Paul Lendvai: "Wie schnell kommt das Aufwachen?"

Der Publizist Paul Lendvai über den Krieg in Europa, Putins "Untermieter" Viktor Orbán und seine Herrschaft in Ungarn, die Doppelmoral in der EU und: wie knapp Österreich unter Türkis-Blau an einer Orbánisierung war

von Paul Lendvai: "Wie schnell kommt das Aufwachen?" © Bild: (C)2022 Ricardo Herrgott/News

Herr Professor Lendvai, am östlichen Rand Europas tobt ein Krieg, der den ganzen Kontinent betrifft. Mit wie viel Sorge blicken Sie derzeit auf dieses Europa?
Ich beschäftige mich nicht mit den Sorgen, sondern versuche, die Dinge zu verstehen, sonst müsste ich ununterbrochen Sorgen haben, weil die Geschichte unvorhersehbar und überraschend ist. Ich bewundere die Leute, die jetzt sagen, sie haben das alles gewusst. Wenn ich das alles wissen würde, dann könnte ich nicht schlafen. Es gibt sicher nicht sehr viele Situationen, die wir beeinflussen können. Man muss deshalb bescheiden sein und sagen: Ich weiß es nicht. Aber jetzt gibt es die, die sofort die ganze Psychologie von Putin erklären können. Und es gibt die, die einmal Putin getroffen hatten und jetzt davon leben, darüber zu erzählen. Dabei wissen wir relativ wenig. Und wir sind unsicher in unserem Urteil. Das Einzige, was wir machen können, ist, aus unseren Erfahrungen gewisse Schlüsse zu ziehen. Niemand hat den Ungarn-Aufstand 1956 geahnt, oder was 1968 in der Tschechoslowakei passieren würde. Niemand glaubte am Anfang der Kampagne, dass ein Mann wie Trump zum Präsidenten einer Weltmacht gewählt werden könnte. Das heißt nicht, dass man keine Meinung haben kann. Aber man muss vorsichtig sein.

Haben wir in Europa verlernt, mit solchen Kriegen umzugehen? Auch unsere Politiker stehen ja relativ fassungslos vor diesen Ereignissen.
Heute spielt sich alles in der Kommunikation ab. Die große Frage ist: Ist es zum Beispiel ein Fehler oder ist es wichtig, dass die Kontakte mit Putin aufrechterhalten bleiben und das Politiker wie Scholz und Macron mit ihm telefonieren? Für die Politiker wird es immer schwieriger. Auch weil die Urteile über sie immer schneller gefällt werden. Aber was können sie schon alles richtig machen in einer Situation mit Coronakrise, Klimawandel, Wirtschaftskrise und Krieg in der Ukraine? Ich bedauere sie nicht. Niemand hat sie gezwungen, Politiker zu werden.

Aber ist es nun ein Fehler, wenn Politiker wie Scholz und Macron mit Putin telefonieren?
Wir werden sehen, was passiert. Es kann ein Fehler sein, wenn Putin vielleicht glaubt, dass diese zwei zulasten der Ukraine zu substanziellen Konzessionen bereit sind. Es kann aber auch sein, dass das Miteinanderreden wichtig ist. Das kann man hier von Wien aus nicht beurteilen. Es ist nicht nur entscheidend, was jemand sagt, sondern was für einen Eindruck er hinterlässt. Nehmen Sie die Öl- und Gasimportbeschränkungen. An der Stelle von Selenskyj würde ich auch sagen, dass ein Embargo wichtig ist. Aber wenn ich ein Politiker in Deutschland oder Österreich bin und weiß, dass wir aufgrund des Embargos plötzlich zehn Prozent Arbeitslosigkeit haben könnten, dann ist es schwierig, unter diesen Umständen eine Entscheidung zu treffen oder tragbare Kompromisse zu erzielen.

Als wir Sie um dieses Interview gebeten haben, meinten Sie, Sie würden am liebsten über die Untermieter von Putin in Europa reden ...
Ja, Orbán ist ein sehr geschickter Untermieter. Aber es gibt auch andere Untermieter - die Serbenführer in Belgrad oder Bosnien, bis vor Kurzem die Bulgaren.

