Nehammer fällt der ÖVP zur Last

Die ÖVP-Krise ist in St. Pölten angekommen. Für den Kanzler, aber auch die Koalition wird das gefährlich: Katastrophale Umfragewerte bewahren sie nicht länger vor einer Neuwahl.

von Politische Analyse - Nehammer fällt der ÖVP zur Last © Bild: Privat

ANALYSE

Es braucht eine klare Führung in der Regierung", sagt die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) in der "Krone". Die Botschaft ist, dass es derzeit keine gibt. Aus dem Munde von Mikl-Leitner ist das bemerkenswert: Kanzler ist ihr Bundesparteiobmann Karl Nehammer, den sie erst als Nachfolger von Alexander Schallenberg und Sebastian Kurz durchgesetzt hat.

Mikl-Leitner ist alarmiert: Sanktionen und Teuerung bzw. der Umgang der Regierung damit stiften in wachsenden Teilen der Bevölkerung eine Kombination aus Unverständnis und Unmut: Niemand erklärt, warum man Russland länger dafür bestrafen soll, einen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen, wenn man selbst zunehmend darunter leidet. Es gibt keinen wie den deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der schonungslos sagt, was zu erwarten ist ("Wir werden ärmer werden."). Nehammer lässt wissen, dass im schlimmsten Fall lediglich die Entscheidung zwischen "Alkohol oder Psychopharmaka" bleibe. Ein Land wundert sich. Auch Mikl-Leitner patzte, als sie meinte, man müsse nicht zehn Ballkleider haben, drei würden genügen. Sie entschuldigte sich dafür: Was soll sich jemand denken, der sich nicht einmal mehr gewohnte Lebensmittel leisten kann?

Die Frau steht vor einer Landtagswahl, vor allem aber unter Druck: Mit 40 Prozent droht das schlechteste ÖVP-Ergebnis der Geschichte. Also beginnt sie, sich von der Bundespolitik abzusetzen.

Jeder ist sich selbst der Nächte

Damit ist Erwartbares eingetreten: Seit Monaten heißt es, katastrophale Umfragewerte würden wie Klebstoff wirken und ÖVP und Grüne zusammenhalten. In Summe erreichen sie keine 33 Prozent mehr und können von daher wirklich nicht an einer Neuwahl interessiert sein. Jetzt geht es dennoch in diese Richtung: Mehr und mehr Funktionäre müssen sich Sorgen um ihre politische Zukunft machen - der Absturz droht alle mitzureißen. Eine Antwort darauf ist, ohne Rücksicht auf bisherige Partner ums eigene Überleben zu kämpfen.

Das geht kreuz und quer: ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner attackiert die grüne Energieministerin Leonore Gewessler (sie gebe kein gutes Bild ab bei der Gasversorgung), der grüne Sozialminister Johannes Rauch geht auf den türkisen Wirtschaftskammerpräsidenten Harald Mahrer los, der wiederum die Sanktionen gegen Russland infrage gestellt hatte, die von Nehammer mitgetragen werden. Und nach Mikl-Leitner sind überhaupt fast alle ÖVP-Landeshauptleute für einen Strompreis-Deckel, wie ihn Nehammer bisher ausgeschlossen hat.

Das läuft auf ein Ende mit Schrecken hinaus: Ohne Rückhalt der Länderchefs und ihrer Abgeordneten hat der Kanzler mit seiner Regierung keine gesicherte Mehrheit auf parlamentarischer Ebene. Jederzeit ist eine Neuwahl möglich.

ZAHL

Immer länger in Pension

Durch die Coronapandemie ist die Lebenserwartung in Österreich gesunken, bei insgesamt steigender Tendenz ist sie aber noch immer viel höher als zu Beginn der 1970er-Jahre. Auf der anderen Seite ist das durchschnittliche Pensionsantrittsalter nach wie vor niedriger als damals. Sämtliche Reformen und Einschnitte der jüngeren Vergangenheit haben wenig bis nichts bewirkt; Ausnahmen wie die "Hacklerregelung" haben dazu geführt. Unterm Strich bedeutet das, dass Herr und Frau Österreicher immer länger in Pension sind. "Er" kann heute mit rund 20 rechnen, "sie" mit gut 25 Jahren.

Das kann man als Fortschritt betrachten oder aber als finanzielle Herausforderung. Der Fiskalrat, der den Staat in Schuldenfragen berät, geht davon aus, dass die zusätzlichen Steuereinnahmen, die durch die Inflation zusammenkommen, gerade ausreichen werden, um adäquate Pensionsanpassungen zu finanzieren. Vorgenommen hat sich die Regierung jedoch mehr: Sie will Sozialhilfen aufstocken, in die Pflege investieren, das Bundesheer nachrüsten etc.

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Viele erkranken schon früh

Das erhöht den Druck, wieder einmal das Thema Pensionsreform aus der Schulblade zu ziehen. Die Auseinanderentwickelung von Antrittsalter und Lebenserwartung spricht für eine Automatik. Das würde heißen, dass man das Pensionsalter mitsteigen lässt, es also regelmäßig um ein paar Monate anhebt.

Dabei gibt es jedoch einen Haken: Je höher Bildungsabschluss oder Einkommen, desto höher die Lebenserwartung. Schlimmer: Während sich Hochschulabsolventen mit 70 oft noch guter Gesundheit erfreuen, sind Männer und Frauen, die über die Pflichtschule nicht hinausgekommen sind, Ende 50 eher schon krank. Dafür gibt es viele Gründe, von der körperlichen Belastung im Job bis zur Lebensweise. Bei einer Automatik müsste das wohl berücksichtigt werden.

BERICHT

Wenig Vertrauen, viel Zuspruch

Regierungspolitiker leiden unter dem Vertrauensverlust, den sie erfahren, Freiheitlichen kann er egal sein: In Niederösterreich hat FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl gerade die größten Verluste erlitten, seine Partei legt jedoch am stärksten zu. Das zeigt eine Umfrage der Wochenzeitung "NÖN". Den Freiheitlichen werden hier 17 Prozent ausgewiesen. So viel haben sie bei einer Landtagswahl im Land noch nie erreicht.

Auf Bundesebene gibt es ein ähnliches Phänomen: Beim APA/OGM-Index vom Frühjahr erklärten 82 Prozent der Befragten, sie würden Herbert Kickl misstrauen. Seine Partei befindet sich jedoch im Aufwind. Im Durchschnitt der Erhebungen hält sie 21 Prozent. Sollte die ÖVP weiter verlieren, könnte sie hinter der Sozialdemokratie auf Platz zwei landen.

Kickl befeuert Protestbewegung

Wie kann man trotz solcher Vertrauenswerte so erfolgreich sein? Bei Freiheitlichen ist es kein Widerspruch. Sie präsentieren sich nicht als bessere Regierungspartei, sondern als Protestbewegung. Sie setzen darauf, als Absage an türkis-grüne Coronapolitik gewählt zu werden. Oder an die Teuerungspolitik: Auch dazu hat Kickl denn auch schon Protestmaßnahmen angekündigt. Sie sollen im Herbst stattfinden.

Die Partei riskiert damit freilich die Fortsetzung eines Jo-Jo-Effekts, mit dem sie schon zwei Mal Erfahrung gemacht hat: Anfang der 2000er-und Ende der 2010er-Jahre schaffte sie es als Protestbewegung in die Regierung, verlor in dieser Position aber bald an Zuspruch und stürzte in weiterer Folge bei Nationalratswahlen ab.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at