"Von der Leyen ist für
Orbán bloß eine Witzfigur"

In seiner Heimat Ungarn hat er Verfolgung durch Nazis und Stalinisten erlitten. Der legendäre Kommentator und Autor Paul Lendvai über die Aussetzung der Demokratie durch Orbán und das Versagen der EU vor einem Kleindiktator

von Paul Lendvai - "Von der Leyen ist für
Orbán bloß eine Witzfigur" © Bild: Privat

News: Herr Lendvai, wie gefällt Ihnen denn die Entwicklung in Ihrem Geburtsland Ungarn?
Paul Lendvai:
Sie macht mich unendlich traurig, weil sie zeigt, wie wenig wir so genannten Analytiker wirklich etwas voraussehen können. Besonders traurig ist die Entwicklung, weil im Lauf der Geschichte das, was in Ungarn geschehen ist, immer auf Europa übergegriffen hat. Das war im Revolutionsjahr 1848 so und 1920, als Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen wurde, und 1989, als die Grenzen aufgegangen sind. Und so ist es leider auch heute. Ich bin über mein Heimatland unendlich traurig und umso froher über mein neues Heimatland.

Wie konnte es in Ungarn denn so weit kommen?
Ein sehr gerissener Politiker, der nur an Macht und Geld interessiert ist, hält ein Land und zehn Millionen Menschen in Geiselhaft. Er hat im April 2010 eine freie Wahl gewonnen. Das war ihm genug, um geschickt und vorausplanend eine Quasi- Diktatur aufzubauen. Die beiden folgenden Wahlen 2014 und 2018 waren "frei", aber nicht fair. Er hatte schon eine totale Medienmacht aufgebaut, das Wahlsystem umgestellt und das Wahlrecht an Ungarn im Ausland verschenkt, die ihre Stimme ohne wirkliche Kontrolle abgeben konnten. Und er hatte ein System aufgebaut, das ihm die Zweidrittelmehrheit garantiert hat. Das alles war ihm aber noch nicht genug. Er wollte die Macht gar nicht mehr riskieren. Auch die Zweidrittelmehrheit, das Verfassungsgericht und den obersten Ankläger in der Tasche zu haben, war ihm zu wenig. Denn er hatte im Oktober eine unangenehme Überraschung erfahren: Trotz aller Vorkehrungen hatten alle Oppositionsparteien, von extrem links bis extrem rechts, zusammengearbeitet und nur gemeinsame Kandidaten aufgestellt. Und, siehe da: Sie haben in Budapest und einigen anderen Städten gesiegt. Jetzt hat er die Krise als kalter Manipulator ausgenützt, um solche Vorgänge dauerhaft zu unterbinden. Er ist für mich der geschickteste Politiker Mitteleuropas, wenn nicht Europas.

Ein großes Wort vom engen Freund und ersten Biografen Bruno Kreiskys
Der Vergleich ist interessant: Kreisky hat fünf Wahlen gewonnen, drei mit absoluter Mehrheit, ohne deshalb eine Diktatur auszurufen. Ja, ich bin sehr traurig und sehe momentan keine Chance auf Änderung.

Lesen Sie auch: Wenn Bruno Kreisky heute noch leben würde ...


Und die EU demonstriert ihre Hilflosigkeit.
Immerhin fordern immer mehr Länder Maßnahmen. Aber von der Leyen ist leider für Orbán und seine politische Elite eine Witzfigur. Sie spielt keine Rolle, er macht sich bloß über sie lustig. Als zynischer Mensch, der er ist, hat er ihr seine Bewunderung dafür ausgesprochen, dass sie sieben Kinder hat! Währenddessen zieht er mit einer ganzen Gruppe Nutzen aus der Corona-Krise. Sein bester Freund ist Salvini, in Frankreich kann er mit Le Pen, und er lobt seit 2012 in jedem Interview die großen Persönlichkeiten, die seine Freunde sind: Putin, Erdoğan, Alijew aus Aserbaidschan. Er spielt mit der Europäischen Union und der Europäischen Volkspartei ganz einfach Katz und Maus.