»Anfang Februar war Orbán bei Putin in Moskau, ihr zwölftes Treffen zwischen Freunden«

Im Ukraine-Krieg zeigt sich Orbán Flüchtenden gegenüber erstaunlich hilfsbereit. Nehmen Sie ihm das ab?
Er ist raffiniert. Ungarn ist in der Nato und in der Europäischen Union. Orbán hat nicht die Beschlüsse blockiert, aber gleichzeitig erlaubt er keine Waffenlieferungen in die Ukraine. Und was die Flüchtlinge betrifft: Bis vor zwei Wochen war es nur die Zivilgesellschaft, die geholfen hat. Die Regierung hat nichts getan. Orbán ist ein zutiefst zynischer Politiker. Ungarn solle sich nicht in diesen Krieg einmischen. Die ungarischen Menschen sollten geschützt werden - also agiert er nach außen weder prorussisch, noch proukrainisch. Anfang Februar war Orbán bei Putin in Moskau, ihr zwölftes Treffen zwischen Freunden. Auch jetzt kritisiert er ihn mit keinem Wort persönlich. Das ist eine Art geschickte Gratwanderung, vor allem Beruhigungstherapie vor den Wahlen.

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Europa ließ Orbán lange gewähren - gerade unter Angela Merkel. Es gab enge wirtschaftliche Verbindungen: Ungarn bietet billige Arbeitskräfte, Steuererleichterungen, direkte staatliche Subventionen. Hätte man wirtschaftliche Bestrebungen stärker vom politischen Tun trennen müssen?
Das waren ja keine karitativen Gesten. Das waren Investitionen. Aber ja, es war der größte Fehler von Angela Merkel, dass sie Orbán nie persönlich kritisiert hat - obwohl die engsten Berater und Leibjournalisten von Orbán sie in unflätiger Weise in der Flüchtlingskrise in Zeitungen und Fernsehsendungen beschimpft haben.

Was ist ausschlaggebend für Orbáns Wahlsiege?
Er ist jetzt zwölf Jahre an der Spitze. In dieser Zeit ist nicht nur der Abbau der Medienfreiheit passiert. Auch die Gerichte wurden geschickter als in Polen umgebaut. Es ist auch so, dass eine ganze Generation in vielen Schulen vergiftet wird. Es wird immer schwieriger für die Lehrer, zumal die Schulbücher auch umgeschrieben werden. Der Direktor des literarischen Museums, zuständig für große Subventionen, ist ein Mann, der offen sagt, er habe nichts übrig für die Literatur, offenbar deshalb, weil die allerbesten ungarischen Schriftsteller gegen diese Regierung sind. Die ganze Kehrtwende in der Außenpolitik mit Russland, mit Aserbaidschan, mit der Türkei, China - alle sind gute Freunde. Die Frage ist, wie schnell nach dieser Wahl dann ein Aufwachen kommt, weil die Wirtschaftssituation durch diese vorhin erwähnten Geschenke so katastrophal sein wird. Oder ob und wie lange die Gesellschaft sich mit dieser Situation abfinden muss, mit einer weiteren Herrschaft einer dünnen Schicht, die, wie überall in autoritären Staaten, schamlos profitiert hinter einem Vorhang von Lügen und Halbwahrheiten.

Bisher sah man eine Achse zwischen Polen und Ungarn, mit ihren autoritären Maßnahmen gegen Medien und Justiz. Nun im Krieg entwickeln sich die Länder auseinander. Was heißt das für die EU?
Die EU muss differenzieren: Die Polen sind großartig, sie nehmen 2,2 Millionen Flüchtlinge auf. Sehr viele wollen dortbleiben in der Hoffnung, dass sie zurückfahren können. Das wird eines Tages, vielleicht bald, zu viel sein für die Menschen, sie brauchen viel Geld und Hilfe. Kaczyński, Chef der rechtskonservativen Regierungspartei, der ein älterer und nicht so gerissener Operator ist wie Orbán, fährt mit den drei Ministerpräsidenten nach Kiew. Kaczyński als Verteidiger der Demokratie ist so was wie ein Alkoholiker, der mit einer Kampagne gegen Alkoholismus beauftragt wird. Das ist lächerlich. In Brüssel hat man bezüglich dieser Länder lange einer Doppelmoral gehuldigt. Auch Ursula von der Leyen, deren EU-Kommissar, zuständig für die Erweiterung und die Balkanstaaten, ein als Diplomat verkleideter Vertrauensmann von Orbán ist. Aber nun zeigt sich auch, dass diese sogenannten Visegrád-Staaten eine Fiktion sind. Weil die Polen sind in dieser grundsätzlichen Frage des Überlebens der Ukraine, eines Nachbarlands, nicht auf der gleichen Seite wie die Ungarn. Tschechien und Slowakei ebenso. Das war ein Nonsens bei uns, dass manche sagten, Österreich soll zusammen mit den Visegrád-Staaten auftreten. Lächerlich!

