Missbrauch in der Kirche:
Einmal Hölle und zurück

Doris Wagner wurde als junge Nonne vergewaltigt. Sie schreibt Bücher darüber, geht in Talkshows und fordert Kardinal Schönborn vor laufenden Kameras heraus: Mit einem Mal hat die Missbrauchsdebatte ein telegenes Gesicht. Aber wer ist die Frau dahinter?

von Kirche - Missbrauch in der Kirche:
Einmal Hölle und zurück © Bild: Ricardo Herrgott/News

Und wenn es noch eines endgültigen Beweises bedürfte, dass Doris Wagner, vormals Schwester Doris, endlich wieder in unserer profanen Echtwelt angekommen ist, dann wäre es genau dieser: Nach der Aufzeichnung der TV-Talkshow "Stöckl" auf dem Wiener Küniglberg durfte sich die ehemalige Nonne den Chauffeurservice zurück zum Airport mit Uschi Glas teilen -und diese begründete ihren darstellerischen Ruhm immerhin auf Unterhaltungsklassikern wie "Hochwürden drückt ein Auge zu". "Die Geistlichen sind dort Lustspielfiguren von gutmütig-skurrilem Zuschnitt", heißt es dazu im "Lexikon des Internationalen Films", und die Hauptfigur, verkörpert durch Georg Thomalla, heißt Pfarrer Himmelreich. Die Geistlichen, die Doris Wagner kennenlernte -sie hatten das Himmelreich in weitestmögliche Ferne gerückt.

Wagner, heute 35, war acht Jahre hindurch Klosterschwester in einer Bregenzer Ordensgemeinschaft. Sie wurde sexuell schwer missbraucht und psychisch massiv unter Druck gesetzt. Es gab Tage, erzählt sie, an denen sie Selbstmord für ihre einzig mögliche Option hielt. Sie schrieb zwei Bücher über ihre beklemmenden Erfahrungen und traf erst dieser Tage den Wiener Kardinal Christoph Schönborn im Bayerischen Rundfunk zu einem bemerkenswerten Zwiegespräch vor laufenden Kameras.

Wagner, ruhig, aber sehr bestimmt: "Ich möchte von Ihnen hören, was ich bisher noch von niemandem in der Kirche in Verantwortungsposition gehört habe: dass Sie mir glauben. Können Sie mir das sagen?"

Schönborn, mit gesenktem Kopf und leiser Stimme: "Ich glaube Ihnen das." Und dann, mit kurzer Pause zwischen jedem Wort, so, als wolle er der Tragweite des soeben Gesagten nachspüren: "Ja -ja -ja."

Scham und Reue

Mit einem Mal hat die katholische Kirche einen Toppromi, der Wagner und somit auch den unzähligen anonymen Opfern öffentlich so etwas wie Scham und Reue entgegenbringt. Und -mit einem Mal hat die Missbrauchsdebatte ein telegenes Gesicht. Das Gesicht einer Frau, die präzise formuliert, offen lächelt und die Medien nicht scheut wie der Teufel das Weihwasser. Jesus Christ's neuer Superstar gewissermaßen, gestern völlig unbekannt, heute bereits im Minivan neben Uschi Glas.

"Wenn ich meine Geschichte erzähle, dann tue ich das im Namen all derer, die Ähnliches oder sogar noch Schlimmeres erleben mussten als ich", sagt Wagner, ehemals Schwester Doris.

Obwohl Schwester Doris, alternierend zum Küchendienst, zeitweilig in der Bibliothek arbeitete, durfte sie selbst niemals Bücher lesen, nicht einmal Heiligenbiografien, nicht einmal moraltheologische Fachlektüre, von den Klassikern der Weltliteratur, die sie aus ihren Gymnasialjahren gewohnt war, ganz zu schweigen.

Laptop: strengstens verboten. Handy: Sünde. E-Mails aus dieser beklemmenden Isolation hinaus ins weite Land der Normalität: Fehlanzeige. Alle eingehenden Briefe wurden von den übergeordneten Schwestern kontrolliert, ausgehende zensuriert. Ein paar Zeilen an die eigenen Eltern, erinnert sich Wagner, habe sie im ursprünglichen Text nicht abschicken dürfen, da er "zu traurig" klang. Ein Brief an ihren ehemaligen Heimatkaplan musste mit der Hand neu geschrieben werden. "Ich habe mich riesig gefreut, von Ihnen zu hören", hatte Wagner leichtfertig formuliert. "Riesig", befahl die Oberin, musste raus, viel zu hochtrabend.