Aber es fordern doch schon konservative Politiker aus dreizehn Ländern den Ausschluss seiner Partei aus der Europäischen Volkspartei!
Das beeindruckt ihn nicht: Er habe keine Zeit dafür! Wenn es hart auf hart geht, wird er aus der Europäischen Volkspartei austreten und mit den extrem Rechten gemeinsame Sache machen. In Österreich war das schon die ganze Zeit so, seine besten Freunde waren in der FPÖ. Die Herren Strache, Hofer und Kickl haben ihm reihenweise ihre Aufwartung gemacht und ihn immer verteidigt. Strache war noch knapp vor der Veröffentlichung des Ibiza-Videos in Budapest, und Orbán nannte ihn die Zukunft. Allerdings war Strache kaum gestürzt, da hat ihn Orbáns führender Hofschreiber öffentlich verspottet. Und die EU muss zusehen, wie der Führer eines kleinen Zehnmillionen- Landes europäische Politik macht. Was Orbán tut, gefällt nämlich mittlerweile auch dem Herrn Babiš in Tschechien, der wegen seiner zu geglückten Geschäftstransaktionen seine eigenen Probleme hat. Es gefällt dem Herrn Kaczyński in Polen und dem Herrn Vučić in Belgrad und dem Herrn Borissow in Bulgarien: Der starke Mann lässt sich vom reichen Westen nicht herumkommandieren.

Was bedeutet das? Ist die EU schon am Ende?
Was in Ungarn passiert, ist ja nur für die politische Elite Europas und für die wichtigen Zeitungen interessant! Das Einzige, was im Grunde interessiert, ist das Geld, und das gibt paradoxerweise Hoffnung. Wenn die Wirtschaft einbricht, kann es auch in Ungarn zu Unruhen kommen, und vergessen Sie nicht: Ungarn ist nach Bulgarien laut Transparency International das korrupteste Land der EU, von oben nach unten. Wenn die Krise auch Orbáns Spießgesellen, die sich am Staat bereichernden Kleptokraten, trifft, wird es für ihn eventuell ungemütlich. Aber das ist nur eine Hoffnung, denn von der EU ist keine Hilfe zu erwarten: Sie ist schwach und zerstritten, der Brexit hat gezeigt, was sie kann. Die europäischen Werte wären jetzt gefragt, aber in einer Krise ist leider jeder sich selbst der Nächste.

»Wenn die Krise auch Orbáns kriminelle Spießgesellen trifft, wird es für ihn eventuell ungemütlich. Aber das ist nur eine Hoffnung«

Wenn nun auch die reichen, westlichen Länder von der Krise ereilt werden: Kann es da nicht sogar passieren, dass autoritäre Verhältnisse in den Westen herüberschwappen?
Selbstverständlich befürchte ich das. Aber da gibt es Gott sei Dank die eingebauten Bremsen: die freie Presse, der Rechtsstaat und die liberale Demokratie. Orbán hat selbst seine Ideale genannt: Russland, die Türkei wären die Zukunft Europas. Aber sehen Sie, Donald Trump würde das wahnsinnig gern nachmachen, und er kann es nicht, weil die Demokratie stärker ist. Ich betrachte Trump wegen seiner Unberechenbarkeit als die größte Gefahr für die freie Welt, größer als Putin oder Xi Jinping.

In Österreich herrscht nun die höchste Arbeitslosigkeit seit 1946. Halten Sie es auf längere Sicht für möglich, dass unter diesen Umständen irgendwelche Orbáns ein ähnliches System errichten?
Nein. Das fürchte ich überhaupt nicht. Es gibt sicher einen Bodensatz von vielleicht 15 bis 20 Prozent, die dazu bereit wären. Aber ich bin seit dem 4. Februar 1957 in Österreich und wurde zwei Jahre später Staatsbürger. Ich habe als "Financial Times"-Korrespondent den Aufstieg dieses Landes erlebt. Ich habe alle Rückschritte und Irrwege erlebt, aber man hat immer daraus gelernt. Kein Land hat 1956, in der Ungarn-Krise, so viele Flüchtlinge aufgenommen, und auch 2015 nicht, das sollten wir nicht vergessen! Ich habe sogar Schüssel verteidigt und viele Freunde verloren - aber ich habe nicht ihn verteidigt, sondern das Land. Und jetzt hat das Ibiza-Video gerade noch rechtzeitig eine andere Konstellation an die Macht gebracht. Und ich muss sagen: Mich hat angenehm überrascht, wie die Regierung bisher gehandelt hat.

© Privat "Verglichen mit dem, was ich durchgemacht habe, ist das maximal die Generalprobe zu einer wirklichen Krise"

Die Zustimmung nimmt aber schon beängstigende Ausmaße an, die Opposition fühlt sich überfahren und befürchtet die Einschränkung der Grundrechte.
Klar, in Krisenzeiten wächst die Sehnsucht nach dem starken Mann. Aber mir ist lieber, man sehnt sich nach Kurz, Kogler und Anschober, den ich nie zuvor getroffen habe und von dem ich ganz begeistert bin, als nach Strache und Kickl. Mich begeistert die Disziplin der Menschen und auch der meisten Medien. Es wird wohl so kommen, wie Van der Bellen es sagt, den ich auch für einen Glücksfall halte: Wir werden das überleben. Ich glaube allerdings nicht, dass einander nachher alle lieben und bessere Menschen werden. Es kommen auch große Probleme.