Ist Europa in Ungarn zum Zuschauen und Abwarten verdammt?
Es ist zu spät. Der Europäische Gerichtshof hat zwar einen Beschluss gefasst, aber der Sanktionsmechanismus gilt nicht für die Medienfreiheit, sondern nur für den Missbrauch von Geldern, den Transfers, die sie bekommen. Die EU funktioniert langsam. Vielleicht wird dieser Mechanismus dazu führen, dass ein Teil Gelder eingefroren wird. Aber eigentlich hat die EU schon 2011 gegen die Mediengesetzgebung in Ungarn protestiert. Dann hat es sehr lange gedauert, Orbán saß sogar zusammen mit den anderen Christdemokratischen Parteien bis vor Kurzem in einer Fraktion. Das war eine doppelte Moral, ein Fest der Scheinheiligkeit bei der EU.

Glauben Sie, dass Ungarn in der EU bleiben wird?
Orbán bleibt, solange er Geld bekommt und solange er nicht in seiner Manövrierfähigkeit beschränkt wird. Er hat vor vielen Jahren gesagt, man kann auch außerhalb der EU leben. Aber die Ungarn sind in großer Mehrheit, genauso wie in Polen, für die EU. Daher glaube ich nicht, dass er von sich aus geht. Er spricht über Stolz und Ehre und Geschichte und Ungartum, aber das Geld nimmt er. Ungarn ist ja auch nicht allein: Es gibt die Probleme auch in Polen oder Bulgarien. Darum ist es ein Unsinn, darüber zu reden, dass etwa Serbien unter dem autoritären Regime von Vučić in die EU aufgenommen werden soll. Für die EU-Mitgliedschaft gibt es Kriterien wie freie Marktwirtschaft, Rechtsstaat usw. Wenn ein Land einmal drin ist, ist es zu spät. Die ungarisch-polnische Achse gegen die EU hat bisher funktioniert, aber der Krieg schwächt diese Zusammenarbeit, aber er überschattet auch die Entscheidungsmechanismen in Brüssel.

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Sie sind nicht zuversichtlich, dass Vučić seine nationalistischen Fantasien beiseitelegt, um sein Land in die EU zu führen?
Vučić war Propagandaminister von Milošević. Er hat während des Bosnien-Kriegs gesagt, wenn ein Serbe umgebracht wird, werden 100 Moslems umgebracht, und er hat die chinesische Fahne kürzlich am Belgrader Flughafen geküsst, weil die Chinesen Coronaimpfstoff geschickt haben. Nirgends außer in Ungarn war Putin so oft und wird so freundlich aufgenommen wie in Serbien und auch in Bosnien. Die ganze Situation ist brandgefährlich. Und in Serbien gibt es auch eine relativ starke prorussische Stimmung. Das ist auf die Nato-Bombardierung von Belgrad März bis Juni 1999 zurückzuführen, die allerdings 800.000 bis eine Millionen Albanern das Leben oder die Freiheit gerettet hat. Es ist auch ein durch und durch korruptes Land, wo die Zeitungen von regierungsnahen Gruppen aufgekauft werden usw. Er hat aber gleichzeitig die EU-Karte gespielt. Wir sehen eine brisante Lage auch in Bosnien, wo Dodik direkter Verbündeter von Putin ist. Das Problem ist, dass sehr viele Politiker im Westen, auch in Österreich, nicht nur keine Bücher, sondern nicht einmal Zeitungen lesen. Sie wissen über die Balkanländer nichts. Früher, als ich zu Kreisky ging, er war Außenminister und ich "Financial Times"-Korrespondent, hatte er einen Haufen von Zeitungsausschnitten vor sich. Es ist jetzt wirklich schrecklich. Viele Politiker zeigen, dass sie entweder nichts über diese Länder wissen oder nichts wissen wollen. Der ukrainische Botschafter in Deutschland sagt zu Recht: Jetzt - und zu spät - hat der Westen die Ukraine entdeckt. Von Kenntnissen unbelastete Schmalspurexperten schreiben plötzlich lange Abhandlungen über die Ukraine und Russland. Man hätte viel früher handeln können, als große Truppenkonzentrationen zu sehen waren. Auch wenn man nicht glaubte, dass Putin eine Invasion machen wird, hätte man schon mehr für die Ukraine tun können. Allerdings hat Putin die eigenen Kräfte über- und die ukrainische Armee und das Volk unterschätzt. Es gibt am Balkan einen Spruch: Nichts ist gefährlicher, als wenn die Politiker ihren eignen Märchen glauben.

