Endlich Deutschland

Reportage einer Flucht

von Endlich Deutschland © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Der Himmel über der ungarischen Stadt Bicske ist grau. Kleine, schmutzige Ziegelhäuser stehen entlang der Straße. In den Vorgärten wuchert Unkraut. An diesem Samstagnachmittag stehen die Anwohner vor ihren Häusern und reichen den Fremden Wasserflaschen, Äpfel, Birnen. Samia Al Shagri, 28, nimmt nichts davon. Ihr Blick ist starr geradeaus gerichtet. Ihre Augenringe verraten, dass sie lange nicht mehr gut geschlafen hat. "Yalla Yalla" -"schneller, schneller!" - brüllt jemand aus der Gruppe. Von hinten drängt die Polizei. Der 26-jährige Mohamed Bakkar humpelt schneller hinter seiner Frau her und keucht vor Schmerzen. Das Bein hatte er sich zwar schon in Syrien gebrochen, doch Polizisten hätten ihn gestern so heftig geschlagen, dass er es jetzt kaum noch bewegen kann. Sein Schwager zieht ihn zeitweise mit. Der heißt auch Mohamed, ist auch 26 Jahre. Er trägt den kleinen Husam, den acht Monate alten Sohn von Samia, in einer Babytasche. Das Kind brabbelt vor sich hin. Die Familie ist Teil einer Gruppe von etwa hundert Flüchtlingen, die sich vom Auffanglager in Bicske zu Fuß in Richtung Westen aufgemacht haben. Sie kommen aus Syrien, wie fast alle hier. Ungarn war für sie nur eine Station auf der Reise. Jetzt müssen sie es über die Grenze schaffen. Der Weg durch das Wohngebiet biegt scharf nach rechts ab. Die Vorderen im Flüchtlingstreck pfeifen. Dann jubeln alle. Sie haben den Bahnhof erreicht, von wo aus sie nach Deutschland fahren wollen.

In der vergangenen Woche ist ein Video um die Welt gegangen. Darauf zu sehen: Familie Bakkar. Die "New York Times" zeigte den Film auf ihrer Onlineseite, die englische "Sun" publizierte Ausschnitte davon in ihrem Blatt, die deutsche "Bild- Zeitung" titelte dazu "Ungarische Polizisten prügeln auf Flüchtlinge ein", und viele heimische Medien hatten das Foto auf Seite eins. Die Kleinfamilie hatte in dem Zug gesessen, den die Polizei in Bicske, etwa 40 Kilometer westlich von Budapest, tags zuvor gestoppt hatte. Als die Beamten die Flüchtlinge in ein Lager bringen wollten, wurde Mohamed Bakkar sauer. Seine Frau erzählt, dass ein Polizist gedroht habe, sie und das Kind zurück nach Syrien zu schicken. In diesem Moment sei ihr Ehemann ausgerastet. Er habe sie und den Sohn gepackt, auf die Gleise geworfen und immer wieder geschrien: "Entweder wir sterben hier zusammen, oder wir leben zusammen." Die Polizisten rissen ihn los und nahmen in fest. Auch Samia und das Baby wurden auf die Wache gebracht. Die Beamten registrierten ihre Namen und nahmen die Fingerabdrücke. Dagegen hatten sie sich gewehrt, doch es half nichts. Erst danach durften sie zurück in ein Camp.

»Entweder wir sterben hier zusammen, oder wir leben zusammen.«

Zwei Tage später wartet Familie Bakkar wieder am Bahnhof in Bicske auf einen Zug. Es dauert eine Stunde, bis der einfährt. Die Türen fliegen auf, die Menschen strömen ins Innere. Ungarische Fahrgäste schauen sich ängstlich um, ziehen ihre Taschen enger an sich und halten sich die Nase zu. Samia und ihre Familie finden einen Viererplatz. Sie lassen sich in die Sessel fallen. Wohin der Zug fährt, weiß niemand. Hauptsache weg und Richtung Westen.

