Muslime, wehrt euch!

Warum schweigen Muslime zu den Gräueltaten islamistischer Terroristen? Diese Frage stellen sich viele. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Seit Jahren gibt es einen weltweiten Protest von Muslimen gegen islamistische Gewalt. Wir bemerken ihn nur nicht.

von Chronik - Muslime, wehrt euch! © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Der Halbmond auf dem Minarett der Moschee in Wien-Floridsdorf glänzt in der Sonne. Es ist still, in der Ferne hört man das Rauschen der Autos, vereinzelt auch das Zwitschern eines Vogels. Auf einmal öffnet sich das dunkle Tor, Männer in langen Gewändern und mit Hüten kommen zum Vorschein. Sie reihen sich auf der Treppe vor der Moschee auf, einer nach dem anderen, bis schließlich kein Platz mehr auf den Stufen ist. Die Männer in der vordersten Reihe rollen ein großes Banner aus, darauf steht in grüner Schrift: "Vereint gegen Extremismus und Terror“.

Die Männer sind die Imame der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Alle 300 islamischen Vorbeter haben eine Deklaration gegen islamistischen Terror unterzeichnet. Ibrahim Olgun, Präsident der IGGiÖ, beginnt aus der Deklaration vorzulesen: "Wir als Glaubensgemeinschaft stehen auf der Seite des Friedens, der Demokratie und des Rechtsstaates.“

© Heinz Stephan Tesarek

Warum braucht es diese Klarstellung? Weil Muslimen nach beinahe jedem islamistischen Anschlag vorgeworfen wird, sich zu wenig vom Terror zu distanzieren. Angesichts der unfassbaren Gewalttaten in jüngster Zeit würden klare Zeichen des Friedens seitens der Glaubensgemeinschaft fehlen. Doch genau da liegt das Missverständnis. "Es gibt schon seit Jahren einen weltweiten Protest von Muslimen gegen terroristische Gewalt“, sagt Rüdiger Lohlker, Islamwissenschaftler an der Uni Wien. Er werde nur nicht wahrgenommen.

Nach dem Attentat auf die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo“ im Jänner 2015 gingen Tausende Muslime in französischen Städten auf die Straße, um gegen islamistischen Terror zu protestieren. Als im November des gleichen Jahres 130 Menschen in Paris von Islamisten getötet wurden, versammelten sich deutsche Muslime vor dem Brandenburger Tor und hielten Transparente mit der Aufschrift "#notinmyname“ hoch. Nach der Ermordung eines Polizisten durch einen Islamisten im Juni 2016 im französischen Magnanville demonstrierten Muslime in einem Pariser Vorort gegen Gewalt. Im Dezember 2016, nachdem ein Attentäter mit einem Lkw durch einen Berliner Weihnachtsmarkt raste, versammelten sich Muslime am Breitscheidplatz. Sie trugen T-Shirts mit der Aufschrift "Muslime für Frieden“. Und nach einer Amokfahrt samt Messerattacken diesen Juni in London organisierten britische Muslime eine Gedenkwache. 130 Imame verweigerten den Attentätern zudem das Totengebet.

Von Indonesien bis Kairo

Auch außerhalb Europas mangelt es laut Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker nicht an Protesten und Initiativen gegen islamistische Gewalt. So hat die indonesische Nahdlatul Ulama, die weltweit größte islamische Organisation mit 50 Millionen Mitgliedern, eine Anti-Extremismus-Kampagne gestartet und sich klar von der Terrorgruppe IS distanziert. Genauso wie Abbas Schuman, Vizerektor der Al-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam. In Pakistan haben islamische Gelehrte im Mai dieses Jahres eine Fatwa, also ein Rechtsgutachten, gegen Selbstmordanschläge verfasst. "Es gibt Erklärungen noch und nöcher“, meint Lohlker. Mit der Deklaration der österreichischen Imame ist diese Liste nun um einen Punkt reicher. Wieso also hört man immer wieder Stimmen, die meinen, Muslime würden sich nicht ausreichend vom Terror distanzieren?

Ein Grund liegt laut Extremismusexpertin Julia Ebner in der mangelnden Berichterstattung. "Die Medien geben lieber den Radikalen eine Plattform, weil solche News mehr Aufsehen erregen.“ Dabei gehöre es zu deren Aufgabe, dieses falsche Bild zu berichtigen und klarzustellen, dass es "keine Verschwörung aller Muslime“ gebe. Ein weiterer Punkt, der den Muslimen nicht in die Hände spielt, ist das Fehlen eines zentralen Oberhauptes. Im Gegensatz zum Christentum gibt es keine Amtskirche, sondern viele Glaubensrichtungen, die von unterschiedlichen Organisationen getragen werden. "Für die Medien wäre es sicher von Vorteil, wenn es einen zentralen Pressesprecher im Sinne eines Papstes gebe“, sagt Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker.