»Wir lebten nicht wie Bräute Christi, sondern wie Prostituierte«

"Ich war gewohnt, es für einen Fortschritt zu halten, wenn mein Trotz, meine Wut, mein Widerwillen weniger wurden und immer schneller klein beigaben", erinnert sich Wagner. Selbstaufgabe als Überlebensstrategie gewissermaßen, ein Survival im klerikalen Bootcamp. Aber war das denn alles im Sinne jenes Gottes, dem sie sich zunächst gutgläubig verpflichtet hatte? "Wir lebten nicht wie Bräute Christi, sondern wie Prostituierte", schreibt Wagner in ihrem Buch "Nicht mehr ich".

Es war nach der Abendanbetung, als Schwester Doris in ihrem Postfach dieses unscheinbare Zettelchen fand: "Wir müssen reden, heute Abend in Ihrem Zimmer." Kurz darauf stand der Regens höchstpersönlich in ihrer düsteren Mansardenkammer. "Er griff mit seiner Hand nach meinem linken Ärmel und öffnete den Knopf", hält Wagner später in ihren Aufzeichnungen fest. "Blitzschnell, als ob er darin geübt wäre, öffnete der die Knöpfe meiner Bluse, und bevor ich den Mund aufbekam, hatte er sie mir schon abgestreift."

Tat ohne Worte, Hände ohne Kraft

Mit ihren kraftlosen Händen habe sie versucht, seinen Händen Einhalt zu gebieten, aber geschafft habe sie es nicht. Kein Wort habe er gesagt, sondern einfach weitergemacht. Später, viel später, als Wagner Anzeige erstattete, war es genau jene Kraftlosigkeit, die auch den Ermittlungen jeden Elan nahm: Schwester Doris, hieß es lapidar, habe sich einfach zu wenig gewehrt, als dass man vor dem Hintergrund des damaligen Sexualstrafrechts von Vergewaltigung sprechen könnte.

"Er machte immer weiter, während ich schon längst nicht mehr da war. In dieser Nacht drückte er den letzten Funken meines Selbst in den Staub und löschte ihn aus", schreibt Wagner. "Als er gegen drei Uhr endlich ging, ließ er nicht mich zurück, sondern eine leere Hülle, ein Wrack."

Tags darauf ging Schwester Doris dann zur Beichte. Eine Berufene gehe nicht mit einem Priester ins Bett, beschied ihr der Beichtvater knapp. Und folgerte: "Du bist ein Werkzeug des Teufels."

Als Mittzwanzigerin also wurde sie im Namen Gottes verteufelt. Heute, gut ein Jahrzehnt später, ist sie die Frau, der Kardinal Schönborn Glauben schenkt. Und an die er sich wendet, wenn er gegen die "Dynamik des Schweigens" im Klerus wettert und im Zusammenhang mit kirchlichem Missbrauch klar und deutlich von "Verbrechen" spricht. Das einstige Vergewaltigungsopfer ist frei von Berührungsängsten, in der "ZiB" tritt sie ebenso unbefangen auf wie bei "Stöckl" oder im Talk mit der "Krone".

Ja, warum denn auch nicht? Wagner ist Mutter eines vierjährigen Kindes, glücklich verheiratet, promoviert dieser Tage in Philosophie und hat einen Bürojob. Doch wie schaffte sie es zurück in ein normales Leben? Und warum um alles in der Welt wollte sie ursprünglich überhaupt ins Kloster?

Schatten der Ausgrenzung

Wer wirklich verstehen will, wie Wagner zu Schwester Doris wurde, muss zurückblicken auf eine Kindheit in der oberfränkischen Provinz. "Unsere Region war schon immer ein Stiefkind der Infrastruktur", erzählt Wagner. Gute Jobs waren stets Mangelware, wer kann, geht, und letztendlich ging auch Doris. Nur bis nach Bregenz zwar -und doch in eine Art Unterwelt.

