Abgründig: "Das
verratene Meer"

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Opernkritik - Abgründig: "Das
verratene Meer" © Bild: Wiener Staatsoper/Henze

In einem Beipackzettel, den Dirigentin Simone Young zur Besetzung den Journalisten, die zur Aufzeichnung der Premiere von Hans Werner Henzes „Das verratene Meer“ aushändigen ließ, lässt sie wissen: aufgrund der technischen Bedingungen durch die Übertragung im Live-Stream und die Aufzeichnung habe sie sich entschlossen, die volle Pracht der Henze-Orchestrierung ohne Rücksicht auf die Sänger zur Geltung zu bringen. Das Schlüsselwort ist „Pracht“. Denn der 1926 geborene Deutsche, setzte darauf, ohne jedoch auf Tiefgang zu verzichten. Seine Musik entzieht sich jedweden Strömungen des 20. Jahrhunderts. Da gibt es keine Atonalität, keinen Minimalismus, aber eine Art von Richard Strauss’scher Opulenz, Sinnlichkeit und Gewaltexzesse inbegriffen, aber auch in tiefgehende kammermusikalische Elemente.

So auch in diesem Werk, das eigentlich ein Kammerspiel zerrissener, gepeinigter Seelen ist. Das lassen die Macher auch spüren. Sergio Morabito, den Staatsoperndirektor Bogdan Roščić als Chefdramaturg ans Haus geholt hat, Regisseur Jossi Wieler – sie sind seit Jahrzehnten ein eingespieltes Team – und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die das Theater von Christoph Marthaler eindrücklich geprägt hat, zeigen mit einfachen Mitteln, wie Musiktheater funktioniert. Mehr braucht es nicht, denn der Stoff stammt von Yukio Mishima, einem Meister literarischer Gewaltexzesse. In seinem Roman „Der Seemann, der das Meer verrät“ erzählt von einem Teenager in Yokohama, Noboru, einem Halbwaisen, der früh seinen Vater verloren hat. Seiner jungen Mutter Fusako, einer Boutiquenbesitzerin, ist er Ersatzpartner und Sohn in einem bis sie den Seemann Ryuji kennenlernt und an sich bindet. Mishima kennt kein Tabu. Mutter und Sohn fühlen sich von dem Weitgereisten angezogen. Noboru aber flieht vor der die Enge seines Zuhauses in die Gegenwelt einer Bande von Jugendlichen, die gegen ihre Väter aufbegehren. Als Probe ihrer Gewalttätigkeit erschlagen sie eine kleine Katze. Als Norobus Mutter den Seemann ehelicht, liefert Norobu ihn seinen Kumpanen aus. An ihm soll die gleiche Tat wie an der Katze exerziert werden.

Viebrock hat für das Geschehen eine praktikable Bühne geschaffen, die einen Hafen, Haus und Geschäft in einem ist. Das Duo Wieler/Morabito sind echte Könner, wenn es um Personenführung geht, und jeder einzelne im Ensemble folgt dieser. Bo Skovhus ist ein toller Singschauspieler, der als Ryuji einen Mann zeigt, der weder auf hoher See noch an Land sein Glück finden kann. Vera-Lotte Boecker gibt sich mit ihrem weichen Sopran allen Facetten der Fusako hin. Josh Lovell ist ein achtbarer Noboru, der Exzesse meidet. Die jungen Bandenmitglieder sind mit Erik Van Heyningen, Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler ordentlich besetzt.

Bleibt die Frage, was Young hören lässt, wenn die Bedingungen wieder dem normalen Opernbetrieb entsprechen.

Radio Ö1 bringt am 15. Dezember um 19.30 Uhr einen Mitschnitt