Schönborn: "So schrecklich, dass man es klar beim Namen nennen muss"

Erzbischof Christoph Schönborn spricht sich für mehr Gewaltenteilung in der römisch-katholischen Kirche aus und erzählt von persönlichen und schmerzhaften Erfahrungen.

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Der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn nimmt diese Woche als Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz an einer von Papst Franziskus angesetzten Tagung zum Thema Kinderschutz in der Kirche im Vatikan teil. Im APA-Interview spricht sich Schönborn für mehr Gewaltenteilung in der römisch-katholischen Kirche aus und erzählt von persönlichen und schmerzhaften Erfahrungen.

Kardinal Schönborn über das Ziel der Tagung zum Schutz von Minderjährigen in der Kirche, die diese Woche in Rom stattfindet:

"Papst Franziskus geht es darum, so etwas wie einen weltweiten globalen gemeinsamen Bewusstseinsstand innerhalb der katholischen Kirche zu erreichen. Damit es gemeinsame Standards gibt, muss es ein gemeinsames Bewusstsein geben. Es muss selbstverständlich werden, dass die Opfer den ersten Platz haben und nicht der Ruf der Institution Kirche. Es geht um die Menschen, um deren Schicksale, um das, was ihnen widerfahren ist, was sie leiden. Ich hoffe, dass es am Schluss dieser Tagung einen Konsens geben wird, dass die schon vorhandenen und klar formulierten Standards, die der Vatikan schon unter Papst Benedikt in den Jahren nach 2000 formuliert hat, wirklich in der gesamten Weltkirche implementiert werden. Wenn das gelingt, dann war dieses Treffen in Rom ein historischer Erfolg."

»Brauchen Reform Richtung Gewaltenteilung«

Über Papst Franziskus' eingeschlagenen Weg in der Missbrauchsdebatte:

"Papst Franziskus ist nicht nur gescheit und fromm, er ist auch schlau, wie er selbst scherzhaft sagt. Er hat alle Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit verpflichtet, mit Betroffenen zu reden, bevor wir nach Rom kommen. Wir müssen persönlich berichten, was wir aus den Gesprächen mit Opfern gelernt haben. Der Papst hat verlangt, dass jeder Vorsitzende dazu auch ein zweiminütiges Video nach Rom schickt. Ich finde das äußerst klug vom Papst. Er will das nicht theoretisieren. Natürlich wird es viel Fachwissen, Expertise und Vorträge geben, aber der Papst möchte erreichen, dass alle, die an dieser Konferenz teilnehmen, auch persönlich von dem, was sie gehört und erfahren haben, betroffen sind. Der Papst will, dass das weltweit State of the art ist: Hinhören. Nicht beiseiteschieben, sondern den Opfern und Betroffenen eine Stimme geben."

Über die Umsetzung der Vatikan-Richtlinien punkto Missbrauch in Österreich:

"Wir haben diese Standards seit Jahren implementiert. Wir haben in jeder Diözese einen Beauftragten oder eine Beauftragte für den Schutz von Minderjährigen. Wir haben in jeder Diözese eine Ombudsstelle, an die sich Opfer von Gewalt und Missbrauch wenden können. Wir haben in jeder Diözese eine Kommission, die diese Vorwürfe prüft und auch darauf schaut, dass das, was strafrechtlich relevant ist, auch wirklich zur Anzeige kommt. Wir sind nicht das einzige Land in der Welt, das diese Standards schon umgesetzt hat, aber es gibt viele Länder und viele Bischofskonferenzen, in denen man noch weit davon entfernt ist."

Warum die katholische Kirche in Österreich beim Missbrauchsthema auf die Arbeit von Nichtklerikern und Laien setzt:

"Es besteht in jeder Berufsgruppe die Gefahr, dass sich ein Korpsgeist bildet und versucht wird, die eigenen Mitglieder zu schützen. Das ist bei Vereinen so, das ist in der Politik so, und das ist eine ganz reale Gefahr im Klerus. Der Klerus ist eine starke Gruppe, viele sind untereinander bekannt oder befreundet. Deshalb braucht es die Kompetenz von Laien, unabhängig von der Kirche, so wie es etwa die Klasnic-Kommission gemacht hat. Da ist kein Kleriker drinnen, da gibt es hoch qualifizierte Juristen und erfahrene Psychiater, und das hat der Klasnic-Kommission eine große Glaubwürdigkeit gegeben."

Über den Nährboden sexuellen Missbrauchs:

"Es hat sich gezeigt, dass sexueller Missbrauch zunächst einmal sehr viel mit Machtmissbrauch zu tun hat, mit einem Autoritätsgefälle zwischen dem Täter und den Betroffenen. In den letzten Monaten und Jahren ist aber das Thema spiritueller Missbrauch sehr stark in den Vordergrund getreten. Wenn Religion, Weltanschauung, Ideologie von einzelnen Personen Guru-haft besetzt wird, wenn spirituelle Autoritäten nicht angreifbar, nicht kritisierbar, nicht hinterfragbar werden, dann ist das ein Nährboden auch für sexuellen Missbrauch. Dieses Phänomen betrifft alle Religionen, aber wir schauen auf die christliche Kirche."