»Dass der neue Kanzler eine der ersten Reisen zu Vučić macht, halte ich für fast so peinlich, wie dass Kurz eine Auszeichnung von ihm angenommen hat«

Soll die EU Tempo machen bei der Aufnahme der Beitrittskandidaten am Balkan, um Putin zurückzudrängen?
Es gibt da sehr unterschiedliche Voraussetzungen. In Bosnien etwa steht die ganze Föderation am Rande des Zerfalls oder eines Kriegs. Das heißt, man müsste etwas anderes erfinden, nicht die Vollmitgliedschaft, sondern eine Art Assoziation als Vorstufe auch für Mazedonien, Albanien, Kosovo. Natürlich soll man sie nicht warten lassen. Es schadet auch dem Ruf des Westens und dem Einfluss des Westens, wenn die Menschen in Osteuropa sehen, dass etwas versprochen wird, und zugleich gewinnen sie den Eindruck, dass es nicht eingehalten wird. Weniger wäre besser, dafür konkrete Maßnahmen, etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Es ist jedenfalls eine Situation, in der die Entscheidungen nicht leicht sind. Aber dass unser neuer Bundeskanzler eine der ersten Reisen zu Vučić macht, halte ich für fast so peinlich, wie dass Sebastian Kurz noch vor seinem Abgang eine Auszeichnung von diesem Mann angenommen hat. Das alles ist schlecht auch für unseren Ruf.

Apropos Sebastian Kurz: Während seiner türkis-blauen Regierung hieß es oft, Österreich drohe eine Orbánisierung. Wie nah waren wir wirklich dran?
Es ist einer der größten Glücksfälle, dass wir nun einen anderen Bundeskanzler haben. Kurz war dreimal 2018 bei Putin. Immer manierlich, geduldig, elegant, schön, alles in Ordnung. Wie die Chats zeigen, war das für das Land eine nicht ungefährliche Phase. Aber es kann auch etwas Gutes passieren. Das Ibiza-Video. Das ist eines der wichtigsten Dinge, die in Österreich in den letzten Jahren geschehen sind. Die von den beiden im Video gesehenen und gehörten Politikern geführte Partei hatte immerhin ein Abkommen für Zusammenarbeit mit der Partei von Präsident Putin. Wenn man das alles bedenkt, muss man sagen, wir haben Glück jetzt mit den Grünen und vor allem mit zwei Personen: mit dem Bundespräsidenten und mit der Justizministerin. Wenn man sich daran erinnert, wer die früheren Justiz- oder Außenminister waren oder hätten sein sollen, ist das etwas, was man nur im Nachhinein wirklich abschätzen kann.

© (C)2022 Ricardo Herrgott/News

Für die Justizministerin gibt es aber noch einiges zu tun.
Sicher! Ich hab vor 15 Jahren ein Buch geschrieben: "Mein Österreich". Aber das war zu optimistisch, zu schön. Jetzt arbeite ich an einem, das kritischer wird. Ich habe die Politiker unter die Lupe genommen, viel gelesen und zahlreiche Interviews geführt. Wir leben nicht in einem luftleeren Raum. Man kann ein kleines Land auch untergraben. Es ist gefährlich, wenn die Staatssicherheit, wenn die Justiz oder die Medien untergraben werden. Was wäre gewesen, wenn die amerikanischen Journalisten Watergate nicht aufgedeckt hätten? Oder die Skandale bei uns. Das sage ich nicht nur deshalb, weil ich Journalist bin. Das ist ein aufregender Beruf, soweit man ihn frei ausüben kann. Und wenn das, was geschrieben wird, auch gebracht wird.

Das ist in Österreich nicht mehr selbstverständlich?
Sicher nicht. Zumindest war es das in den vergangenen Jahren nicht immer. Aber früher oder später wird das bemerkt oder es passieren Dinge. Es gibt eine sehr wichtige Zeitung in Österreich, die seit dem Ibiza-Video anders schreibt. Da hat man gesehen, was hätte sein können. Strache hat in seiner sogenannten "besoffenen Geschichte" schon sehr vieles verraten. Oder denken Sie daran, dass der spätere türkise Kanzler und der blaue Vizekanzler im Wahlkampf 2017 darüber diskutierten, wer von ihnen die Handynummer von Orbán hat und wer ihn häufiger trifft. Daran können Sie sehen, wie gefährlich die Lage war. Und nachher fragt man sich: Wie war das möglich, dass wir diesem oder jenem Politiker geglaubt haben?

ZUR PERSON

Paul Lendvai, 92
arbeitete in Ungarn als Journalist bei einer sozialdemokratischen Zeitung, wurde 1953 verhaftet, erhielt Berufsverbot und musste 1957 im Zuge des Ungarn-Aufstands fliehen. In Österreich war er für die "Presse", die "Neue Zürcher Zeitung" und die "Financial Times" tätig. Er gründete die "Europäische Rundschau", die bis 2020 erschien. Von 1982 bis 1987 war er Leiter der Osteuroparedaktion des ORF, wo er auch heute das "Europastudio" moderiert.

Dieses Interview ist ursprünglich im News-Magazin Nr. 13/2022 erschienen.