Aber zunächst war da eine Kindheit, über der ein breiter Schatten gelegen habe, "nämlich jener der sozialen Ausgrenzung". Die Eltern sind einfache Leute, der Vater Dreher, die Mutter Hausfrau. Doris hat sechs Geschwister, sie ist das älteste Mädchen, zwei Brüder leiden unter Autismus. Wagner erinnert sich, wie sie als Elfjährige die großen Einkäufe erledigte: den Kinderwagen vor sich herschiebend, in dem der Bruder saß, links und rechts an den Griffen hingen die prall gefüllten Säcke.

»Man hält es zwar fast nicht aus, aber letztendlich ist ja doch noch Gott da«

Aber, das ist Wagner ganz wichtig, man dürfe sich ihre Familie nicht wie aus dem Trash-TV vorstellen, verzweifelt und verloren zwischen Armut und Alkohol. Nein, die Eltern legten Wert auf Bildung, der Vater versuchte, sich selbst Altgriechisch und Latein beizubringen, daheim wurden die Brandenburgischen Konzerte und gregorianische Choräle gehört -und der Glaube wurde als wichtigste Stütze empfunden. "Man hält es zwar fast nicht aus, aber letztendlich ist ja doch noch Gott da", beschreibt Wagner die beklemmende Atmosphäre ihrer Kindheit und Jugend.

Die Eltern schickten sie aufs Gymnasium. Anfangs wurde sie noch zu Geburtstagen eingeladen, doch als die Gegeneinladungen ausblieben, war Doris bald nur noch die gute Schülerin, von der man gerne abschrieb -aber gemeinsam abfeiern, das dann doch eher nicht. "Ich entwickelte aus der finanziellen Not eine Art Trotz gegen all die Oberflächlichkeiten, die teuren Marken, die Konsumwelt", erzählt sie. Andere hörten die Backstreet Boys, sie hörte auf Jesus. "Die entscheidende Frage, die ich mir stellte, war: Gibt es Gott? Und meine Antwort war: Ja, es gibt ihn, und er hat einen Plan mit meinem Leben."

Die irdischen Filialleiter

Gottes Plan war das eine. Doch der Beitrag seiner irdischen Filialleiter war das andere. Und das Spannungsfeld dazwischen, das war für Schwester Doris unüberbrückbar. Nach acht Jahren streifte sie die zerschlissene Soutane endgültig ab -eine Verweltlichung wie eine Wiedergeburt.

Ein Jahr, sagt sie, habe es gedauert, bis sie sich getraut habe, endlich wieder eine Hose zu tragen, und noch länger, bis sie sich, die früher gerne geschwommen war, einen Badeanzug gestattete. Wie viel Zeit verstrich, ehe sie sich zum ersten Mal leicht schminkte -sie weiß es nicht mehr.

Doch noch in der Ordensbibliothek hatte sie einen Priester namens Alwin kennengelernt, dem sie auf Anhieb vertraute. Der in ihr nicht die demütige Dienerin sah, nicht die ruchlose Verführerin, sondern den Menschen, die Frau. Sie war 24, er 30, und die ersten Umarmungen erfolgten zwischen den Regalen mit all den verstaubten Glaubenswälzern. "Sie waren so unschuldig, so von wechselseitigem Respekt geprägt", sagt Wagner. "Sie waren auch aus geteilter Verzweiflung über die Zustände geboren." Alwin schenkte ihr einen MP3-Player mit Nummern von U2 und Guns N'Roses. Und: Alwin, der eine steile Karriere im Vatikan vor sich gehabt hätte, verließ noch vor Schwester Doris desillusioniert den Klerus.

"Da wusste ich", sagt Wagner, "ich würde mich nie wieder einem blinden, gefühllosen Regelgott unterwerfen. So war Gott nicht. Gott war der, der mir Alwin geschickt hatte, der mir die Freiheit geschenkt hatte. Das war Gott."

Alwin und Doris Wagner sind längst verheiratet. Der TV-Talk "Stöckl" ist abgedreht, nun fliegt sie zurück zu ihm. Aber erst noch im Minivan zum Flughafen: Auf dem Weg plaudert sie mit Uschi Glas. Glas hört Wagner. Das ist besser als "Hochwürden drückt ein Auge zu".

Der Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe von News erschienen.