So hart trifft Corona unsere Kinder

Die Krise geht an niemandem spurlos vorüber. Schon gar nicht an der jungen Generation. "Die psychische Belastung ist für viele enorm", sagt die Kinder- und Jugendpsychologin Sabine Kainz. Von einem auf den anderen Tag brach ein großer Teil der gewohnten Strukturen weg. Angst und Unsicherheit machten sich breit. Mit welchen Problemen die junge Generation - vom Kindergarten- bis zum Studentenalter - derzeit zu kämpfen hat.

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Schule - So hart trifft Corona unsere Kinder © Bild: iStockphoto.com
Mag. Sabine Kainz, Klinische- und Gesundheitspsychologin, ist Kinder- und Jugendpsychologin in freier Praxis und Lektorin am Institut für Psychologie (Universität Wien). Die Schwerpunkte ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen liegen in der psychologischen Diagnostik und Behandlung von Lernstörungen , Entwicklungsauffälligkeiten, ADHS, emotionalen Problemen und der Intelligenz- und Entwicklungsabklärung im Kindes- und Jugendalter.
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Eine Anfang des Jahres erschienene Studie belegt, was sich viele bereits dachten: Das Wohlbefinden der Schüler hatte sich im zweiten Lockdown deutlich verschlechtert. Bergab ging es auch mit der Lernfreude. Es fehlen die Sozialkontakte, sagt die Psychologin. "Die Kinder lernen ja nicht nur Schulstoff, sondern auch soziale Kompetenz. Sie wenden ihre sozial-emotionalen Fähigkeiten an und entwickeln sie im Zusammenspiel mit den anderen Kindern weiter." Dieses Zusammenspiel ist nun abhandengekommen. "Da macht natürlich auch das Lernen nicht mehr so viel Spaß", beschreibt Kainz den Effekt, der sich über alle Altersgruppen hinweg erstreckt.

»Kinder, die letzten September eingeschult wurden, wussten bis dato gar nicht, was das System Schule bedeutet«

Wobei die Kinder während des Lockdowns nicht nur auf die Klassengemeinschaft verzichten mussten. Egal ob Tischtennisverein, Fußballplatz oder Tanzkurs - "das ist ja ein Rahmen, der Sicherheit gibt, in dem sich die Kinder entwickeln können." All diese Ressourcen waren plötzlich nicht mehr verfügbar. Und wo wir gerade beim Sport sind: Gerade Kindern mit einem höheren Bewegungsdrang tut es gut, sich ein- oder vielleicht sogar mehrmals in der Woche ordentlich auszupowern. Auf diese Weise können sie Spannung abbauen. Ist diese Gelegenheit nicht gegeben, staut sich die Anspannung nach und nach an.

Es fehlen die Ausweichmöglichkeiten

Ganz zu schweigen von Familien, in denen Gewalt herrscht. Hier hat das Fehlen räumlicher Ausweichmöglichkeiten ganz besonders dramatische Folgen. "Das Kind schafft es nicht mehr, aus der toxischen Situation rauszugehen. Dadurch wird natürlich alles nur noch schlimmer", schildert Kainz die Problematik. Fast schon banal mutet im Vergleich dazu das leidige Thema des Mangels an digitaler Ausstattung an. Oft müssen sich mehrere Familienmitglieder einen Computer teilen. Eine Situation, die einiges an Organisationsgeschick bedarf. Doch wie sieht es nun mit den altersspezifischen Herausforderungen aus?

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Da wären einmal all jene, die während des Lockdowns an einem Übergang von einem System ins andere standen. "Kinder, die letzten September eingeschult wurden, wussten bis dato gar nicht, was das System Schule überhaupt bedeutet", erklärt die Therapeutin. Denselben Kindern blieb es verwehrt, im letzten Kindergartenjahr in die eine oder andere Schule schnuppern zu gehen. Viele Schulen bieten den Tafelklässlern im Juni die Möglichkeit, die Lehrer und Lehrerinnen kennenzulernen. Im September folgen spezielle Projekte, bei denen die Klassengemeinschaft gestärkt werden soll. Auf all das musste dieses Mal verzichtet werden.

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Gewohnte Strukturen brechen weg

Mit demselben Problem konfrontiert waren Kinder, die im Herbst von der vierten in die fünfte Schulstufe wechselten. "Auch sie konnten sich die Schule nicht ansehen und sagen: 'Da möchte ich die nächsten vier Jahre hingehen'", gibt die Psychologin zu bedenken. "Man kann nicht schauen, wie es sich anfühlt. Sämtliche Vorbereitungen, die Sicherheit geben und die die Entscheidung erleichtern, entfielen." Verzichten mussten im Übrigen auch Schüler, die bereits mitten im Schulalltag angekommen waren - und zwar auf eine Struktur, die sie kennen und die ihnen - einmal mehr - Sicherheit gibt.