Die Mutter füllt Trinkwasser in eine Babyflasche und häuft Milchpulver dazu. Endlich kann sie ihren Sohn in Ruhe füttern. Mohamed Bakkar kramt Dosen mit Zitronenlimo aus dem Rucksack und bietet allen Bananen und Kekse an. Jeder beginnt von sich zu erzählen. Samia Al Shagri redet über Aleppo. Sie besaß einen Frisörsalon in der Altstadt mit sechs Mitarbeitern. Doch als der Krieg kam, musste sie schließen. Ihr Ehemann hatte einen Job im Staatsdienst, den er nicht länger mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, weshalb er sich auch zur Flucht entschloss. Was genau er machte, will er nicht sagen. Mohamed Bakkar ist ein dicklicher, gedrungener Mann mit breiten Schultern und festen Oberarmen. Sein Blick ist meistens grimmig. Er ist der Bodyguard der Familie, einer, der immer zum Angriff bereit ist, wenn jemand seinen Lieben zu nahe kommt. Als vor acht Monaten eine Bombe in die Wohnung der Familie fliegt, beschließt er endgültig, mit Frau und Kind zu fliehen. Erst zum Onkel in der Nachbarschaft, dann zu Fuß über die Grenze in die Türkei. Fünf Tage und Nächte hat das gedauert.

Ein Bahnmitarbeiter macht eine Durchsage auf Ungarisch, und mit einem Mal ist es still. Alle schauen sich panisch um. Jeder packt seine Sachen hektisch zusammen. Ist das die Endstation? Mohamed setzt sein Kapperl auf und strahlt damit die Stärke eines Gangsterrappers aus. Der Zug bleibt stehen. Polizisten betreten den Waggon. "Alle raus", brüllen sie auf Englisch. Am Bahnsteig hat sich ein Tross von Flüchtlingen gebildet. Immer mehr Menschen strömen aus dem Zug und von anderen Seiten des Bahnhofs zusammen. Jeder folgt seinem Vordermann, ohne zu wissen, ob der den Weg kennt. Auf der Brücke, die zum anderen Gleis führt, wird es enger. Schulter an Schulter schleichen die Menschen. Die Kinder weinen, weil sie in dem Gedränge Angst bekommen. Unten wartet ein neuer Zug. Die Polizei winkt die Fremden hinein. Erneut fahren sie ins Unbekannte. Der Zug ist voll. Männer stehen sich am Gang auf den Füßen, Frauen und Kinder hocken am Boden. Es riecht beißend nach Schweiß und Erbrochenem. "Normalerweise sind Syrier saubere Menschen, aber normalerweise schlafen sie auch nicht auf der Straße", sagt Samia.

Seit im Nahen Osten auf Revolutionen Bürgerkriege folgten und darauf eine Terrorherrschaft, sind mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Wie Familie Bakkar haben viele versucht, so lange wie möglich in ihrer Heimat auszuharren. Doch die Hoffnung auf Frieden ist erloschen. Im Gegensatz dazu sehen sie auf Facebook die glücklichen Bilder von Verwandten, die in Europa angekommen sind. So lässt sich erklären, warum heuer derart viele Flüchtlinge im Westen ankommen.

Mit einem Quietschen kommt der Zug im ungarischen Györ zum Stehen. Die Menschen drängen raus an die frische Luft. Wieder nimmt sie eine Horde an Uniformierten am Bahngleis in Empfang. Dieses Mal stehen sie untätig rum, ohne den Tross weiterzuleiten. Niemand kennt sich aus. Also bleiben einige Flüchtlinge stehen und andere preschen durch die Unterführung zum gegenüberliegenden Bahngleis.

