Müllentsorgung als politische Strategie

Der fragwürdige Ruf nach "Säuberung" in einer Demokratie

von Schlaglichter - Müllentsorgung als politische Strategie © Bild: Getty Images/Thomas Kronsteiner

In der aktuellen Diskussion um "Sauberkeit" in der Politik bewegen sich die Kontrahenten auf spiegelglattem Eis. Schmutz und Reinheit waren nie rationale Kriterien einer demokratisch strukturierten Gesellschaft. Eine berechtigte Kritik gleitet so eher in die Symbolik des Gegenteils. "Warum sie doch zu Schutz und Trutz die Tonart stets verschärfen? Nicht formen lässt sich jeder Schmutz, doch jeder lässt sich werfen", beschrieb der Schriftsteller Ludwig Fulda den Schmutz, den man werfen, jemanden damit bewerfen könne, voller Ekel und Empörung nach Sauberkeit rufend.

Es ist nicht so einfach mit dem Saubermachen. Schmutz, egal ob als Staub auf dem Nachttisch oder korruptes Verhalten, wird erst als störend erkannt, wenn es dem eigenen Ordnungsprinzip widerspricht. Ein Zwetschkenkern auf dem Teller nach einem flaumigen Obstknödel wird nicht als Schmutz gesehen. Klebt er auf dem Hemd, weil er nach Genuss einer Zwetschke dort landete, wird er verzweifelt mit einer Serviette entfernt. Dem Sohn des Freundes einen Sommerjob zu ermöglichen, wird nicht als Korruption erkannt, auch wenn ein anderer Interessent übergangen wird. Bei der Bewerbung um eine Führungsposition der Konkurrentin aufgrund ihrer politischen Beziehung zu unterliegen, schreit nach Schiebung und Ungerechtigkeit.

Reinigungsrituale

Sauberkeit ist von der kulturellen Definition des Schmutzes nicht zu trennen und nicht von der Begriffsbestimmung der gesellschaftspolitischen Moral. In der modernen, westlichen Gesellschaft gilt sie als zivilisatorisches Ideal. Wir sind stolz auf unseren sauberen Kontinent, rümpfen anderswo die Nase über schmutzige Straßen. Schlecht gereinigte Hotelzimmer sind uns ein Gräuel. Die äußerlich erlebte Reinheit erachten wir als Beweis kultureller, eine "saubere" Demokratie als moralische Vormacht.

Die Vorstellung von Reinigung und Reinigungsrituale waren in allen Kulturen ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Lebens. Geht die Praxis des Saubermachens über in den Kult, muss der Vorgang des Waschens nur noch symbolisch ausgeführt werden, um eine Befleckung, Sünde oder einen Makel zu entfernen. Bis Reinigung völlig in den Status der Metapher ("reine Vernunft") übergeht, unter deren Hülle die ursprüngliche Waschhandlung keine Bedeutung mehr hat.

Doch dem blitzblanken Ideal absoluter äußerlicher Reinheit steht das Putzen und Reinigen als unbeliebte Arbeit gegenüber. Wer putzt schon gerne? Und wer kennt mehr als Namen und Herkunft der Putzfrau? Das Interesse an jenen Zehntausenden Menschen, die Europas Sauberkeit gewährleisten, ist gering. Putzen gilt als minderwertige, niedrige Arbeit. Keinerlei Kompetenzen sind erforderlich, es gibt dafür weder gutes Geld noch Anerkennung. In Internaten oder beim Militär wird das Reinigen von Tischen, Geschirr oder Gemeinschaftstoiletten gerne als Strafe eingesetzt. Während des Nationalsozialismus wurden Menschen dazu gezwungen, Straßen mit Handbürsten zu reinigen. Putzen wurde und wird bewusst als Akt der Erniedrigung eingesetzt. Das Ergebnis jedoch stolz als Ausdruck der Überlegenheit betont.

Soziale Hygiene

Reinheit als Leitidee der sozialen und kulturellen Ordnung ist Teil des ideologischen und programmatischen Instrumentariums verschiedener politischer Bewegungen. Für manche dieser Bewegungen war und ist es Grundlage der Einheit und Einheitlichkeit einer Nation oder eines "Volkes". Reinheitskonzeptionen und damit die Bedingungen der Inklusion und Exklusion haben sich an Rasse, Kultur, Religion, Moral, Klasse oder völlig willkürlichen Kriterien ausgerichtet. Gewalt ist vielfach in Diktaturen zum Mittel geworden, diese Einheitlichkeit des Reinheitsgrades abzugrenzen und durchzusetzen.

