Die ÖVP nach Sebastian Kurz

Wie ihr neuer Chef Karl Nehammer die ÖVP von Türkis auf Schwarz dreht, was er von seinem Vorgänger übernehmen soll und wie er sich von ihm abgrenzen muss

von Karl Nehammer © Bild: IMAGO images/SEPA.Media

Natürlich hätte Elisabeth Köstinger den Zeitpunkt ihres Rücktritts auch noch ungünstiger wählen können. Wenige Stunden vor dem ÖVP-Parteitag diesen Samstag in Graz beispielsweise, so, dass dem noch nicht gewählten Parteichef Karl Nehammer keine Zeit geblieben wäre, das Bild von Chaos zu übertünchen. Aber auch so hat es viele in der ÖVP und in ihrem Ministerium kalt erwischt. Montag früh wurde eine "persönliche Erklärung" der Landwirtschafts- und Tourismusministerin angekündigt. Die innenpolitische Erfahrung lehrt: Das heißt Rücktritt.

Man war allgemein davon ausgegangen, dass Nehammer, wenn er erst einmal von den Funktionären bestätigt ist, das Regierungsteam nach seinen Vorstellungen umbauen könnte. Kurz-Vertraute Köstinger wollte den Zeitpunkt ihres Abgangs wohl selbst bestimmen. "Vielleicht", sagt ein Kenner der Türkisen, "war für sie auch das 'Krone'-Interview mit Sebastian Kurz am Wochenende davor ein Signal." Darin hatte der Exkanzler eine Rückkehr in die Politik, auf die manche seiner Fans vielleicht noch hoffen, ausgeschlossen.

Wenig später verkündete auch Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck via Instagram und Facebook ihren Ausstieg aus der Politik. Im Gegensatz zu Köstinger dürften von ihr weder der Zeitpunkt noch die Tatsache des Rücktritts so geplant gewesen sein.

Wohin führt Nehammer die ÖVP?

Nehammer selbst hatte dafür tags darauf die folgende Erklärung parat: Er habe bei seinem Antritt im Dezember mit den beiden Ministerinnen die Perspektiven besprochen, ihnen aber den Zeitpunkt ihres Abschieds überlassen. Dennoch kann man annehmen, er und seine Berater hätten sich Anfang dieser Woche wohl lieber mit der Grundsatzrede für den so wichtigen Parteitag beschäftigt.

»Wussten schon bei Kurz viele nicht, wohin er die Partei eigentlich lenken will - außer an alle Schalthebel der Macht -, weiß man es bei Nehammer derzeit noch weniger«

Von einem Neuen an der Spitze wird dabei nicht weniger als ein großer Wurf erwartet. Wussten schon bei Kurz viele nicht, wohin er die Partei eigentlich lenken will - außer an alle Schalthebel der Macht -, weiß man es bei Nehammer derzeit noch weniger. Er muss den verunsicherten Funktionären Richtung geben. Antrittsreden von Parteichefs können blasse Routine sein. Sie können aber auch bewirken, dass aus "frustrierter Resignation", über die ÖVP-Mitglieder nach dem skandalträchtigen Ende der Amtszeit Kurz' und dem Absturz in den Umfragen klagen, der Glaube an eine gloriose Zukunft oder zumindest Zuversicht wird. Wolfgang Schüssel gelang dieses Kunststück der kollektiven Autosuggestion 1995 bei seiner ersten Rede als Parteichef.

Was muss der neue ÖVP-Chef also aufbieten, um die Funktionäre nicht nur zu möglichst hoher Zustimmung bei der Wahl zu motivieren, sondern sie auch zu überzeugen? Politikwissenschaftler Fritz Plasser, ein langjähriger Beobachter der ÖVP, meint, Nehammer müsse die Wirtschaftskompetenz seiner Partei wieder mehr in den Vordergrund rücken. "Er muss die ÖVP als eine Kraft darstellen, die Probleme löst und konkrete Vorstellungen hat. Durch die Inflation braut sich nämlich für die Koalitionsparteien etwas Gefährliches zusammen, im Sinne von: Warum handelt die Regierung nicht?"

»Er muss die ÖVP als eine Kraft darstellen, die Probleme löst und konkrete Vorstellungen hat«

Weiters empfiehlt Plasser dem neuen ÖVP-Chef die Betonung des Themas Sicherheit. "Dabei ist nicht nur die Kriminalität gemeint oder wie in der Zeit von Kurz der Bereich Migration und Asyl. Das Thema reicht weit darüber hinaus, angesichts des Krieges und der Veränderungen, die Österreich betreffen. Es geht also auch um Absicherung der Wirtschaft und der Lebenschancen."