Dann heißt es warten. Niemand weiß, wie lange, niemand gibt Auskunft. Langsam wird es dunkel, und mit einem Mal ist es kalt. Samia kauert auf einer Bank und kuschelt ihr Baby in eine Decke, die sie in Budapest geschenkt bekommen hat. Die Männer sitzen am Boden. Der Bahnsteig füllt sich, aus anderen Zügen strömen noch mehr Flüchtlinge. Bei jeder Durchsage werden sie hellhörig, um wenigstens die Stadt verstehen zu können. Der Wechsel von großer Langeweile zu extremer Spannung zermürbt -es dauert Stunden, bis etwas passiert: Endlich fährt ein Zug ein. Der fährt nach Wien. Alle springen auf, drängeln sich so nah wie möglich an den Bahnsteig. Der Zug bleibt stehen, die Menschen kämpfen sich ihren Weg hinein. Sie stoßen, zerren, hauen. Die Kinder schreien. Die Mütter kreischen. Mohamed packt einen Drängler an seinem Nacken, reißt ihn nach hinten und beschimpft ihn auf Arabisch. Es hilft nichts, der Waggon ist längst voll. Die Familie rennt zu einer anderen Tür. Mohamed schafft es hinein und zieht seine Frau und den Schwager mit dem Baby hinauf. Die Tür schließt, der Zug fährt ab. Am Bahnsteig bleiben Verzweifelte zurück.

Mohamed findet einen Sitzplatz für seine Familie. Zwei amerikanische Touristen, die aus Versehen in den Zug hineingeraten sind, halten sich Taschentücher vor die Nase, weil sie den Gestank nicht ertragen. Die Männer hängen müde übereinander, und Samia schunkelt ihr Baby in den Schlaf.

Der Zug nach Wien fährt um kurz nach 22 Uhr am Westbahnhof ein. Das Leben kehrt in die müden Menschen zurück. Sie schauen aus dem Fenster, hören, wie die Helfer draußen klatschen. Sie sehen die Plakate, auf denen "Welcome Refugees" steht. Samia hat eine Gänsehaut. Sie kann es kaum fassen, dass sie und die anderen so herzlich empfangen werden. "Ist der Albtraum dieser Reise tatsächlich zu Ende?"

7.000 Euro hatte Mohamed Bakkar für die Flucht seiner Familie gezahlt. Im Vergleich zu dem, was andere ausgeben müssen, ist das wenig Geld. Geld für eine Reise, die aus endlosen Tagen und Nächten bestand. Aus stundenlangen Fußmärschen und lebensgefährlichen Fahrten in Lastwagen, von Schleppern organisiert. Sie schliefen in Wäldern und wuschen sich in öffentlichen Toiletten. Am Budapester Bahnhof saßen sie eine Woche fest. Und schließlich die Ungewissheit, es vielleicht doch nicht ans Ziel zu schaffen - nach Deutschland.

»Ist der Albtraum dieser langen Reise jetzt tatsächlich zu Ende?«

Als der Zug in Wien zum Stehen kommt, steigen zwei Dolmetscherinnen in den Waggon. Auf Arabisch heißen sie alle willkommen und informieren, dass der Zug nach Deutschland erst am nächsten Morgen weiterfährt. Raunen geht durch den Zug. Sind sie hier in Sicherheit? Können sie den Frauen vertrauen? Fast niemand hier hat schon einmal von dem Land Österreich gehört. Doch spätestens als Familie Bakkar und die anderen Flüchtlinge sich ihren Weg durch die applaudierenden Helfer bahnen, schöpfen sie Hoffnung. Hoffnung auf eine bessere Welt. Sie verbringen die Nacht in einer Notunterkunft neben dem Westbahnhof.

Der neue Tag beginnt im Dämmerlicht. Um halb sieben steht die Familie wieder am Bahnsteig. Als sie in den Zug nach München einsteigen, winkt Mohamed einem ÖBB-Mitarbeiter: "Welcome", sagt er, weil er glaubt, dass sich die Menschen in Österreich so begrüßen. Der Zug fährt entlang einer Kulisse, die aus einer Milka-Werbung stammen könnte: grüne Wiesen, auf denen Kühe wiederkäuen. Kaum einer schaut hinaus. Alle schlafen. Im breitesten Bayrisch verkündet ein Bahnmitarbeiter die Einfahrt in München. Samia klebt am Fenster. "Is this Germany?" Die Polizei nimmt die Ankommenden in Empfang. Niemand von ihnen spricht Arabisch, aber die Beamten lächeln jeden herzlich an und hoffen, dass auch das beruhigend wirkt. Vom Hauptbahnhof in München geht es für die Flüchtlinge in Bussen weiter zu einer ersten Notunterkunft. Wie in Wien sind auch hier Freiwillige zur Höchstform aufgelaufen und haben innerhalb weniger Stunden eine kleine Oase für die Ankommenden geschaffen: Essen, Trinken, Ruhen und vor allem medizinische Versorgung. Die Ärzte behandeln im Akkord wund gelaufene Füße, Platzwunden, Kreislaufschwächen. Meist helfen Pflaster und Vitamine. Was sie auf die Schnelle nicht behandeln können, sind die psychischen Probleme. Die Ernsthaftigkeit im Blick der Kinder. Die kalten Augen der Frauen. Was sie erlebt haben, lässt sich nicht so leicht heilen. Samia kommt mit einem breiten Grinsen vom Arzt - im vierten Monat schwanger. Sie sagt: "Mit dem Baby ist alles okay."

