Seenot = Erklärungsnot

von Christoph Lehermayr © Bild: News/Ian Ehm

Mittelmeerroute schließen? Geht nicht, hieß es noch vor wenigen Monaten von so ziemlich allen Politikern wie Experten. Nun meldet Italien, dass die Ankunftszahlen in seinen Häfen erstmals eklatant sinken. Im Juli hat sich die Zahl der Migranten im Vergleich zum Vormonat auf 11.194 halbiert. Das ist noch keine Routenschließung, aber eine Trendumkehr. Geht also doch?

Ja, durchaus -und es hat seinen Preis. Finanziell, moralisch, ethisch. Damit weniger Boote aus Libyen ablegen, brauchten die Italiener Partner in einem gescheiterten Staat. Und fanden sie in Milizführern, Generälen, Stammeschefs und Warlords. Es sind unlautere Gesellen, die zuvor prächtig an der Flucht verdienten und sich nun von Rom fürstlich für den Einkommensentgang entschädigen lassen. In der Vergangenheit schloss Europa ähnlich anrüchige Deals mit Libyens Machthaber Gaddafi oder zuletzt mit Erdoğan in der Türkei. Nun verschärfte Italien zudem die Regeln für Hilfsorganisationen, die mit ihren Schiffen Migranten vor Libyen aus dem Meer bargen. Wer fortan mit ihnen noch in Italiens Häfen andocken will, musste sich einem Kodex unterwerfen, der mehr Handhabe gegen Schlepper vorsieht, was etliche der NGOs ablehnen.

Über all das kann man sich treffend empören, den Ton der moralisch Erhabenen anschlagen und sich zu Recht auf Europas Wertegerüst berufen, das mit jedem weiteren schmutzigen Deal unter die Räder gerät. Entbindet es einen aber auch von der Verantwortung, sich ein paar Fragen zu stellen und etwas Weitsicht an den Tag zu legen? Das wahre Dilemma zeigt sich, sobald man über Alternativen zur Schubumkehr im Mittelmeer nachdenkt. Geschieht nichts, steigt die Zahl der Toten in die Zehntausende, die der Ankommenden in die Millionen und die der Verdienste der Schleppermafia in die Milliarden. Bei den Migranten handelt es sich überwiegend um keine Kriegsflüchtlinge mehr, sondern um Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Damit kann sie aber Italien weder auf andere EU-Staaten verteilen, noch ist es meist in der Lage, sie nach einem jahrelangen, negativ endenden Asylverfahren in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Jeder, der so aber doch in Europa bleibt, zieht weitere an, die der oft trügerischen Verheißung eines besseren Lebens folgen. Das sprengt auf Dauer jedes Sozialsystem, verstärkt soziale Unruhen, schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, vertieft Gräben zwischen den Staaten und zerstört letzten Endes die Idee Europa.

Wer all das nicht sieht, ignoriert, oder auch nur aus Erklärungsnot lieber Zuflucht in bloßer Empörung sucht, braucht sich nicht wundern, wenn europaweit Populisten mit den einfachen Antworten Zulauf finden.