Neue Anforderungen

Dass Nehammer die Wirtschaftskompetenz der ÖVP stärker in den Vordergrund rücken wird, liest der Politikexperte aus den nun vorgenommenen Personalrochaden. Martin Kocher wird vom Arbeitsminister zu einer Art "Superminister" aufgewertet, in dessen Agenden jetzt auch die Wirtschaft fällt. Dieser genieße hohe Vertrauenswerte in Umfragen, sagt Plasser, "und er ist ein wirklicher Experte. Er würde in diesem Bereich eine Kompetenz einbringen, die in der ÖVP in den letzten Jahren nur punktuell erkennbar war."

Bei Sebastian Kurz galt nämlich, seine Leute sollte vor allem eines sein: loyal. Vor allem die nun abgelöste Wirtschaftsministerin repräsentiert seine Personalpolitik idealtypisch. Der frühere Kanzler betraute enge Weggefährten mit Schlüsselressorts, im Falle Elisabeth Köstingers mit einem um wichtige Kompetenzen aus dem Wirtschaftsministerium aufgewerteten Super-Landwirtschaftsressort. Auf der anderen Seite gab es die Ministerdarsteller ohne Verankerung in der Partei.

Margarete Schramböck passte 2017 perfekt in dieses Muster. Im Oktober hatte sie sich nach einem Machtkampf mit Telekom-Chef Alejandro Plater als A1-Chefin zurückziehen müssen. Nur zwei Monate später wurde sie als Wirtschaftsministerin des Kabinetts Kurz I vorgestellt. Laut einer Anekdote, die im Ministerium kursiert, war Kurz nach der Absage seiner Wunschkandidatin Bettina Glatz-Kremsner auf die Tirolerin mit guten Verbindungen nach Niederösterreich aufmerksam geworden, weil sie in dieser Zeit mit einem Frauen-Award ausgezeichnet worden war.

Welpenschutz

Solange Kurz Regierungschef war, galt für Quereinsteigerinnen wie Schramböck eine Art Welpenschutz: Kurz hatte sich bei der Übernahme der Partei freie Hand bei der Personalauswahl ausbedungen und gestaltete seine Politik mit einem engen Kreis Vertrauter, die er in Schlüsselpositionen installierte. Die Wirtschaftsministerin - offiziell von jeher nur Ministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort - konnte in der Ära Kurz frei von Querschüssen aus der ÖVP, aber auch frei von Gestaltungsspielraum vor sich hinarbeiten.

Die Tourismus-und ursprünglich auch die Energieagenden waren dem Landwirtschafts-Ministerium zugeschlagen worden. Auch für den Breitband-Ausbau war Köstinger, nicht Digitalisierungsministerin Schramböck, zuständig. Digitalprojekte wie der Acht-Punkte-Plan für den digitalen Unterricht ressortieren in anderen Ministerien. "Digitalisierung ist eine Querschnittmaterie. Die Agenden sind zwischen den Ministerin aufgeteilt, man verliert leicht den Überblick", sagt eine Kennerin des Fachgebiets. "Mein persönlicher Eindruck ist, sie ist ziemlich entmachtet worden. Ihrem Ministerium wurde viel Budget und damit auch viel Schwungmasse und Macht weggenommen."

Negative PR

Trotzdem gelang es Schramböck immer wieder, mit ihrer Arbeit Aufmerksamkeit zu generieren -oft im negativen Sinne. Zum größten PR-Desaster ihrer Amtszeit geriet das "Kaufhaus Österreich". Ursprünglich als Onlinemarktplatz à la Amazon angekündigt, wurde im Herbst 2020 lediglich eine über eine Million teure Linksammlung präsentiert. Spott und Häme folgten auf dem Fuß. Kurz darauf, erinnert sich Neos-Wirtschaftssprecher Gerald Loacker, trat der Wirtschaftsausschuss im Parlament zusammen. Aus Mitleid mit der angeschlagenen Ministerin thematisierten die Abgeordneten der Opposition das "Kaufhaus Österreich" nicht - bis Schramböck die heikle Causa selbst ansprach. Loacker attestiert ihr deswegen mangelndes Gespür und "persönliche Gekränktheit in politischen Angelegenheiten, mit der sie sich selbst keinen Gefallen tut". Dazu kommen inhaltliche Schwächen. Es sei nie klar gewesen, wofür Schramböck politisch stehe, meint Loacker. Und das nicht nur wegen ihrer beschnittenen Kompetenzen. "Der Außenhandel, eine große Sektion, war in ihrem Ministerium. Aber die Frage, wie Österreich zum Mercosur-Abkommen steht - eigentlich Kompetenz des Wirtschaftsministeriums -, hat sie sich von Köstinger wegnehmen lassen."

