Naomi Osaka:
Armes reiches Mädchen

Depressionen, Tränen, Medienphobie. Dann Dankbarkeit für ihr privilegiertes Leben. Die bestbezahlte Sportlerin der Welt, Tennis-Star Naomi Osaka, gibt Rätsel auf.

von Porträt - Naomi Osaka:
Armes reiches Mädchen © Bild: imago images/Paul Zimmer

Steckbrief

  • Geburtsdatum: 16. Oktober 1997
  • Geburtsort: Osaka, Japan
  • Sternzeichen: Waage
  • Eltern: Mutter Tamaki Osaka (Japanerin), Vater Leonard "San" François (Amerikaner mit haitianischen Wurzeln)
  • Geschwister: Schwester Mari Osaka
  • Größte Erfolge: vier Grand Slam Titel (US Open 2018, 2020, Australian Open 2019, 2021)

Will man so den Durchbruch schaffen, Sportgeschichte schreiben für Japan? Statt high zu werden vor Glück, verharrte Naomi Osaka Bambi-gleich im Off, als ihr Idol Serena Williams im US Open Finale 2018 ausrastete, als ihre bittere Niederlage gegen die knapp halb so alte Außenseiterin nicht mehr abzuwenden war. Serena schoss sich bei ihrer vergeblichen Rekordjagd auf den 24. Grand Slam Titel auf den Schiedsrichter ein, schimpfte, tobte ("Dieb! Lügner!"), demolierte ihren Schläger, um dem Umpire zu schlechter Letzt auch noch Sexismusvorwürfe vor den Latz zu knallen. Das alles zum Soundtrack eines gellenden Pfeifkonzerts und Buhrufen von 24.000 New Yorkern.

© 2018 Tim Clayton/Getty Images Die Grande Dame und ihre Erbin. 2018 siegte Naomi Osaka (re.) im Finale der US Open über ihr einstiges Idol Serena Williams (li.). Williams beschimpfte während des Spiels mehrfach den Schiedsrichter. Medien nannten ihr Verhalten "unwürdig". Osaka blieb stoisch ...
© 2018 Getty Images ... fiel aber nach dem Match in die Arme ihrer Mutter Tamaki, als ob sie getröstet werden müsste

Seit dieser bizarren Reality-Soap im September 2018 wurde die 23-jährige Asiatin nach eigenem Bekunden immer wieder von "langen depressiven Phasen" geplagt. Dies verriet sie einer verblüfften Öffentlichkeit vor wenigen Monaten in Paris, wo sie nach der ersten Runde und einem Medienboykott einfach aus dem Turnier ausgestiegen war und danach ihr Antreten in Wimbledon storniert hatte. Im Vorjahr, als im Big Apple pandemiebedingt keine Zuschauer zugelassen waren, gewann sie zum zweiten Mal das letzte Grand-Slam-Turnier des Jahres. In der hermetisch abgeschlossenen "Bubble" schien sie sich wohlzufühlen. Wie wird es sich dieser Tage anfühlen, wenn bis 12. September die US Open gespielt werden und sie im New Yorker Tollhaus wie in Prä-Covid-Zeiten ihren Titel von 2020 verteidigen will? Im Vorfeld, Mitte August in Cincinnati, musste sie bereits eine Pressekonferenz unterbrechen nach einer nicht gerade gnadenlosen Reporterfrage war sie in Tränen ausgebrochen. Ist Osaka zu sensibel für den brutalen Spitzensport?

Braucht sie eine Pause?

"Wenn es wirklich so schlimm um sie bestellt ist, wäre vielleicht eine einjährige Pause das Beste", diagnostiziert Österreichs ehemaliges Ass Barbara Schett für News. "Man muss sie auf jeden Fall mit Samthandschuhen anfassen", ergänzt der Oberösterreicher Peter Michael Reichel, seit zwei Jahrzehnten im Board of Directors und damit an den Hebeln der Damen Tour. "Andererseits muss sie als Spitzenprofi mit den Umständen fertig werden, das ist part of the deal."

© 2020 Getty Images Am Boden? Nach ihrem erfolgreichen Finalmatch gegen Victoria Azarenka bei den US Open 2020 feiert Osaka mit geschlossenen Augen im Billie Jean King National Tennis Center

Denn: Osaka gilt als bestbezahlte Sportlerin des Planeten. In der jüngsten Athleten Geldrangliste von "Forbes" schlug sie sich als erfolgreichste Frau bis auf Platz zwölf vor, weit vor männlichen Branchenriesen wie Novak Đoković und Rafael Nadal. Einkünfte innerhalb von zwölf Monaten bis Mai 2021: satte 60 Millionen Dollar. 55 Millionen allein von Sponsoren noch mehr Sponsorkohle scheffelten im Beobachtungszeitraum nur Roger Federer, Tiger Woods und Basketball Highflyer Le Bron James. Noch nie hat eine Frau im Sport mehr verdient als Osaka schon die 37 Millionen Dollar im Jahr davor waren Rekord gewesen.

