"Wir müssen mit dem Risiko leben"

Verändert der Terror unser Leben? Verflüchtigen sich die Standards von Freiheit, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann analysiert den neuen Terror und nennt mögliche Strategien.

von
GASTKOMMENTAR - "Wir müssen mit dem Risiko leben"

Charlie Hebdo", Berliner Weihnachtsmarkt, Manchester: Die Mechanismen von Betroffenheit, Solidarität, Empörung, Wut, die Vermutungen über die Identität und den Hintergrund der Täter, die mitunter notwendige Korrektur der schnellen und vorschnellen Diagnosen, die nicht immer durchsichtige Informationspolitik von Polizei und Regierungen - all das ähnelt sich von Anschlag zu Anschlag. Der Terror zwingt uns die Rituale der Reaktion auf. Was aber macht der Terror mit unserem System von Freiheit, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit?

Diese Frage stellt sich seit 9/11: Wie weit sind wir bereit, fundamentale Freiheitsrechte zugunsten einer tatsächlichen oder vermeintlichen Sicherheitspolitik einzuschränken? Der Terror zwingt uns zu einer Gratwanderung zwischen Sicherheit und Freiheit. Jeder Terroranschlag provoziert dieselben Fragen: Hätte man besser überwachen sollen? Ist das Netzwerk von Spionen und Informanten noch immer nicht dicht genug? Fehlen Kontrollen und Kameras? Gab es übersehene Botschaften in den sozialen Netzwerken? Sind die Menschen noch immer nicht durchsichtig genug?

Zu dieser Frage gibt es zwei Denkschulen. Die eine will Sicherheit um jeden Preis, auch um den der Bürgerrechte. Die andere geht davon aus, dass Sicherheit ohne Freiheit keinen Wert darstellt. Zu letzterer sollten sich mündige und selbstbewusste Bürger im Wissen um das damit verbundene Risiko bekennen. Sich gegen den Terror zu wappnen, ist heute schwieriger als früher, weil der aktuelle Terror keine definierten Adressaten hat. Das unterscheidet ihn etwa von dem der Roten Armee Fraktion (RAF) im Deutschland der Siebziger- und Achtzigerjahre, der Arbeitgebervertreter, Banker und andere sichtbare Repräsentanten des kapitalistischen Systems zu seinem Ziel erklärt hatte. Der islamistische Terror hingegen, der sich generell gegen die Bevölkerung richtet, ist nicht prognostizierbar. Am 22. Mai haben in Europa wahrscheinlich unzählige Konzerte stattgefunden, und auf jedem hätten Terroristen zuschlagen können. Wir werden also mit dem Risiko leben müssen, und die entscheidende Frage ist, ob man mit Terror so umgehen lernt wie mit einem Autounfall oder Flugzeugabsturz. Man kann auch die Statistik bemühen und richtigerweise feststellen, dass die Gefahr, bei einem Terroranschlag zu Schaden zu kommen, wesentlich geringer ist als bei den meisten anderen Gefährdungen, die das tägliche Leben bereithält. Der politische Stehsatz hierzu lautet: "Wir werden unsere Lebensform nicht aufgeben." Das ist sicher ein wichtiger Satz. Aber mit jeder zusätzlichen Sicherheitsmaßnahme, mit jeder verschärften Kontrolle geben wir diese Lebensform ein weiteres Stück auf.

Entscheidend aber ist die Rolle der Medien. 20 Tote bringen einer Organisation wie dem Islamischen Staat relativ wenig. Der Terror lebt davon, dass er größtmögliche Publizität erreicht. "Terror" heißt Schrecken, und wenn über die 20 Toten mehrere Tage lang auf allen Kanälen berichtet wird, wenn signalisiert wird, dass jeder das nächste Opfer sein kann, wenn also mit der Berichterstattung schon auf den nächsten möglichen Anschlag verwiesen wird, dann wird dieser Schrecken exemplarisch in großem Stile ausgeübt. Stellen wir uns als Gedankenmodell vor, über Terroranschläge würde so berichtet wie über Verkehrsunfälle: als Notiz in der Chronik, und nur in der Chronik zum Beispiel von Manchester, so, wie bei uns auch nicht über die Toten berichtet wird, die der englische Autoverkehr fordert. Der Terror ist auf die Medien angewiesen. An den Medien ist es, abzuwägen: Werden sie zu Komplizen, obwohl oder gerade weil sie nur ihre Informationspflicht erfüllen?

Die Gretchenfrage aber lautet, wo und wie in dieser Problematik der Islam positioniert ist. Die Anschläge der vergangenen Jahrzehnte haben in großer Mehrzahl einen islamistischen Hintergrund. Das macht nicht alle Moslems zu Terroristen, so, wie der Terror der RAF nicht alle Linken zu Terroristen gemacht hat. Das Gewaltpotenzial, das sich heute zusammengebraut hat, beruht auf einer bestimmten, wenn auch höchst umstrittenen Auslegung des Islam. Ob diese Deutung nur den Vorwand für Gewalt oder eine ihrer Wurzeln darstellt, muss offen diskutiert werden. Und dazu gehört auch eine vom Geist der Aufklärung inspirierte Auseinandersetzung mit der Religion.