Neben Kocher als Nachfolger für Schramböck hat Nehammer am Dienstag den bisherigen Bauernbund-Direktor Norbert Totschnig als Landwirtschaftsminister präsentiert. Zudem werden zwei Staatssekretariate geschaffen: eines für Tourismus, das Susanne Kraus-Winkler, bisher Obfrau des Fachverbandes Hotellerie, übernimmt, und eines für Digitalisierung. Für dieses wechselt Florian Tursky, bisher Büroleiter des Tiroler Landeshauptmanns Günther Platter, nach Wien. Auf eine Tiroler Ministerin folgen also ein Minister und ein Staatssekretär aus Tirol, auf eine Bauernbündlerin ein Bauernbündler. Zurufe aus Bünden und Ländern habe es bei der Personalwahl nicht gegeben, beteuert Nehammer und verweist auf die Aufwertung des parteifreien Martin Kocher.

Neuer Stil

Das neue ÖVP-Team müsse sich von der Zeit Kurz' nicht nur, was die Kompetenz betrifft, abgrenzen, findet Fritz Plasser, sondern auch "bei einem Politikverständnis, das bei Kurz zu kurz gekommen ist: In seiner Zeit wurde immer wieder große Würfe kommuniziert, aber es wurde dann wenig umgesetzt. Politik ist gleich Kommunikation -dieser Zugang wurde vom Kurz-Team obsessiv betrieben. Nehammer sollte weg von diesem Politikverständnis, bei dem das Marketing im Vordergrund stand, zu einer Politik des Konkreten."

Politikberater Thomas Hofer ortet auch nach der Regierungsumbildung noch große Unruhe in der ÖVP. "Das Problem ist, dass Nehammer für nichts steht und dass er nicht trittsicher ist." Das zeige sich etwa beim missglückten Vorstoß, die Gewinne der teilstaatlichen Energieversorger abzuschöpfen, wobei Nehammer auch gleich die in der ÖVP immer noch hochgehaltene "Schüssel-Doktrin", also "Privat ist besser als Staat", gekippt habe.

»Die Aufstiegserzählung der Nachkriegszeit, dass es unsere Kinder besser haben werden als ihre Eltern, ist massiv in Gefahr. Die muss man neu aufladen«

Hofer verweist aber auch auf Teile der Kurz'schen Politik, die Nehammer in seine Amtszeit "rüberretten" müsse. "Etwas, das Kurz bei Angela Merkel abgekupfert hat: asymmetrische Mobilisierung, also das Klauen von eigentlich sozialdemokratischen Inhalten." Bei Kurz waren das etwa das Nein zum Pflegeregress oder diverse Goodies für Pensionisten. Eine weitere Empfehlung Hofers lautet: Nehammer brauche ein Narrativ für die Krise. "Die Aufstiegserzählung der Nachkriegszeit, dass es unsere Kinder besser haben werden als ihre Eltern, ist massiv in Gefahr. Die muss man neu aufladen." Nehammer müsse also Aussagen über die Zukunft der Bildung und der Arbeit oder zum Klimawandel machen, nach dem Motto: "Wir sind in einer Krise, aber wir stellen die Weichen wie folgt, um danach wieder durchzustarten."

Derzeit aber sei der Kanzler vor allem damit beschäftigt, tagesaktuell die Feuerwehr zu machen: bei der Gaskrise, bei der Frage, wie man mit Putin umgeht, bei der Frage, wie man die Teuerung abfängt. "Man kann die Leute nicht nur mit der Krise alleine lassen, man muss ihnen das Gefühl geben, wie die Zukunft aussehen soll."

Die unangenehmen Themen ...

Was Nehammer in seiner Rede eher nicht an die große Glocke hängen wird: die Skandale in und um die ÖVP, sind sich die beiden Experten einig. "Er wird es wohl kurz ansprechen, aber nicht als Schwerpunkt seiner Rede. Das ist ja doch ein defensives Thema", sagt Plasser. Ein weiteres schwieriges Thema für den Parteichef ist, ob -oder eher: wie stark - sich in der ÖVP wie früher Flügelkämpfe zwischen Wirtschafts- und Arbeitnehmerbund auftun.

Nehammers "Ausrutscher"(Plasser) zum Thema Energiekonzerne sorgt im Wirtschaftsbund für erhöhten Puls. Einer ätzt im Hintergrund: "Kommt jetzt die Verspindeleggerung der ÖVP?" Gemeint ist damit, dass der frühere ÖVP-Chef Spindelegger, wie Nehammer ein ÖAAB-Mann, Sozial- und Steuerpolitik für "die Billa-Kassiererin", also Menschen mit geringeren Einkommen, machen wollte. Ein Wählersegment, in dem für die ÖVP nicht viel zu holen ist. Seinem Nachnachfolger Kurz hingegen wurde vorgeworfen, für die Großspender zu agieren. Nehammer müsse jetzt auf jene Menschen schauen, die unter der Inflation besonders leiden, sagt Hofer, gleichzeitig aber signalisieren, dass er viel für einen starken Wirtschaftsstandort tue. In der ÖVP mit ihrer Bündestruktur droht schnell einmal die Gefahr, "von den eigenen Anspruchsgruppen zerrissen zu werden".

