Mikl-Leitner: "Die EU kann an der
Flüchtlingskrise scheitern"

News auf Österreich-Rundfahrt. Im ersten Teil der Landeshauptleute-Interviews erklärt Johanna Mikl-Leitner, warum man sich um die EU Sorgen machen muss, wie sie sich als Ex-Innenministerin nun bestätigt fühlt -und warum es für die Menschen wichtigere Themen als Flüchtlinge gibt

von Österreich-Rundfahrt - Mikl-Leitner: "Die EU kann an der
Flüchtlingskrise scheitern" © Bild: Ricardo Herrgott

News: Niederösterreich ist eine der Regionen, die am meisten vom EU-Beitritt profitiert haben. Nun ist Europa in der Krise. Fürchten Sie einen Zerfall der EU?
Johanna Mikl-Leitner: Wir sehen die EU weiter als große Chance, sie steht aber auch vor großen Herausforderungen. Österreich ist ein kleines Land auf einem kleinen Kontinent, der in Konkurrenz zu den USA und China steht. Es geht also darum, ein starkes gemeinsames Europa zu bauen.

Derzeit geht es in der EU vor allem um Flüchtlinge. Wird da die richtige Geschichte für Europa erzählt?
Es ist schon lange meine Meinung, dass Europa an der Flüchtlingskrise auch scheitern kann. Darum gibt es ja drei zentrale Themen für die EU-Präsidentschaft. Erstens: Schutz vor illegaler Migration. Zweitens: Intensivierung der Kontakte zu unseren Nachbarn, wo es darum geht, ob wir Instabilität vom Balkan importieren oder Sicherheit exportieren. Drittens: Gelingt es uns, den Wohlstand zu sichern? Das ist die größte Sorge der Menschen. Wenn man Zeitungen liest, glaubt man ja, es gibt nur das Flüchtlingsthema. Aber wenn man an den Menschen dran ist, weiß man, dass es andere Sorgen und Wünsche gibt. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass wir uns in Niederösterreich mit Arbeit, Gesundheit, öffentlichem Verkehr und Familie beschäftigen. Das sind Themen, die Menschen bewegen.

Das Flüchtlingsthema wird also überdimensioniert?
Es ist schon wichtig, aber es gibt auch andere Themen: etwa, dass sich Osteuropa immer mehr von Westeuropa entfernt. Staaten und Kontinente, die früher kooperiert haben, entfernen sich immer mehr. Daher ist es wichtig, Sicherheit in der Heimat zu geben.

© Ricardo Herrgott

Was heißt das: die EU könnte an der Flüchtlingsfrage scheitern?
Ich hoffe, dass bei der Ratspräsidentschaft wieder mehr Lösungskompetenz gezeigt wird und sich die Staaten wieder näherkommen, wie man es für ein starkes Europa braucht. Aber Europa wird sich auch an der Frage Afrika entscheiden: Gelingt es, Afrika mehr zu unterstützen, nicht finanziell, sondern nachhaltig -mit Hilfe zur Selbsthilfe? Indem wir etwa über die Europäische Zentralbank Risikokapital sicherstellen, damit viele bereit sind, dort zu investieren.

Österreich scheint in der Flüchtlingsfrage eher in der Rolle des Scharfmachers.
Es geht um eine realistische Sicht auf die Dinge. Die ganze Welt ist in Bewegung. Da werden Handelsbeziehungen aufgekündigt von den USA, Zölle werden in den Raum gestellt, in Deutschland gibt es große Probleme. Österreich ist gefordert, bei der Ratspräsidentschaft die Themen in die Hand zu nehmen. Wir waren immer betroffen von Migration, daher kommt es nicht von ungefähr, dass das ein zentraler Punkt ist.

Sie haben als Innenministerin die "Festung Europa" verlangt, sind heftig kritisiert worden. Heute wären Sie damit in der Mitte angelangt.
Vor vier Jahren war ich mit der Meinung noch allein auf weiter Flur -auch innerhalb der Regierung. Das hat sich jedenfalls jetzt gebessert. Viele meiner Positionen sind heute mehrheitsfähig. Ich habe schon im Juni 2014 in Mailand den Vorschlag gemacht, Hotspots außerhalb Europas aufzubauen, wo differenziert wird, wer Chancen auf Asyl in Europa hat. Damals wurde das kritisiert, heute wird es geprüft.

Das ist vier Jahre her...
Sie sagen es. Wenn es um Lösungen für Europa geht, braucht es einfach mehr Tempo. Dann wird auch das Vertrauen in die EU wieder wachsen.

