschnellläuferin Ye Qiaobo gewann Silber über 500 Meter. Den ersten Olympiasieg im Winter gab es am 2002 in Salt Lake City, als die Shorttrackerin Yang Yang den Wettbewerb über 500 Meter gewann. Bei den Männern gewann der Freestyle-Skifahrer Han Xiaopeng am 2006 in Turin die erste Goldmedaille.

Auf uns Schüler in der deutschen Schule übertrug sich die Tischtennis-Begeisterung. Während der Pausen schoben wir vier Schultische zusammen und stellten drei Taschen in die Mitte als Netz. Dennoch hatten wir keine Chancen bei Spielen gegen chinesische Schulen. Oft standen uns Knirpse gegenüber, die kaum über Tischplatte blickten und uns mit dem damals beliebten chinesischem Griff und den nur einseitig beschichteten Schlägern einfach vom Tisch fegten.

Fahrrad

Zu meinem 13. Geburtstag bekam ich ein Fahrrad, das mein Leben in Peking veränderte. Ich ignorierte die Isolation der Wohnblocks für Ausländer und verbrachte Stunden mit meinem Rad in den autolosen, oft engen Gassen der alten Stadtviertel der Hauptstadt, in die sich sonst nie ein Fremder gewagt hätte. Abends kam ich zurück nach Hause mit Geschichten von Familien, die mich eingeladen hatten, von einfachen Essstuben, in denen es nur Gemüse mit Baozi, dem chinesischen Brot, oder Reis gab, und Kindern, die mit mir Tischtennis spielten. Als einziger von uns fand ich Kontakt zu chinesischen Familien und konnte mich auf Chinesisch verständigen.

In dem Wohnblock für Ausländer versuchten die Bewohner, die Isolation durch ein Leben mit offenen Türen zu überwinden. Sie ließen buchstäblich ihre Eingangstore offen, und Gäste waren immer willkommen. Neben uns wohnte ein Vertreter der irakischen Botschaft, gegenüber eine Familie aus Norwegen und am Ende des Ganges ein Paar aus einem afrikanischen Land. Ständig waren Gäste bei uns oder meine Eltern nicht zuhause. Unsere chinesische Kinderfrau, Ai nannte wir sie, kochte immer Jiaozi (Fleischtaschen) für uns, wenn wir alleine waren. Bis heute gehören sie zu meinen Lieblingsspeisen.

An einem Nachmittag, als ich mit meinem Bruder in der Wohnung herumtobte und mein Vater kurz nach Hause kam, um das Auto zu holen, bat ihn meine Mutter, uns mitzunehmen. Wir fuhren zum Flughafen, er sollte über den Besuch eines Politikers aus Vietnam berichten. Auf dem Flugfeld warteten die Vertreter der Botschaften und Journalisten in einer Reihe, als das Flugzeug landete. Der Besucher kam die Treppe herab und wurde von den Chinesen begrüßt. Mein Vater kannte den indischen Botschafter, der in der ersten Reihe neben den anderen Botschaftern stand. Er rief meinen Bruder und mich zu sich, und wir durften vor ihm stehen. Als der Besucher aus Vietnam die Reihe der Wartenden begrüßte und die beiden Kinder sah, ging er auf sie zu und schüttelte ihnen die Hand.

Es war Ho Chi Minh.

Hungersnot

Von den Problemen der chinesischen Bevölkerung während der Jahre, die wir in Peking lebten, bekamen wir kaum etwas mit. Erst Jahre später las ich von den Hungersnöten und der Verzweiflung der Menschen. Wir lebten in einer irrealen Welt, die Geschäfte im Ausländerviertel waren voll mit frischem Gemüse, Obst, Fleisch, es gab eigene Läden für Kleidung, Spielwaren, was immer wir benötigten, während mehrere Millionen im Land verhungerten. Erinnerungen kamen zurück wie die Gasballone auf den Dächern der öffentlichen Busse wegen des Mangels an Öl, die billigen Eislutscher in den Straßen mit wenigen Tropfen aus gepresstem Zuckerrohr, die Teestuben, die nur heißes Wasser anboten, und die kleinen Hochöfen mitten in der Stadt zur Gewinnung von Eisen.

Die Jahre in China beeinflussten mich und meine Brüder. Später bei privaten Reisen und in meinem Berufsleben fand ich sehr schnell Kontakt zu den Menschen. Während eines Besuches der Vize-Kanzlerin Susanne Riess überraschte ich den Vizebürgermeister von Shanghai, als ich ihm erzählte, dass ich schon vor seiner Geburt in China gelebt hätte. Er zweifelte an meiner Geschichte und lächelte mehr aus Höflichkeit, bis ich ihm vorschlug, ein Lied aus meiner Schulzeit vorzutragen. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte ich den chinesischen Text nie vergessen. Er hörte eine Weile mit weit offenen Augen zu, bis er und bald auch alle anderen Chinesen am Tisch begeistert mitsangen.