Nie wieder russischen Kaviar

Wie der Krieg unseren Alltag verändert

von Ukraine Fahne © Bild: iStockphoto.com/Serhii Ivashchuk

Herr Josef, wo ist denn diese russische Puppe in der Glasvitrine? Die war doch immer dort", fragte ein Gast am Nebentisch den Ober in einem Café in einem Wiener Außenbezirk - das sind die Bezirke außerhalb des Gürtels.

"Die hamma weggeräumt, der Herr Kommerzialrat, sie wissen ja, der mit dem Spielzeuggeschäft, also, das er früher gehabt hat, der hat sich aufgeregt, dabei hat er sie selber mitgebracht aus Moskau damals, aber jetzt sollen wir sie wegräumen, wegen der Solidarität, hat er gemeint", antwortete der Herr Josef, während er zwei Tassen Kaffee auf kleinen Tabletts mit einem Glas Wasser auf unseren Tisch stellte.

"Na ja, da hat er nicht ganz unrecht", sagte mein Freund Sepp, der mit mir am Tisch saß. Ich treffe ihn jeden Dienstag Nachmittag hier, kenne ihn seit meiner Schulzeit. Sein blaugestreiftes Hemd hat bessere Tage erlebt. Er trägt eine Weste darüber, eine gestreifte Krawatte und ein wollenes Sakko. Ich hab ihn seit Jahren in keiner anderen Kleidung gesehen.
Matrjoschka "Wie meinst du das?", fragte ich ihn. "Na wenn du dir anschaust, was da in der Ukraine passiert", sagte Sepp.
"Und was hat das mit der Puppe zu tun? Matrjoschka heißen sie übrigens", fragte ich. Sepp verzog seine Schultern, antwortete jedoch nicht.

"Der Herr Kommerzialrat hat gemeint, wir müssen jetzt die Ukrainer unterstützen. Er hat sogar ein paar Kisten Spielzeug aus dem alten Lager gespendet", sagte der Herr Josef und stellte den Zuckerstreuer auf unseren Tisch. Sepp nickte nur. In der Glasvitrine standen noch andere Souvenirs, an den Schiebefenstern waren Ansichtskarten angeklebt. Es gehörte einst zur Tradition, dass Gäste Karten schickten oder Andenken mitbrachten. Das war lange her. Jetzt verstaubten die Mitbringsel, und die Karten fielen immer wieder zu Boden, weil die Klebestreifen sie nicht mehr halten konnten.

"Und in den Supermarkt in der Märzstraße mit den russischen Spezialitäten, gehst du dort noch hin? Du magst doch diese gefüllte Teigtaschen", fragte ich ihn.
"Die Pelmeni und die Piroschki, nein, dort geh ich nicht mehr hin, da schauen alle bös in der Umgebung, wenn ich das Geschäft betrete, jetzt kauf ich halt die Ravioli beim Billa, die in der Dose, ist eh fast das gleiche, russischen Kaviar würd ich auch nicht mehr essen", sagte Sepp.
"Seit wann isst du Kaviar?", fragte ich. Sepp lachte und sagte: "Ich mein ja nur, wenn eine, die da drüben zum Beispiel, mich zum Kaviarfrühstück einladen würde, der dürfte nicht aus Russland sein!"

Piroschki

"Wenn du willst, hol ich dir diese Piroschki, mir ist das egal, ich finde den ganzen Boykott lächerlich", sagte ich, nahm meine Kaffeetasse und trank einen Schluck.
"Kommt nicht in Frage!", sagte Sepp, lauter werdend und erregt. "Wie kannst du das sagen, wir müssen jetzt zu den Ukrainern halten, der Putin ist doch ein Verbrecher!"
"Ja, das stimmt schon, aber was hat das mit deinen Piroschki zu tun, und der Matrjoschka hier?", fragte ich. "Für mich ist das symbolisch", sagte Sepp. "Ich weiche allem aus, was aus Russland kommt, das bin ich den Ukrainern schuldig."

Wir schwiegen eine Weile. Dann fragte ich ihn nach einem chinesischen Restaurant, das er mir empfohlen hatte, weil die Peking-Ente dort so gut sei. Er war froh, dass wir das Thema änderten und antwortete: "Am Naschmarkt, Rechte Wienzeile, da musst du hingehen, die haben die beste Ente!"

"Ich weiß nicht ", sagte ich zögernd. "Versuch erst gar kein anderes Lokal!", unterbrach er mich.
"Ja, aber was ist mit den Uiguren, das ist auch nicht so ohne ", sagte ich. Sepp wartete eine Weile und fragte: "Was für Uiguren?"
"Die leben im Nordosten von China, sind Muslime und werden in Lagern eingesperrt, dürfen ihre Religion nicht ausüben", antwortete ich.