Ist das, was CDU und CSU in Deutschland beschlossen haben, eine Lösung? Oder verstärkt es das Problem - vor allem in Österreich?
Es wiederholt sich die Geschichte. Deutschland versucht, das Problem wieder nach Österreich zu verlagern. Der Unterschied ist nur: Vor drei Jahren geschah das in vielen Bereichen noch in schöne Worte gehüllt. Und die Deutschen haben sich empört, als ich in der Regierung gegen viele Widerstände endlich den Grenzzaun durchgesetzt habe - womit wir das Ende der Balkanroute eingeleitet haben. Heute wird endlich offen gesagt, dass die Migration gestoppt werden soll - und zwar zulasten Österreichs. Das darf Österreich natürlich nicht akzeptieren.

Ein anderer "Sager" von Ihnen vor Ihrer Wahl zur ÖAAB-Chefin: "Her mit dem Zaster, her mit der Marie." Stehen Sie noch zum Inhalt Umverteilung zu den Arbeitnehmern?
Ich würde das heute anders formulieren. Zweitens habe ich damals direkt die Börsenspekulanten angesprochen, das wird gerne unterschlagen. Drittens: Mir ist die Entlastung der Arbeitnehmer immer wichtig gewesen. Ich glaube, da ist der Regierung mit dem Familienbonus ein großer Wurf gelungen.

In Westösterreich sind ÖAAB-Funktionäre nicht so zufrieden. Da gibt es Kritik an Mindestsicherung, Zwölfstundentag
Es ist wichtig, im Auge zu haben, dass es einen deutlichen Unterschied geben muss zwischen dem Erwerbseinkommen und dem Einkommen aus Sozialleistungen. Das ist jetzt bei der Mindestsicherung gegeben. Niederösterreich hat gefordert, dass es eine österreichweite Lösung geben soll, die dem Prinzip folgt: Wer arbeitet und etwas leistet, darf nicht der Dumme sein.

Es gibt den Vorwurf, die Regierung mache ein Programm für Unternehmer.
Der Familienbonus ist eine klare Maßnahme für die Familien. Und die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine Win-winSituation für Unternehmer, aber vor allem für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die Gewerkschaft sieht da kein Win-win.
Schauen wir doch in den Pflegebereich, wo viele zehn bis zwölf Stunden arbeiten, oder zur Polizei, zu den Lkw-Fahrern. Oder jenen, die im Ausland auf Montage sind. Viele profitieren von der neuen Regelung, wo man sich früher durchschwindeln musste. Dieser Graubereich wird nun bereinigt -auf Basis der Freiwilligkeit. Davon profitieren alle.

Und die Supermarkt-Kassiererin, die zwölf Stunden arbeitet, eine halbe Stunde Pause kommt dazu, und dann heimpendelt?
Die Freiwilligkeit ist der entscheidende Punkt. Und in Zeiten, wo wir einen Arbeitskräftemangel haben, ist ohnehin jeder Unternehmer gut beraten, wenn er über eine derartige Regelung gemeinsam mit den Arbeitnehmern entscheidet.

»Vor vier Jahren war ich mit meiner Meinung noch allein auf weiter Flur«

Was sagen denn die Leute dazu, die Sie im Land treffen?
Die sehen diese Flexibilisierung positiv. Manche, die einer anderen politischen Familie angehören, sagen mir hinter vorgehaltener Hand: Gott sei Dank, dass es das jetzt gibt.

FPÖ-Chef Strache dürfte von seinen Anhängern weniger Lob bekommen, wenn man auf Facebook schaut.
Hundert Prozent Zufriedenheit wird es nie geben. Aber Umfragen zeigen, dass die Regierung Schritte setzt, die bei der Bevölkerung ankommen. Aber ich bin ja nicht die Verteidigerin der Bundesregierung. Nur glaube ich: Diese Regierung hat eine echte Chance verdient.

Ist eine österreichweite Vorgabe bei der Mindestsicherung nicht eine Bevormundung der Länder?
Wir haben uns darauf geeinigt, dass es diese Lösung geben soll, damit der Mindestsicherungstourismus ein Ende hat. In welchem gesetzlichen Regulativ das stattfindet, ist nicht die zentrale Frage.

Früher hätten Landeshauptleute nicht so bereitwillig Kompetenzen abgegeben.
Den Menschen ist es nicht wichtig, wer was macht. Entscheidend ist, dass wir schnell und flexibel agieren können. Im Großteil der Fälle braucht es flexible Gesetze mit Umsetzungsspielraum. Da bist du auf Landesebene einfach schneller und punktgenauer.