Unter den Partnern der Hartplatzspezialistin sind keine kleinen Lichter: Louis Vuitton, Nike, Google, Levi's, TAG Heuer, Mastercard, Beats Electronics, um nur die prominentesten Schwergewichte zu nennen. Ihr globaler Appeal, ihre Jugend, ihre ungelenke Coolness, das frische, unverbrauchte Gesicht, die Aussicht, dass da eine Nachfolgerin für Serena Williams heranwachsen könnte, der lukrative asiatische Markt: Mehr heiße Aktie geht nicht.

Blackout trotz Merkzettel

Als sie ihr erstes Turnier gewann, im März 2018 im kalifornischen Indian Wells, fiel es erstmals auf, dass das Reden, das Gefühle Zeigen, das Vorbild Sein, das Verantwortung Tragen nicht ihre Welt war. Verlegen bat sie um Entschuldigung für das Gestammel bei der Siegerehrung. Wird sich schon noch einschleifen, dachten viele in der Filzkugel Community. Irrtum.

© imago images/ZUMA Wire Keine Nerven. Zwei Wochen vor den US Open bricht Osaka ohne ersichtlichen Grund eine Pressekonferenz in Cincinnati ab

Als sie dem US-Open-Premierensieg, der vom Lärm um das Verhalten von Serena Williams erstickt worden war, 2019 sofort den Gewinn des nächsten Grand Slam, der Australian Open, folgen ließ (als erste Spielerin seit Jennifer Capriati 2001), war sie erneut von der Rolle: "Ich habe mir Notizen für die Ansprache gemacht und dann vor lauter Panik nicht nur diese, sondern auch das Lächeln vergessen." Später ließ sie noch tiefer blicken: "In meinem Alltag spreche ich auch nicht mehr vielleicht zehn Sätze am Tag. Wenn ich bei Turnieren Kopfhörer trage, dann nur deshalb, um meine sozialen Ängste zu dämpfen."

Sie will einfach nur (Tennis) spielen. Diese Haltung erinnert Insider ein wenig an die frühe Steffi Graf, die zu Beginn der Karriere auch nur die Ballwechsel am Centre Court im Kopf hatte, und nicht Termine, Verpflichtungen, Briefings.

Ein Leben als "Hafu"

Vielleicht speist sich die Unsicherheit und die Tennis-only-Präferenz der verschlossenen jungen Frau mit den Korkenzieherlocken und dem Bronze-Teint aber auch aus ihrem Background. Ist Miss Introvertiert eine Zerrissene, weil sie sich nicht als echte Japanerin fühlt? Ihr Vater, Leonard Francois, der Naomi und ihre Schwester Mari zu einer Karriere wie jene der Williams Schwestern pushen wollte, ist ein Amerikaner mit Wurzeln in Haiti. Dass die Familie in die USA umzog, als Naomi drei Jahre alt war, hatte nicht nur sportliche Gründe: Die Osakas erfuhren Diskriminierung. Dass Mutter Tamaki einen dunkelhäutigen Ausländer heiratete, wurde als Schande empfunden. Dafür gibt es in Japan den nicht immer schmeichelhaft gemeinten Begriff für zwei verschiedene Ethnien: "Hafu". Übersetzt: Halb, nicht ganz.

© 2016 Kyodo News/Getty Images Osaka mit Mutter Tamaki (2. v. re) und Vater Leonard Francois (2. v. li.) nach dem Sieg bei den Toray Pan Pacific Open in Osaka

Vielleicht waren diese Erfahrungen im Kindesalter der mentalen Gesundheit abträglich. Freilich befanden sich zuletzt auch Sport-Kapazunder mit gänzlich anderen Biografien im psychischen Ungleichgewicht. Der Druck, multiples Olympia-Gold gewinnen zu müssen, blockierte selbst den normalerweise jegliche Erwartungslast schulternden Turn-Megastar Simone Biles in Tokio. Zuvor hatten auch schon zwei weitere Überlebensgroße aus den USA, Schwimmwunder Michael Phelps und Ski-Speed-Queen Lindsey Vonn, über Depressionen geklagt. Das Schlagzeilen-Stakkato muss Naomi Osaka nicht zwingend schaden. Viele ihrer namhaften Big Spender hatten ihr gleich nach dem Rückzug in Paris ihre bedingungslose Unterstützung versichert. Auch ihr soziales Bewusstsein - egal, ob Sympathie für die "Black Lives Matter" Bewegung oder Spenden für die Erdbebenopfer in der Heimat ihres Vaters, Haiti - passt optimal in die heutige Zeit, wird immer wichtiger und vor allem: kommt gut an.

Wer zuletzt lacht

Joe Favorito, ein erfahrener Marketingberater und Dozent an der Columbia University, sieht daher das Standing von Naomi Osaka trotz all der jüngsten Vorkommnisse und Widersprüche (Mitte August sprach sie in Cincinnati davon, dass sie angesichts der Geschehnisse in Haiti oder Afghanistan ihrem Blick auf ihr Leben einen positiveren Spin verpasst habe) keinesfalls beschädigt:

"Wenn sie buchstäblich gesund aus der Sache herauskommt, liegen die besten Tage als Sportlerin und Markenbotschafterin noch vor ihr. Dann erleben wir eine tolle Comeback Story. Und was gibt es denn im Sport Schöneres als ein erfolgreiches Comeback?"

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 34/21