Und wie kommen wir heraus?
Wie sich schon jetzt zeigt: Man darf vor Experimenten keine Angst haben. Es gibt jetzt eben kein Null-Budget. Sehen Sie sich die Reserven der zentralen europäischen Fonds an: 400 Milliarden! Aber allein die Bundesrepublik gibt 1,8 Billionen für die Ankurbelung der Wirtschaft aus. Frau Merkel, die von der Orbán-Presse als debile Verräterin des Christentums bezeichnet wurde, ist jetzt ein Glücksfall. Auf der anderen Seite stehen Leute wie Macron, der das Chaos ausruft. Und Österreich schneidet in dem Ganzen absolut nicht schlecht ab.

»Der kalte Manipulator Orbán ist der geschickteste Politiker Mitteleuropas, wenn nicht Europas«

Haben Sie selbst Angst vor dem Virus? Sie sind ja kein Teenager mehr
Das haben Sie schön gesagt. Ich war selten gesundheitlich so gut beisammen! Wichtig ist, dass ich jeden Tag mit meiner Frau spazieren gehe. Ich bin sehr beschäftigt. Ich mache Ordnung, lese endlich wieder den "Zauberberg", lese die Zeitungen -sofort am Freitag News. Und mein großes Ungarn-Buch, das vor 30 Jahren erschienen ist, mittlerweile sogar auf Chinesisch, kommt in Amerika und England mit einem langen, neuen Schlusskapitel heraus. Es wird jetzt vom Ecowin-Verlag auch bei uns wiederaufgelegt -mein englischsprachiger Text wird ins Deutsche übersetzt! Außerdem muss ich Märchen per Skype für meine Enkelin in Greenwich erfinden. Da bleibt mir wenig Zeit, um mich zu fürchten.

Sie haben selbst in ungewöhnlich hohem Ausmaß Krisen erlebt, die ans Leben gehen konnten -als jüdischer Bub in Budapest die Verfolgung in der Nazi-Zeit, dann wurden Sie Opfer des Stalinismus. Wo würden Sie denn da die aktuelle Krise einordnen?
Ich war 15, als ich die Verfolgung durch die Nazis erlebt habe. Wir haben zwischen November 1944 und Jänner 1945 zu fünfzigst in einer Zweieinhalbzimmerwohnung mit einem Schweizer Schutzpass überlebt. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Lebensgefahr ich war, und nachher wurde darüber kein Wort gesprochen. Im Alter von 23 Jahren war ich dann einer der jüngsten politischen Gefangenen, neun Monate in Haft in Gefängnissen und stalinistischen Internierungslagern. Stalins Tod hat mich buchstäblich gerettet. Ich bin herausgekommen, meine Frau hatte mich betrogen, ich ließ mich scheiden und bin mit ein paar Büchern zu meinen Eltern gezogen. Dann hatte ich drei Jahre Berufsverbot, die in einem gewissen Sinn härter als das Gefängnis waren. Und dann hätte ich in Ungarn Karriere als Journalist machen können, aber es schien mir unmöglich, mit der Lüge zu leben, und so kam ich mit nichts nach Österreich. Als schon bekannter ungarischer Journalist musste ich von vorne anfangen: ohne Sprache, ohne Freunde, ohne Verwandte. Mit einem Wort: Verglichen mit den Tragödien, die ich durchgemacht habe, ist das heute maximal die Generalprobe für eine wirkliche Krise. Ich habe in Budapest erlebt, wie das ist, wenn man nicht ausgehen kann und einem die Wohnung durch die russischen Kanonen zerstört wird. Da ist man vielleicht ruhiger und hat mehr Gefühl für die richtigen Proportionen.

ZUR PERSON

Paul Lendvai Geboren am 24. August 1929 in Budapest, erlitt er als jüdisches Kind Verfolgung durch die Nazis, wurde von den Stalinisten eingesperrt und floh 1957 nach Österreich. Seine journalistische Karriere verlief steil: Korrespondent der "Financial Times", Leiter der Osteuroparedaktion des ORF. Lendvai war ein enger Freund und der erste Biograf Bruno Kreiskys und schrieb ein bis heute gültiges Standardwerk über Ungarn. Er lebt mit seiner Frau in Wien.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr.15/20

Kommentare

Anton Aman
Anton Aman melden

Im Übrigen ich schreibe unter meinem Namen!

bruderteddy melden

Nun in erweiterter Hinsicht tu ich das auch. Mein Benutzername ist eine Abwandlung meines ehemaligen Klosternamens und soll auch für meine Einstellung Zeugnis geben.