Über die Wiedergutmachungszahlungen der katholischen Kirche in Österreich:

"Die 27 Millionen Euro an freiwilligen außergerichtlichen Wiedergutmachungszahlungen, die die katholische Kirche geleistet hat, betreffen einen Zeitraum von über 60 Jahren, in ganz Österreich, alle Diözesen und alle Orden. Die Stadt Wien hat für das Kinderheim am Wilhelminenberg 40 Millionen an Wiedergutmachungen nach den gleichen Kriterien wie die katholische Kirche gezahlt. Ich sage das nicht, um irgendetwas zu rechtfertigen, ich glaube nur, es ist eine Sache der Gerechtigkeit darauf hinzuweisen, dass das Thema Missbrauch ein gesamtgesellschaftliches ist und dass Gott sei Dank in der Zivilgesellschaft die Bereitschaft aufzuarbeiten, wieder gut zu machen, sehr stark gewachsen ist."

Der Kardinal über sein Gespräch mit der Ex-Ordensfrau Doris Wagner, die von einem Priester ihres Ordens vergewaltigt wurde:

"Ich kenne die Gemeinschaft, zu der Doris Wagner gehört hat, seit 52 Jahren. Ich habe sehr viel Positives von dieser Gemeinschaft erlebt, habe dann aber das Buch von Doris Wagner gelesen, war sehr beeindruckt von der Qualität dieses Buches, und ich hatte irgendwie den Eindruck, es fehlt vonseiten der Kirche eine offizielle Reaktion, ein Schritt auf sie zu, um zu zeigen, 'wir haben das gehört, was Sie sagen'. So habe ich ihr ein Mail geschrieben und ihr mitgeteilt, dass ich bereit wäre, ein öffentliches Gespräch mit ihr zu führen. Wir haben dann telefoniert und waren uns sehr schnell einig, dass ein solches Gespräch etwas Gutes sein kann. Wir haben dann fast vier Stunden unmoderiert vor laufender Kamera miteinander gesprochen, in der Dynamik eines sehr persönlichen aber sachorientierten Gesprächs. Der Bayerische Rundfunk hat dann diese 45-Minuten-Sendung gemacht. Die Reaktionen waren überwältigend positiv. Wir überlegen auch, unser Gespräch als Buch zu veröffentlichen."

Zur Kritik des betroffenen Vorarlberger Ordens "Das Werk" an Schönborns Gespräch mit Doris Wagner:

"Ich bin mit dem 'Werk' im Gespräch. Die Reaktion war verständlich. Das schmerzt einfach. Es sind schon einige Schritte erfolgt, aber da ist von dieser Gemeinschaft noch ein Schritt in Richtung mehr Transparenz und Überdenken der eigenen Strukturen erforderlich."

Zur einst selbst erlebten sexuellen Belästigung durch einen Pfarrer, der den jungen Schönborn gerne geküsst hätte:

» Ich möchte nur klarstellen, ich betrachte mich nicht als Missbrauchsopfer«

"Nach heutigen Standards würde man selbst das als versuchten Missbrauch qualifizieren. Ich möchte nur klarstellen, ich betrachte mich nicht als Missbrauchsopfer. Wenn ich die Geschichten von den Opfern höre, dann kann ich mich im Vergleich zu den wirklich schlimmen Dingen, die diese Menschen erlebt haben, einfach nicht als Missbrauchsopfer outen. Darum habe ich mich über diese mediale Darstellung wirklich geärgert. Es war auch nicht ordentlich hingehört. Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich mich als Missbrauchsopfer sehe."

Über den Kulturwandel in Sachen sexuellen Missbrauchs:

"Mir ist heute beim Frühstück eine Erinnerung gekommen, die ich ruhig auch sagen kann: Ein bekannter mittlerweile längst verstorbener deutscher Politiker war immer wieder zum Jagen in Schruns, wo ich zuhause bin. Meine Schwester war einmal mit Freunden im gleichen Lokal und als sie dort den Lift benutzt hat, kam der Politiker herein. Sie war mit ihm allein im Lift, und er hat sofort begonnen, sie zu begrapschen und sie wirklich schwer bedrängt. Sie hat uns das unmittelbar danach erzählt. Wenn man sich das heute vorstellt - ein Politiker, dem so etwas vorgeworfen wird, der muss sofort sein Amt zurücklegen. Damals wurde das als Kavaliersdelikt betrachtet. Die Kultur in unserer Gesellschaft hat sich enorm verändert. Das ist in keinster Weise eine Entschuldigung für das, was in der Kirche geschehen ist. Es ist so schrecklich, dass man es wirklich klar beim Namen nennen muss, aber Gott sei Dank ändert sich diese Kultur."

