Novalis war
kein Nazi-Dichter

Literatur verdient es, gegen Übergriffe in Schutz genommen zu werden.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Große und auch nicht so große Literatur verdient es, gegen Übergriffe in Schutz genommen zu werden. Deshalb habe ich mich gegen Manipulationen an der (schwachen) Bundeshymne ebenso erklärt wie gegen Veränderungen an Astrid Lindgrens weltliterarischer "Pippi Langstrumpf". Deren Vater darf nicht mehr "Negerkönig" heißen, und das hat auch die große Christine Nöstlinger empört: Trägheit oder Unfähigkeit, seinen Kindern etwas zu erklären, legitimieren keine Zensur. Nun las man jüngst, die Burschenschaft Bruna Sudetia, die innerhalb meiner Sympathieskala nur unwesentlich über der Grippe ressortiert, habe die erste Zeile eines Naziliedes online gestellt. Die Zeile lautet "Wenn alle untreu werden" und steht für den Missbrauch großer Literatur. Geschaffen hat sie 1802 der Frühromantiker Novalis, Adressat ist Jesus: "Wenn alle untreu werden,/So bleib' ich dir doch treu;/ Dass Dankbarkeit auf Erden/Nicht ausgestorben sei./Für mich umfing dich Leiden,/ Vergingst für mich in Schmerz;/ Drum geb' ich dir mit Freuden/Auf ewig dieses Herz." Wenig später formte Max von Schenkendorf daraus ein Lied im Geist der Befreiungskriege gegen Napoleon. Diesen Text übernahm später die SS. Nun schließe ich aus, dass die Bruna Sudetia theologischen Erwägungen gefolgt sein könnte. Aber weder der geniale Novalis noch der tüchtige Schenkendorf haben es verdient, Nazi-Dichter genannt zu werden.

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