"Und jetzt soll nie wieder in ein chinesisches Restaurant gehen? Du machst dich lustig über mich", sagte Sepp. "Und der ganze Terror wegen Covid in Shanghai, wo sie alle einsperren und ihre Hunde töten!" Ich nahm die Zeitung vom Sessel, die ich gelesen hatte, bevor er kam, und zeigte ihm ein Foto.
"Jetzt hör doch auf!", sagte Sepp erbost. "Das kannst du doch nicht vergleichen mit der Ukraine!"

Solidarität

"Ich vergleiche es nicht, aber warum verdienen die nicht deine Solidarität, du kannst übrigens auch nicht mehr indisch essen wegen Kaschmir, und Winter in Florida geht auch nicht mehr wegen der Gesetze gegen Homosexuelle, deine Reise nach Burma kannst stornieren, dann ist noch Krieg im Jemen, der Terror im Iran, ich würd eine Liste schreiben, dass du auch ja keinen Fehler machst", sagte ich. Sepp schwieg wieder.
"Voriges Jahr hast du eine Rundreise durch die Türkei gemacht, und das bei Erdoğan, der praktisch die Demokratie dort beendet hat", sagte ich. "Was soll ich denn machen?" Sepp brauste auf. "Du weißt doch, dass ich alleine bin, so mach ich halt Rundreisen!"

"Und warum Türkei und nicht Italien?", fragte ich. "Italien, dort war ich schon zwanzigmal", sagte Sepp. Wir lachten beide, dann sagte ich: "Du hast sicher Karten für die nächste Fußball-WM in Katar, du warst doch in Russland bei der letzten WM?"
"Ich weiß es nicht, bin in der Lotterie für Karten, hoffentlich gewinne ich welche", antwortete er. "Dort fährst du hin, wo die Arbeiter, die die Stadien gebaut haben, wie Sklaven behandelt wurden", sagte ich.

"Du gehst mir auf die Nerven", sagte Sepp. "Vielleicht hätte der Kommerzialrat besser sein Spielzeug nach Jemen schicken sollen?"
"Ist seine Entscheidung, wer es halt seiner Meinung nach eher verdient", sagte ich.
"Verdient, darum geht's doch nicht, ich überleg mir sogar, eine Familie aufzunehmen, hab eh so viel Platz und will einfach helfen", sagte er leise mehr zu sich selbst. Wir schwiegen eine Weile und tranken den Kaffee.

"Gleich neben deinem Wohnhaus ist doch das Altersheim?", fragte ich. Er nickte und sagte lachend, dass er es nicht weit habe, wenn es einmal so weit sein sollte. "Auf dem Weg hier her sah ich einen Zettel im Kasten neben dem Eingang, man sucht Freiwillige, die den Bewohnern vorlesen, warum machst du nicht das?", fragte ich ihn.
"Vorlesen? Warum soll ich vorlesen?", antwortete er verwundert.
"Weil sie vielleicht alt und gebrechlich sind, sich keiner um sie kümmert, sie ein Leben lang geschuftet haben, das Land nach dem Krieg aufzubauen, in dem du eine großzügige Pension kassierst?" Er schwieg wieder.
"Ich verstehe diese Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Umgebung nicht, einsame Pensionisten, Familien mit mehreren Kindern, aber bei der Ukraine entdeckt plötzlich jeder seine Hilfsbereitschaft", sagte ich.

Widerstand

Sepp lächelte wieder und sagte: "Es hat keine Logik, wenn du versuchst, es zu verstehen, wirst du scheitern, wir suchen uns aus, wo wir helfen, nicht, was uns nur emotional, sondern auch rational erreicht, es ist unser Geld, unsere Zeit, also können wir entscheiden, wie wir es verteilen", sagte Sepp.
"Also ist Helfen völlig zufällig und willkürlich?", fragte ich.

Er überlegte kurz und sagte: "Ja und nein, zufällig ist es nicht, es geht um Opfer, die Hilfe brauchen, willkürlich schon, bei der Auswahl der eigenen Hilfsbereitschaft, denn es geht um Anerkennung, die man dafür erwartet, es sollte einem gut gehen dabei, es geht um Stolz und ein wohliges Gefühl wie ein warmer Kaschmirschal um den Hals."
"So nüchtern kenn ich dich gar nicht", antwortete ich. Sepp lächelte und sagte: "Es verstärkt sich als Kollektiv, wie hier im Café, wenn alle fordern, dass die russische Puppe weg muss, vereint es uns als eine Gruppe von Aufrichtigen."

"Und warum machst du mit?", fragte ich. Sepp grinste wieder und sagte: "Ich bin auch nicht anders, ich fühle mich gut dabei. Wenn ich im Altersheim vorlese, fehlt dieses Erlebnis, wen soll ich damit beeindrucken? Die Dankbarkeit der Opfer ist nur die halbe Sache, wir brauchen den Applaus, nehme ich eine ukrainische Familie auf, werde ich respektiert, es geht um Beifall und Anerkennung, wir wollen bewundert werden als gute Menschen, wofür bekomme ich sonst noch Lob von irgend jemandem?"