Populismus-Problem

Extremismusexpertin Julia Ebner prangert aber nicht nur die Medien, sondern auch die Politik an. "Mit ihrer pauschalisierten Sprache stärken Politiker das Bild, alle Muslime wären radikale Extremisten.“ Der Islam als Gewaltreligion sozusagen. Mit diesem Vorurteil räumt Rüdiger Lohlker auf. "Der Koran ist nicht gewalttätiger als das Alte Testament. Er rechtfertigt Gewalt nur im Rahmen der Verteidigung.“ Für Ramazan Demir, Imam und Organisator der Deklaration, beinhaltet der Koran sogar eine Friedensmission. Die Assoziation mit Gewalt rührt seiner Meinung nach daher, dass es "heute viele Kriege in muslimisch geprägten Ländern gibt, wo die Religion als Legitimation herangezogen wird“.

Ibrahim Olgun beendet seine Ansprache: "Möge Allah jeden Menschen vor jeder Art der Gewalt und des Terrors schützen.“ Er legt die Deklaration langsam auf das Rednerpult, zückt einen Stift und unterschreibt. Als er fertig ist, ruft Ramazan Demir einen Imam nach dem anderen auf, um ebenfalls zu unterzeichnen. Man sieht den Stolz in Demirs Augen. "Damit setzen wir ein klares Zeichen. Im Hinblick auf den weltweiten Terror ist es wichtig, sich klar zu positionieren“, sagt er.

Genau dieses Bild eines vielfältigen Islam wollen Terroristen laut Julia Ebner jedoch verhindern. "Es ist ihr Ziel, ein, Ihr‘ und, Wir‘ in der Gesellschaft zu erzeugen. So entstehen Spannungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.“ Das sei ihnen zum Teil schon gelungen, wie die steigenden islamophobischen Angriffe in Europa zeigen würden. Diese Spaltung der Gesellschaft könne aber noch fatalere Folgen haben und Muslime in Europa in den Extremismus treiben, meint Ebner. "Viele Muslime haben sich in Europa gut integriert gefühlt. Doch dann wurden sie plötzlich in der Öffentlichkeit diffamiert. Das erzeugt Angst, die sich in Wut verwandeln kann.“

Solche Beispiele kennt die Extremismusexpertin nicht nur aus der Theorie. Bis vor Kurzem arbeitete sie mit Aussteigern aus der islamistischen Szene für einen Thinktank in London. Für jene sei es wichtig gewesen, positive Erfahrungen mit der europäischen Mehrheitsgesellschaft zu machen, um wieder den Weg aus dem Extremismus zu finden.

Um diese Kluft wieder zu schließen, sei es wesentlich, Muslime in den Medien und in der Politik differenziert zu betrachten und klar zwischen Terroristen und Muslimen im Allgemeinen zu unterscheiden. Aber auch von muslimischer Seite gebe es Handlungsbedarf, wie Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker sagt. "Es braucht mehr kritisch ausgebildete Muslime, um die schwarze Rhetorik der Extremisten theologisch aushebeln zu können.“ Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung wurde bereits gemacht. Ab Herbst bietet die Uni Wien ein Bachelor-Studium in Islamischer Theologie an. Damit sei man nicht mehr auf Imame aus dem Ausland angewiesen.

Säkulare Muslime

Doch was ist mit jenen Muslimen, die nicht in die Moschee gehen? In einer aktuellen Studie des Instituts für Islamische Studien der Universität Wien bezeichnen sich 40 Prozent der 700 Befragten zwar als Muslime, die Religion präge aber nicht ihren Alltag. Und zwischen 70 und 80 Prozent der österreichischen Muslime seien nicht in Moscheevereinen organisiert. Islamische Institutionen würden diese Menschen also gar nicht erreichen, so die Studienautoren.

Für Julia Ebner ist ganz klar: Um vor allem junge Muslime anzusprechen und sie vor extremistischen Einflüssen zu bewahren, müsse man innovativ sein. "Man sollte Kommunikationsprojekte über die Auslegung des Korans starten.“ Eine Idee wäre, Suren - also Abschnitte des Korans - in leicht verdauliche Tweets zusammenzufassen. "Oder man arbeitet mit Apps, um mit Missinterpretationen aufzuräumen.“

Die Imame vor der Moschee in Wien-Floridsdorf drängen sich um ihren Präsidenten. Ibrahim Olgun hält die Deklaration in die Kameras, doch auch sie wollen einen Teil des Schriftstücks halten. Sie setzen ihr bestes Lächeln auf und stehen mit breiter Brust da. Manche zücken ihr Handy, um Fotos vom Medienandrang vor der Moschee zu machen. Schließlich bekommt man nicht jeden Tag so viel positive Aufmerksamkeit.

Die nächste Möglichkeit bietet sich vielleicht schon im Sommer. Nach der Überreichung der Deklaration an das Parlament will die Islamische Glaubensgemeinschaft eine Menschenkette mit Muslimen, Christen, Juden und Buddhisten zur nächsten katholischen Pfarre veranstalten.