Über 1968, Sexualität und die #Metoo-Bewegung:

"Ich bin ein Alt-68er. Ich kann mich noch gut erinnern, wie in der revolutionären Literatur, Pädophilie propagiert worden ist. Sexualität mit Kindern wurde - auch von politischen Gruppierungen - als etwas dargestellt, was auch den Kindern gut tut. Die #Metoo-Bewegung wäre in den 1960er- und 1970er-Jahren undenkbar gewesen. Das war kulturell nicht da. Dass sich heute Skifahrerinnen melden, was ihnen von unseren Stars angetan wurde, die alle bewundert haben. Was sich in der katholischen Kirche abspielt, ist Teil eines großen Prozesses eines kulturellen Wandels, der Gott sei Dank jetzt globalisiert wird."

Über den Missbrauch von Nonnen und Ordensfrauen:

"Papst Franziskus hat den Missbrauch an Ordensfrauen am Beispiel einer französischen Gemeinschaft angesprochen. Man weiß seit Jahren, dass es in Afrika Missbrauch von Ordensfrauen gibt, und dass das als Kavaliersdelikt betrachtet wird. Da muss ein kultureller Wandel kommen. Das was jetzt geschieht ist auch ein Teil einer Aufklärung, die von den Standards des Evangeliums her ohnehin selbstverständlich sein müsste."

Zur notwendigen Reform von Struktur und Hierarchie der Kirche:


"Die Kirche muss immer reformiert werden, zu jeder Zeit und in jeder Generation. Wir brauchen einen Reformschritt in Richtung Gewaltenteilung. Dass es Autorität und Leitung braucht, ist klar, aber wer kontrolliert die Autorität, die Art wie der Bischof oder Pfarrer sein Amt führt. Wir haben im wirtschaftlichen Bereich relativ klare Kontrollmechanismen, da gibt es Checks and Balances. In der täglichen Ausübung der Autorität des Bischofs oder Pfarrers gibt es zwar auch den Bischofsrat oder den Pfarrgemeinderat, aber die Gewaltenteilung ist noch zu wenig entwickelt. Hier gibt es echten Reformbedarf, und ich glaube, es gibt einen Bereich, wo das besonders spürbar ist. Das ist die Unausgewogenheit der Autorität in der Kirche zwischen Männern und Frauen. Wie eine Reform konkret funktionieren kann und wird, das weiß ich nicht, aber ich weiß dass es notwendig ist."

Über veröffentlichte Skandale und die Affäre Groer:

"Ich sage ihnen ein sehr ehrliches Wort: Mir ist das nicht angenehm, dass diese Skandale öffentlich werden. Mir wäre am liebsten, es hätte sie nicht gegeben. Und ich kann mich erinnern: Im Drama um meinen Vorgänger vor 24 Jahren war ich zunächst ganz entsetzt. Ich konnte es nicht glauben, habe es zunächst negiert, musste mich dann zwei Tage später dafür entschuldigen und sagen, ich hab es nicht gewusst, und es ist schlimm. Es ist für jeden Betroffenen in der Institution und Gemeinschaft - wir sind ja quasi eine Großfamilie - hart. Das offenzulegen tut einfach weh. Warum kommen so wenig Fälle aus Familien in die Justiz? Weil eine Familie zusammenhält, wer zeigt schon den eigenen Vater an. Ich verstehe auch die Leute in unseren Reihen, die sagen, Schmutzwäsche wäscht man doch nicht öffentlich, das muss doch intern geklärt werden. Nein! Es muss auch öffentlich geklärt werden, vor allem wenn es strafrechtlich relevant ist, wenn Menschen deswegen bleibenden Schaden erlitten haben."

Über konservative Kräfte und Vertuschung:

"Jesus hat gesagt, die Wahrheit wird euch frei machen, aber die Wahrheit tut auch weh. Ich glaube nicht, dass das ein Problem von konservativ oder fortschrittlich ist. Das ist ein sehr stark emotionales Problem. Wir haben in Österreich schmerzlich gelernt, dass es wirklich so ist, dass die Wahrheit befreit, aber es war ein Lernprozess. Vertuschung ist eine starke Versuchung in der großen Familie der Kirche. Aber wir haben uns ganz klar entschieden, wir wollen den Weg der Wahrhaftigkeit gehen, auch wenn es wehtut, weil das der Weg ist, der den Opfern und Betroffenen am ehesten gerecht wird. Wiedergutmachungszahlungen sind wichtig, aber noch wichtiger ist das, was Doris Wagner mir gesagt hat: 'Glauben Sie mir das?' Und ich habe ihr ehrlich gesagt, 'ja, ich glaube Ihnen das'. Die Opfer erwarten, dass sie ernst genommen werden, und das geht nur, wenn die Wahrheit zugelassen ist."

»Jesus hat gesagt, die Wahrheit wird euch frei machen, aber die Wahrheit tut auch weh«

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