Lenin hat das eindrucksvoll ausgedrückt mit seiner Parole: "Terror ist ein Instrument sozialer Hygiene." Mit der Übernahme der Begriffe aus dem medizinischen Verständnis des 19. Jahrhunderts über Gefahr von Schmutz und Infektionen in die politische Strategie wurde die "Säuberung" der Gesellschaft begründet. Dabei ging Lenin fast schon nach physikalischen Prinzipien vor. Da Saubermachen immer nur eine Verlagerung von Schmutz bedeutet und dieser nicht verschwindet, konnte eine kompromisslose Lösung des politischen Hygiene-Problems durch eine Verbannung, Inhaftierung oder Ausgrenzung von Menschen mit "schmutzigem" Verhalten oder Gedanken nicht erreicht werden. Man musste sie töten. Die Reinigung der Gesellschaft und die Forderung nach einer "sauberen" Politik gehen dann nahtlos in die politische "Säuberung" über. Die ist immer nur dann konsequent, wenn die Vertreter der "unsauberen" Verhaltens-und Denkweisen einfach nicht mehr existieren.

Säuberungen

Als Erfinder der politischen und ethnischen "Säuberungen" gelten die Anführer der Französischen Revolution (la Terreur). Die Konstituierung der "Citoyens", der politischen Bürger, bedeutete Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung. Zur "Nation" gehörten nicht mehr die Bewohner Frankreichs. "Feinde und vor allem die Aristokraten" wurden nicht als "zum Volk gehörig betrachtet". Ebenso die Elsässer, die nicht Französisch sprachen. Sie sollten vertrieben und ihre Gebiete durch "echte" Franzosen besiedelt werden. 1793 bis 1794 entschieden zwölf Männer des sogenannten Wohlfahrtsausschusses unter Führung von Robespierre, wer als Konterrevolutionär hingerichtet werden sollte. Zuletzt fiel Robespierre seiner eigenen Strategie zum Opfer.

Während der Zeit des Nationalsozialismus kam es zu unterschiedlichen "Säuberungen". Mit der Reichstagsbrandverordnung wurde die Verfolgung der politischen Gegner legalisiert. Durch die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches konnte Hitler seine eigene Partei "säubern". Die NS-Führung trieb den Kult um die "Reinheit des deutschen Volkes" bis zu dem bis heute nicht begreifbaren Wahnsinn mit Massenmord in den Konzentrationslagern und besetzten Gebieten. Innerhalb kommunistischer Parteien (z. B. UdSSR, Kambodscha, VR China, Vietnam) waren "Säuberungen" im 20. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil zur Durchsetzung der Parteilinie, zur Integration nach innen und zur Abgrenzung nach außen. Stalin verordnete sogenannte Säuberungsquoten, eine Mindestzahl an Hinrichtungen für jede Provinz. Mehrere politische Funktionäre, unter ihnen auch der spätere Ministerpräsident Chruschtschow wetteiferten mit einer "Überrrfüllung" der Quote gegenüber Stalin.

Nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten (1944) wurden mehr als 10.000 Menschen wegen Kollaboration mit dem Feind in außergerichtlichen "Säuberungen" (épuration sauvage) ermordet, teils nach Schnellprozessen, teils nach willkürlichen Verhaftungen.

In den osteuropäischen Ländern kam es nach 1945 immer wieder zu "Säuberungen". Die Führung der moskautreuen deutschen SED erließ in diesem Zusammenhang 1948 einen Beschluss über die "organisatorische Festigung der Partei und ihre Säuberung von entarteten und feindlichen Elementen".

Suspendierungen

Im November 2015 leitete in der Türkei der "Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte" Ermittlungen gegen 5.000 Richter und Staatsanwälte ein und Erdoğan kündigte "Säuberungen" an. 2.745 Richter und Staatsanwälte wurden suspendiert. Der religiös motivierte "Säuberungswahn" islamistischer Terrorgruppen wie des IS (Islamischer Staat) hat Zehntausende das Leben gekostet. In demokratischen Systemen hat das Verletzen des Verständnisses "politischer Hygiene" die Forderung nach Rücktritt zur Folge. Der deutsche Präsident Wulff zog sich ebenso zurück wie FPÖ-Chef Strache. Der Erwartungshaltung entsprechend sollte so der "Schmutz" aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Der Rückzug des Ex-Kanzlers Kurz gilt daher im Sinne der politischen "Säuberung" nur als halbe, unbefriedigende Lösung. Der "Schmutz" vom Kanzleramt ist nun im Nationalrat. Das widerspricht den Vorstellungen moralischer Sauberkeit, als hätte man die Brotkrümel und Speisereste vom Fußboden der Küche einfach ins Wohnzimmer gekehrt.