Fürchten Sie sich eigentlich vor Josef Moser?
Ich schätze ihn.

Er soll die Kompetenzen von Bund und Ländern bereinigen. Viel hört man nicht davon.
Ich bin in Kontakt mit ihm. Ich bin die Erste, mit der man darüber diskutieren kann. Man kann mit Hausverstand und Vernunft entscheiden, was klug ist und was nicht.

Welche Kompetenz würden Sie an den Bund abgeben. Was können Länder besser?
Denkmalschutz könnte man sehr gut in die Kompetenz der Länder geben. Auch den gesamten Kulturbereich mit Ausnahme der Bundestheater und -institutionen kann man direkt an die Länder geben.

Wie schnell kann das gehen?
Ich bin bereit. Bei der letzten LH-Konferenz haben wir schon einiges zustande gebracht. Daran muss man weiter arbeiten.

Ebenfalls um Länderinteressen geht es bei der Krankenkassenreform. Da wird es eigene Verrechnungskreise für die Länder geben. Also ändert sich eh nicht viel?
Es gibt schon veritable Unterschiede. Vorher waren es 23 Kassen, jetzt fünf. Es ist gut, dass die Leistungen, die beim Bürger ankommen, harmonisiert werden, das Backoffice ist den Leuten nicht wichtig. Der nächste Schritt muss die Finanzierung des Gesundheitssystems aus einer Hand sein.

Davon redet man schon lange. Wann ist es so weit?
Wir sind bereit.

Kommt dann auch die bundeseinheitliche Spitalsplanung?
Dagegen wehrten sich die Länder immer. Es gibt ja eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Ich denke hier an den regionalen Strukturplan, wo jedes Bundesland verpflichtet ist, ihn bis Ende des Jahres auf den Weg zu bringen. Der wird dann abgestimmt zwischen Strukturkommission und Ländern. Ich sage aber auch ganz klar, dass es ein Bundesgesetz gibt, was die wohnortnahe Erreichbarkeit von Krankenhäusern betrifft. Und dazu braucht Niederösterreich 27 Standorte.

Spitäler in Mödling und Baden, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, gelten als Musterbeispiel fragwürdiger Standortplanung.
Ich habe noch nie die Kritik gehört, dass in Wien das Goldene Kreuz ums Eck vom AKH ist.

Das ist eine Privatklinik.
Da gibt es jedenfalls vier, fünf Krankenhäuser innerhalb einer kleinen Fläche. In den Bezirken Baden und Mödling leben mehr als eine Viertelmillion Menschen. Da sind zwei Kliniken mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen richtig.

»Die Deutschen haben sich empört, als ich den Grenzzaun durchgesetzt habe«

Zu wenig Versorgung gibt es an manchen Orten durch den Landarzt. Was passiert da?
Wir haben in Niederösterreich 770 Ordinationen, davon waren zuletzt fünf nicht besetzt. Wir haben ein Konzept entwickelt, um die Versorgung mit praktischen Ärzten direkt aus Kliniken zu garantieren. Außerdem schaffen wir Anreize bei der Modernisierung von Praxen, die schon länger nicht besetzt sind. Aber es gehört sicher auch die Tarifgestaltung dazu. Ich kann mir vorstellen, dass man ein Mindesteinkommen festlegt, das den Ärzten garantiert wird.

Die Regierung hat eine Debatte über die Zerschlagung der AUVA und eine drohende Schließung von Unfallspitälern ausgelöst. Das hätte Niederösterreich betroffen. War das klug?
Also, erstens werden Arbeitsunfälle bei uns direkt in den Kliniken betreut, weil wir gute Unfallambulanzen haben. Zweitens zähle ich auf das Versprechen der Bundesregierung, dass die Leistungen der AUVA bestehen bleiben.

Und wenn das bedeuten würden, dass die Länder zahlen müssen? Derzeit finanziert die AUVA Leistungen, für die sie nicht zuständig ist.
Eine Verlagerung der Kosten kommt nicht infrage. Wenn es eine Umorganisation gibt, muss der Bund dafür zahlen.

Nach Niederösterreich: FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl sorgt für Aufregung. War er die Revanche der FPÖ, weil Sie nach der Liederbuchaffäre die Kooperation mit Udo Landbauer verweigert haben?
Ich bin nicht mit allen Aussagen des Herrn Waldhäusl glücklich. Aber entscheidend sind die Ergebnisse. Mir war es wichtig, mit allen Regierungsparteien Arbeitsübereinkommen zu schließen.

