Die SPD in
schwerer Not

Die SPD versucht irgendwie die Kurve zu bekommen, aber überall im Land wird der Riss zwischen Basis und Führung sichtbar.

von Mitgliederentscheid - Die SPD in
schwerer Not © Bild: Ina Fassbender / dpa / AFP

Andrea Nahles hätte sich einen besseren Start wünschen können. Die SPD-Chefin in spe will die erste Frau an der Spitze in fast 155 Jahren deutscher Sozialdemokratie werden. Landauf, landab rackert sie sich ab. Schwerte, Augsburg, Hamburg, Hannover, Kamen, Mainz. Aussteigen aus dem Auto, kämpfen, streiten, kaum noch Stimme. Abfahren, Telefonieren und Managen im Auto.

Immer nur ein paar Stunden Schlaf. Nächster Umfrageschock. Weiter, gute Miene machen. Aber helfen noch die alten Mechanismen und Rezepte? Je nach Umfrage liegt die rechtspopulistische AfD bereits in fast allen ostdeutschen Bundesländern sowie in Bayern und Baden-Württemberg vor der SPD.

Nahles vs. Schulz - persönliche Werte

Und als die SPD nun ihr Mitgliedervotum über den Eintritt in die dritte Große Koalition als Juniorpartner von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gestartet hat, kommt die nächste Hiobsbotschaft. Eine Insa-Umfrage für die "Bild" sieht die AfD erstmals bundesweit mit 16 Prozent vor der SPD (15,5). Bei aller Fehlertoleranz: auch nach dem Rückzug von Parteichef Martin Schulz ist der Genosse Trend nach unten unterwegs.

Nahles hat sogar schlechtere persönliche Werte als Schulz. Nur 13 Prozent der Bürger halten Nahles für fähig, die Probleme des Landes zu lösen. Eine "angenehme Ausstrahlung" schreiben ihr ebenfalls nur 13 Prozent zu, ermittelte eine forsa-Umfrage für das RTL/n-tv-Trendbarometer. Bei einer Kanzler-Direktwahl würden 16 Prozent sie wählen, Merkel 47 Prozent.

Nahles wirbt auf Regionalkonferenzen um Zustimmung bei der Briefwahl über den Koalitionsvertrag, dessen Ergebnis am 4. März verkündet werden wird. Viele Genossen loben ihr Werben; ihr Erklären der Inhalte von 8.000 neuen Pflegern bis zu sechs Milliarden Euro mehr für die Bildung.

Aber es ist ein Misstrauen der Basis gegenüber der gesamten Führung zu spüren. In Foren wird das Regeln der Schulz-Nachfolge im kleinen Zirkel diskutiert, die Erschütterung über die Chaostage, die Art des Politikmachens. Aber auch die an vielen Bürgern vorbeigehende Sprache im Koalitionsvertrag, wie zum Beispiel: Parität, letale Entnahme oder die Einrichtung einer Enquete-Kommission für Baulandmobilisierung.

Vor allem die Hartz-IV-Reformen von Gerhard Schröder wurden als Regierungsräson von oben verordnet. Der Phantomschmerz reicht bis heute. Nahles war in unfreiwillige Abgängen von drei SPD-Vorsitzenden involviert, ist seit langem im Führungszirkel. Auch der bis zu ihrer im April bei einem Sonderparteitag geplanten Wahl als Interimschef agierende Olaf Scholz ist kein Liebling der Basis. Noch muss es nichts heißen, dass mehrere Mitglieder gegen Nahles antreten wollen.

Was erwartet man von einer Volkspartei?

Aber zum Beispiel die bekannteste der möglichen Gegenkandidaten, Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange, legt den Finger in die Wunde. In den ostdeutschen Ländern seien teilweise 40 Prozent der Haushalte von Sozialleistungen abhängig - hier sei die AfD besonders stark. "Die Frage ist dann doch, ob ein Anheben der Sozialleistungen dazu führt, die Gesellschaft zufriedener zu machen." Hilft das Drehen an den immer gleichen Stellschrauben? Die SPD ist auf Sinnsuche.

Und Nahles ist nicht zu beneiden. Sie muss den Weg zur GroKo ebnen und die grummelnde Basis gewinnen. Doch was, wenn im April der Absturz nicht gebremst ist? Wenn ein Fußballclub den Trainer wechselt, gibt es oft einen Aufbruch und bessere Ergebnisse. Es muss ja nicht ein von der Realität entkoppelter Höhenflug wie bei Martin Schulz sein, der die SPD vor genau einem Jahr in einer Umfrage auf 33 Prozent katapultierte. Jetzt ist es aber nicht mal mehr die Hälfte.

Nun sagen Politiker gerne, Umfragen seien keine Wahlergebnisse. Das stimmt. Aber die Krise der einstigen Volkspartei passt sich rasant ein in den Niedergang der meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa. Personen wie Emmanuel Macron sind wichtiger als Parteien, neue Bewegungen wie in Deutschland die AfD können rasch aufsteigen.