Manch einen erinnert Nehammers Ausritt an Johanna Mikl-Leitners "Her mit dem Zaster, her mit der Marie"-Sager, als sie ÖAAB-Chefin wurde. Aber sogar Reinhold Mitterlehner, ein Vertreter des Wirtschaftsbundes, wurde in den eigenen Reihen "als bester Sozi in der ÖVP" gescholten. Die Leistung von Kurz war es, diese Parteikonflikte zuzudecken. Nun werden die Fliehkräfte wohl wieder zunehmen.

... die unangenehmen Parteifreunde

Weit unangenehmer als die Klientelinteressen der einzelnen Bünde könnten Nehammer die Befindlichkeiten seiner Landeshauptleute werden. Drei von ihnen wählen jedenfalls bis spätestens Frühjahr 2023: nämlich Mikl-Leitner in Niederösterreich, Günter Platter in Tirol und Wilfried Haslauer in Salzburg. (Kärnten wählt ebenfalls 2023, hier ist die ÖVP aber schon seit Jahren weit entfernt von Platz eins.) In allen Bundesländern zeichnen sich derzeit in Umfragen herbe Verluste ab. Und für diese wird wohl wie früher die Bundespartei verantwortlich gemacht werden, auch wenn die Länderchefs, etwa wegen ihrer schwachen Performance als Pandemiemanager, selbst für ihre Ergebnisse verantwortlich sind.

»Die ÖVP wird sich von der Episode unter Kurz langsam verabschieden und zu jenem Selbstbild zurückkehren, das sie über Jahrzehnte kennt und dem sich die Parteielite wohlfühlt: wenig riskieren, aber auch wenig gewinnen«

Was Nehammer da tun kann? Plasser: "Die ÖVP wird sich von der Episode unter Kurz langsam verabschieden und zu jenem Selbstbild zurückkehren, das sie über Jahrzehnte kennt und dem sich die Parteielite wohlfühlt: wenig riskieren, aber auch wenig gewinnen. In diese Richtung wird es gehen." Nehammer müsse zunächst einmal "die dramatischen Einbrüche in den Umfragen eindämmen und die ÖVP bei 23 bis 25 Prozent stabilisieren. Mehr sehe ich nicht für sie. Aber diese Konsolidierungsarbeit ist zu leisten", sagt Plasser. "Das ist die Voraussetzung dafür, dass man die erwartbaren Rückschläge bei den Landtagswahlen unter Kontrolle hält. Am Samstag kann er dafür die ersten Schritte setzen. Gelingt das nicht, haben wir nächstes Frühjahr eine dramatische Führungsdebatte in der ÖVP."

Thomas Hofer meint allerdings, Nehammer könne den Ländern dann auch etwas bieten. Er ist - auch durch persönliche Freundschaften -ein Verbinder zur SPÖ, zu der Kurz und Konsorten mit Inbrunst alle Brücken abbrechen wollten. "Und was wollen die Landeshauptleute? Sie wollen, dass die ÖVP auf Bundesebene an der Macht, also in der Regierung bleibt. Zur Not auch als kleinerer Koalitionspartner. Da kann Nehammer dann wieder der Richtige sein."

Was bleibt von Kurz?

Nicht einmal neun Monate ist es her, seit die ÖVP bei ihrem letzten Parteitag in St. Pölten Sebastian Kurz mit mehr als 99 Prozent der Delegiertenstimmen demonstrativ den Rücken stärkte. Ein paar Wochen später trat der Frontmann der Türkisen skandalgebeutelt zurück. Die ÖVP will nicht mehr sein wie Kurz - auch wenn sie in den letzten Wochen am Beispiel Vorarlberg zur Kenntnis nehmen musste, dass Skandal auch ohne ihn geht. Sie will gleichzeitig wenigstens ein bisschen sein wie der frühere Polit-Popstar Kurz. Und sie muss sein, wie Nehammer es nun vorgibt.

Noch einmal wird es für den früheren Chef in Graz Standing Ovations geben. Danach wird es schwierig, in Stimmung zu bleiben. Vor fünf Jahren, bei Kurz' erster Wahl, gab Peter L. Eppinger (auch so eine Kurz-Personalie) den Clown beim Parteitag. "Öffnen die Türen, lasst Luft herein", jauchzte er, als das türkise Hochamt zu Ende ging. Vielen war das eigentlich ein bissel peinlich. Aber: Die Aufbruchstimmung hätte man jetzt trotzdem gerne.

Dieser Artikel erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 19/2022.