Und es ist auch erstmals gelungen, dass alle drei Parteien in der Regierung dem Budget zustimmen. Und die Ausrutscher Waldhäusls, der Migranten mit Tieren vergleicht, sind diesen Preis wert?
Ich erwarte mir eine verantwortungsvolle Sprache. Menschen mit Tieren zu vergleichen, davon halte ich nichts.

Wie darf man sich das vorstellen: Kopfwäsche in der Regierungssitzung?
Es hat ein Gespräch gegeben, selbstverständlich.

Noch ein Problem mit der FPÖ: Es heißt, die BVT- Razzia habe sich auch gegen die ÖVP-NÖ-Fraktion im Innenministerium gerichtet.
Ich kenne das nur aus den Zeitungen. Ich erwarte mir jedenfalls eines: dass die Justiz das ohne Druck von außen rasch aufklärt.

Auch Ihr ehemaliger Kabinettschef ist betroffen.
Ich kann sagen, dass gerade das BMI sehr gute Mitarbeiter hat, die sich in schwierigen Zeiten der Flüchtlingskrise oder bei Terrorlagen nationales und internationales Renommee erarbeitet haben.

Das jetzt verloren geht?
Hier wird viel Porzellan zerschlagen. Daher braucht es die rasche Klärung der Justiz. Die Mitarbeiter haben das verdient.

Zu Ihrem Programm: Was sind die "Leuchttürme"?
Eines meiner Ziele ist, Niederösterreich zu einem Smart Country zu machen. Dazu haben wir eine 3-D-Strategie: Digitalisierung, Dezentralisierung, Deregulierung.

Wie merkt das ein normaler Mensch im Weinviertel?
Jeder hat noch die Übersiedlung der Landesregierung von Wien nach St. Pölten in Erinnerung. Damals war die Zentralisierung wichtig. Jetzt gehen wir aufgrund der modernen Technologie den Weg der Dezentralisierung. 500 Arbeitsplätze sollen in die Regionen verlagert werden, um den Mitarbeitern den Weg nach St. Pölten zu ersparen. Das soll auch eine Motivation für Unternehmen sein, das Gleiche zu tun.

Das könnte das Pendleraufkommen verringern. Die Wiener Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou hat eine Citymaut gefordert, dann wurde das 365-Euro-Ticket für die Ostregion diskutiert. Sie sind skeptisch, warum?
Ich bin realistisch. So etwas geht in Wien, wo alle Menschen etwa die gleichen Distanzen zurücklegen und das mit U-Bahn-Steuer, Parkpickerl und Park-and-Ride-Gebühren finanziert wird. In einem Flächenbundesland brauchen wir schnelle Verbindungen über große Distanzen, die Anbindung des Individualverkehrs an den öffentlichen, Anbindung kleiner Gemeinden an Bezirkshauptstädte und an Wien.

Klingt nicht nach einer schnellen Lösung.
Die Herausforderung ist, dass Wien immer weniger Brückenkopf, sondern Flaschenhals wird. Darum brauchen wir eine gemeinsame Strategie: Bahnsteige verlängern, U-Bahn-Linien verlängern und eine dritte Stammstrecke durch Wien. Entscheidend zur Entlastung ist auch der Lobautunnel, wo es jetzt das Okay der Gerichte gibt.

Studien sagen: Mehr Straße bringt auch mehr Verkehr.
Da haben manche Grüne noch nicht ganz verstanden, dass der Lobautunnel eine Entlastung Wiens bringen kann.

Zur Macht der Landeshauptleute: Ist die geringer, seit Kurz sich Minister unabhängig von den Ländern gesucht hat? Man hört, Minister müssen nicht mehr bei ihren Länderchefs nachfragen, wo sie zustimmen dürfen.
Mir ist nicht bekannt, dass ein Minister je im Land gefragt hat, ob er zustimmen soll oder nicht. Ich halte mich an das, was ich in Niederösterreich praktiziere: ein Miteinander in der Regierung. Das gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Land.

Wenn Sie etwas wollen, rufen Sie Kurz jetzt direkt an?
Selbstverständlich. Das direkte Gespräch ist immer besser als Grüße über die Medien.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Printausgabe Nr. 27/18
Lesen Sie Teil 2 unserer "Österreich-Rundfahrt" in der News Ausgabe Nr. 28/18. "Günther Platter - Der Hardliner"

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