Erst am Abend geht die Fahrt weiter. Ein Reisebus bringt Familie Bakkar zu einem Erstaufnahmelager im oberpfälzischen Wiesau. In einer Turnhalle werden sie die nächsten sechs Wochen verbringen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Blickdichte Planen sollen die Neuankömmlinge von den Schülern trennen, deren Sommerferien am Dienstag enden und die dann nebenan in die Berufsschule gehen. Aber der Bürgermeister hat schon angekündigt, dass es integrative Projekte geben soll. Organisiert von der Schule und der Kirche.

Am ersten Morgen im neuen Übergangszuhause wäscht Samia die Wäsche. Dann frühstücken sie Marmeladenbrote und trinken Tee. Frisch geduscht erkunden Mohamed, Samia und Husam am Nachmittag die Gemeinde. Sie schlendern langsam durch die Straßen, bewundern die ordentlichen Vorgärten. Sie spüren, dass jetzt Ruhe in ihr Leben einkehrt. Ein Wort auf Deutsch kennt Mohamed schon: "Danke".

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© Heinz Stephan Tesarek Zu Fuß in die Freiheit: Vom Auffanglager in der ungarischen Stadt Bicske, knapp 40 Kilometer von Budapest entfernt, marschiert die Familie Bakkar gemeinsam mit anderen Flüchtlingen zum Bahnhof.
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© Heinz Stephan Tesarek Dort besteigen sie einen Zug Richtung Westen. Sie werden noch mehrmals umsteigen müssen.
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© Heinz Stephan Tesarek
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© Heinz Stephan Tesarek Weil die Flüchtlinge sich nicht regelmäßig waschen konnten, riecht es streng. Einige Mitfahrer halten das nicht aus.
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© Heinz Stephan Tesarek Warten am Bahngleis: Stundenlang müssen auch Kinder an Bahnsteigen in Ungarn ausharren. Niemand informiert sie, niemand weiß etwas. Dann wird es dunkel und kalt.
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© Heinz Stephan Tesarek Anders die Situation in Wien: Hier werden die Flüchtlinge von zahlreichen Helfern empfangen.
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© Heinz Stephan Tesarek Alles ist organisiert.
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© Heinz Stephan Tesarek Am frühen Morgen geht es für Familie Bakkar weiter nach Deutschland.
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© Heinz Stephan Tesarek Ankunft am Münchner Hauptbahnhof: Familie Bakkar schaut neugierig und hoffnungsfroh aus dem Fenster.
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© Heinz Stephan Tesarek Der acht Monate alte Husam sitzt auf dem Schoß seiner Mutter.
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© Heinz Stephan Tesarek Nach der Ankunft geleiten deutsche Polizisten die Neuankömmlinge zunächst in eine Notunterkunft. Auch in München sind freiwillige Helfer zur Hochform aufgelaufen: Es gibt Lebensmittel, alle Flüchtlinge werden medizinisch versorgt.
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© Heinz Stephan Tesarek Endstation Oberpfalz: In einer Turnhalle in Wiesau werden Mohamed Bakkar, seine Frau Samia und der kleine Husam die nächsten sechs Wochen verbringen.
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© Heinz Stephan Tesarek Wohin es dann geht, wissen die beiden noch nicht. Ein Wort auf Deutsch kennt der Familienvater aber bereits: "Danke".

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