Was ist heute der "kleine Mann", welche Ängste hat er, was erwartet er von einer "Volkspartei"? Unter hohem Druck muss die SPD Antworten finden - aber die Angst der Basis ist: In einer Großen Koalition, wo das eigene Profil weiter verwässert, kann das kaum gelingen.

Das alte Parteiensystem implodiert, auch weil der Wechsel- statt des Stammwählers die neue Normalität ist. Und die SPD hat mit vielen Deregulierungen schon zu Rot-Grün mitgeholfen, dass Millionen Bürger die Globalisierung, den Arbeitsalltag mit prekären Niedrigjobs und Unsicherheit als Fluch, nicht als Segen empfinden. Das erklärt die Renaissance des Begriffs Heimat. Gerade in westdeutschen Kommunen ist die SPD noch stark, aber es fehlt der Nachwuchs, Politik kostet Zeit und Nerven. Es sind vor dem Votum 24.300 Mitglieder neu eingetreten. Aber werden sie bleiben? Oder wollen sie nur die GroKo verhindern?

»Angst essen Seele auf«

Schon der SPD-Chef Sigmar Gabriel versprach vor der vorherigen Großen Koalition, dass parallel die Partei erneuert werden soll. Dann fehlte im Regierungsalltag die Zeit, es gab ein paar Themenlabore - und fast eben so viele Generalsekretäre. Ein Aufbruch mit klarem Ziel konnte sich so nicht entwickeln. Diese Verschleppung trifft die neue Spitze.

Man fühlt sich mit Blick auf so manchen am Küchentisch über den Wahlunterlagen grübelnden Genossen an den Titel des Melodrams von Rainer Werner Fassbinder erinnert, "Angst essen Seele auf." Vom Herzen her ist eine Mehrheit der rund 463.000 Mitglieder gegen ein Weiter so mit Merkel. Hieß es doch schon 2013, jetzt wird alles ganz anders - wir werden Merkel entzaubern und 2017 gestärkt hervorgehen.

Der Koalitionsvertrag wurde anschließend penibel abgearbeitet, die Arbeitsministerin Nahles setzte den historischen Mindestlohn von 8,50 Euro durch - doch es zahlte sich nicht aus. Aber die Angst vor einer Neuwahl, Stichwort AfD, ist inzwischen hinreichend groß, dass dies dem Votum mit zum Erfolg verhelfen könnte. Aber der Patient SPD wäre mitnichten gerettet - er könnte sogar noch mehr leiden als momentan.

Fakten zum SPD-Mitgliederentscheid

Dauer: 20. Februar bis 2. März, 24 Uhr. Alle Briefe, die später im Postfach des Vorstands eingehen, werden nicht berücksichtigt.

Teilnehmer: 463.723 SPD-Mitglieder dürfen abstimmen. Stichtag für neue Mitglieder war ein Parteieintritt bis zum 6. Februar.

Online-Abstimmung: Ist nur für rund 2.300 im Ausland lebende Mitglieder möglich. Klappt der Test, könnte diese Option - neben der Briefwahl - beim nächsten Mal auch im Inland zum Einsatz kommen.

Auszählung: Findet in der SPD-Zentrale, dem Willy-Brandt-Haus in Berlin, statt. Die 120 Freiwilligen müssen ihre Handys abgeben.

Kosten: Die Partei geht von rund 1,5 Millionen Euro aus.

Brieföffnung: Dafür kommen "Hochleistungsschlitzmaschinen" zum Einsatz - sie können pro Stunde rund 20.000 Briefe öffnen.

Die Frage an die Mitglieder: "Soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) den mit der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU) ausgehandelten Koalitionsvertrag vom Februar 2018 abschließen? - Ja oder Nein."

Unterlagen: Die Parteizeitung "Vorwärts" druckte eine Sonderausgabe mit dem 177-seitigen Koalitionsvertrag, die die Mitglieder erhalten, zudem kann er online heruntergeladen werden. Bei den Wahlunterlagen muss man auch eine eidesstattliche Erklärung ausfüllen.

Ergebnis: Wird am Sonntag, 4. März, verkündet, vom Chef der Mandatsprüfungs- und Zählkommission, Schatzmeister Dietmar Nietan.

Quorum: Das Ergebnis für Annahme oder Ablehnung der Koalition ist bindend, wenn mindestens 20 Prozent der Mitglieder abstimmen. Der 45-köpfige Vorstand kann sich nicht über das Ergebnis hinwegsetzen.

Ergebnis Mitgliederentscheid 2013: Abgegebene Stimmen: 369.680 (77,86 Prozent), davon wirksam abgegebene Stimmen: 337.880 - bei vielen eingegangenen Briefen fehlte die eidesstattliche Erklärung. Ja-Stimmen: 256.643 (75,96 Prozent), Nein: 80.921 (23,95 Prozent).

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