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"Es geht darum zu wissen, wie der Alltag ausschaut. Ich geh' in die Schule, dann hab ich Nachmittagsbetreuung. Am Dienstag hab ich Judo, am Donnerstag Klettern", veranschaulicht Kainz. Gleichzeitig wurden die Kinder mit Aufgaben konfrontiert, die ihnen völlig fremd waren. Stichwort Distance Learning. Etwas, das auch viele Eltern vor neue Herausforderungen stellte. Um ihren Kindern die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen, mussten sie sich erst einmal selbst einarbeiten. Anders sieht es da schon in der Oberstufe aus. Hier könne man davon ausgehen, dass die Kinder mit dem Home Schooling auch alleine gut zurechtkommen. Dafür haben sie mit einem anderen Problem zu kämpfen.

Schlechtere Chancen mit der "Corona-Matura"?

"Die Oberstufenschüler haben schulisch sehr viel zu tun. Viele sitzen von acht Uhr morgens bis sechs am Abend", weiß Kainz. Jene, die mehr oder weniger kurz vor der Matura stehen, sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie dieser auch tatsächlich gewachsen seien. Immerhin ist die Sorge, dass aufgrund der widrigen Umstände der Lernstoff nicht optimal verinnerlicht werden konnte, nicht ganz von der Hand zu weisen. Und noch eine Angst plagt den ein oder anderen: Werde ich einen guten Studienplatz, eine gute Arbeit bekommen? Oder wird mir der Stempel "Corona-Matura" meine Zukunftschancen verbauen? Diejenigen wiederum, die den Abschluss letztes Schuljahr erfolgreich meisterten, konnten dies nicht, wie sonst üblich, mit der Maturareise zelebrieren.

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Wer eine Berufsbildende Höhere Schule besucht, musste bis dato in puncto Praktika Abstriche machen. Und das, obwohl diese ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung sind. "Das System hat viele Jahrzehnte gut funktioniert. Deshalb haben wir jetzt auch keine Ausweichpläne", bemängelt die Psychologin. Ein Muster, das sich im Übrigen nicht nur im schulischen Bereich zeige. "Insgesamt gibt es ganz wenig Flexibilität. Daher hat man auch ständig das Gefühl, man beginnt jetzt erst darüber nachzudenken, wie man es besser machen kann." Fast als hätte man darauf gewartet, dass alles von selbst wieder gut wird.

Studenten in existenziellen Nöten

Der bereits erwähnte Mangel an sozialen Kontakten macht auch den Studenten zu schaffen. Es fehlt der Austausch sowohl mit den Lehrenden als auch mit den Studierenden. Hinzu kommen existenzielle Nöte, konnten doch viele Studentenjobs während des Lockdowns nicht ausgeübt werden. "Ich fürchte, dass wir die Auswirkungen der letzten Monate erst in den nächsten Jahren wirklich erkennen werden können", sagt die Psychologin mit Blick auf sämtliche Altersgruppen. Dabei gehe es weniger um Lerninhalte. Die könne man zum Beispiel durch Modulsysteme abfedern. "Indem man in den nächsten Jahren schaut, wer was braucht und wo man noch Hilfsangebote aufbauen kann."

»Das System hat viele Jahrzehnte gut funktioniert. Deshalb haben wir jetzt auch keine Ausweichpläne«

Viel herausfordernder seien die Auswirkungen auf psychischer Ebene. "Wenn einem die Grundlage des Lebens entzogen wird - und nichts anderes ist das -, führt das zu einer massiven Verunsicherung", gibt Kainz zu bedenken. "Seit fast eineinhalb Jahren leben wir in einer Ausnahmesituation. Das kann nicht am nächsten Tag, in der nächsten Woche oder im nächsten Monat wieder gut sein. Bis diese Unsicherheit wieder verschwindet, wird es lange brauchen." Was aber noch lange nicht heißt, dass wir unseren Blick ausschließlich auf die negativen Folgen der Krise richten müssen.

Aktiv gestalten statt einfach nur hinnehmen

So herausfordernd die letzten Monate auch waren, haben sich doch viele Kinder und Jugendliche Kompetenzen angeeignet, die sie sonst in der Form nicht erworben hätten. Da wäre einmal der Umgang mit digitalen Medien zu Lernzwecken und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Nebenher wurde die Frustrationstoleranz enorm gefordert. Ob man wollte oder nicht - man musste die Situation aushalten, und das ohne zu wissen, wann eine Besserung eintritt. Im besten Fall hat man dabei erkannt, dass eine passive Haltung nicht hilfreich ist. "Weg aus der Haltung 'Das Einzige, was ich jetzt tun kann, ist warten, bis es vorbei ist' hin zum aktiven Gestalten des Alltags", führt die Psychologin aus.

Mutter und Kind beim Lernen
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Mehr denn je bietet es sich derzeit an, Informationsquellen kritisch zu hinterfragen. Gerade in den von Kindern und Jugendlichen gern genutzten Sozialen Medien verschwimmt oft die Grenze zwischen Wahrheit und Fake News. Welchen Quellen kann ich demnach vertrauen? Und wo finde ich die Studie, über die gerade alle sprechen? Hier können Schüler im Ober-, aber auch im Unterstufenalter enorm dazulernen. Wenn nun auch der eine oder andere Lerninhalt in den vergangenen Monaten ein bisschen auf der Strecke geblieben ist - letztlich dürfe man eines nicht vergessen: "Die Kinder lernen fürs Leben."