Anton Aman
Anton Aman melden

Es geht hier nicht nur um die Antwort von Kishon, auch
Barbara Streisand antwortete einem Reporter, der sie als
Amerikanerin ansprach, ihre Antwort war: Nein, ich bin Jüdin!
Aber Sie scheinen all das anders zu sehen, Ihr gutes Recht.
Was aber den Herrn Lendvai anbelangt, da fehlt es zu seiner
Person und Tätigkeit sehr viel, sehr viel, seine Abenteuer
begannen in Szombathely.... und ???

Anton Aman
Anton Aman melden

@bruderteddy:
Sie haben meine Postings nicht verstanden, daher noch einmal:
Kishon, den ich übrigens sehr schätze, wurde in München, wo er
auch gelebt hat, gefragt, ob er ein Deutscher sei: geantwortet:
Ich bin in Budapest geboren, aber kein Ungar, ich lebe in München,
aber kein Deutscher, ich bin Jude.
Haben Sie es jetzt verstanden!? Daher ersuche ich Sie es nicht anders
darzustellen!

bruderteddy melden

Das war die Antwort Ephraim Kishons. Was ist die Einstellung Paul Lendvais dazu? Von einem auf einen anderen zu schließen erscheint mir problematisch. Ich mag es einfach nicht, jemanden aufgrund seiner Herkunft, Rasse Volkszugehörigkeit oder was auch immer als unglaubwürdig abzuqualifizieren. Ich habe größeren Respekt vor Paul Lendvai als vor Viktor Orban und seiner Politik

Übrigens war Ephraim Kishon vor seinem Tod mit einer Österreicherin verheiratet, seine Bücher sind köstlich zu lesen, also beste Unterhaltung. Und gerade Juden zeichneten sich oft dadurch aus, daß sie treue und aufrichtige Diener der Länder, in denen sie lebten, waren und sind. Sie zeichnen sich auch durch guten und geistreichen Humor aus. Gut und Böse findet sich in jedem von uns.

Gespräche an seinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben. Ist er Jude, was sollte daran falsch sein. Gott selbst wurde in Jesus Jude und er lehrte uns, was Gott von uns will und ließ sich, um Friede und Versöhnung mit uns Menschen möglich zu machen, sogar bestialisch umbringen. Soweit geht Gottes Liebe zu uns.

Warum sollte Paul Lendvai kein Österreicher sein? Weil er ungarisch-stämmig ist, weil er wie auch Ephraim Kishon Jude ist? Wo liegt das Problem. Ich sehe darin nirgendwo ein Problem. Nichts daran ist hinderlich, ihn als Repektsperson anzusehen. Er ist dankbar dafür, daß Österreich ihn damals aufgenommen hat, bemüht sich darum, ein guter Bürger zu sein, läßt uns durch seine Bücher, Analysen und

Meines Erachtens sind die Kommentare über Paul Lendvai und ähnliche kluge Köpfe, auf die wir eigentlich hören sollten, sowas von armselig und mieselsüchtig. Lendvai bemüht sich um objektive Analysen zur Lage in Europa, was ihm in der Regel auch gelingt. Daß Orban eine Gefahr darstellt, müßte eigentlich jedem denkenden Menschen einleuchten.
Außerdem warum sollte Paul Lendvai kein Österreicher sein?

Anton Aman

Sehr geehrter Herr Sichrovsky!
In Bezug auf Ihr Kommentar: "Von der Leyen ist für Orban...etc."
vom 20.04.20 stelle ich an Sie dezidiert die Frage,
ob Sie zur Person vom Herrn Lendvai entweder keine Ahnung
haben, oder Sie bewußt es verschweigen wollen, denn außer seinem
Geb.Datum und kurzfristige Tätigkeit für die "Financial Times"
fehlt alles!!! Vom 2.Nov.1952-......???

Anton Aman

Das größte Problem des Herrn Lendvay ist, daß er weder in Ungarn,
noch in Österreich Politik machen konnte, wie andere Journalisten.
Er mag Dr.Orbán von seiner ersten Wahl weg nicht(?), mochte er
den abgewählten Gyurcsány vielleicht? War er einverstanden, daß
israelische Investoren Herzstücke am Balaton und Velencei tó
unter den Nagel gerissen haben? Unter Gyurcsány!

Anton Aman

Der Herr Lendvay gehört zu jenen Opportunisten, die nach der
Windrichtung sich dreht, so gesehen sind seine Äußerungen eher
mit einer gewissen Skepsis zu betrachten.
Er kam schon nach Österreich, aber nicht von Ungarn!
Er ist in Ungarn geboren, aber kein Ungar, er lebt in Osterreich, aber
kein Österreicher, er ist Jude, genauso wie Kishon der auch in
Ungarn geboren wurde!? Verständlich!?

Seite 1 von 1