Gefangen in den Wäldern der Wut

Georg P. ist ein kirchliches Missbrauchsopfer, anerkannt von der zuständigen Kommission, nicht aber von der eigenen Familie - denn der eigene Bruder ist katholischer Würdenträger

von Missbrauch - Gefangen in den Wäldern der Wut © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Für die von der katholischen Kirche eingesetzte Opferschutzkommission bestanden nach Einsicht in die polizeilichen Protokolle und psychologischen Gutachten keinerlei Zweifel mehr: Georg P., Landwirtschaftstechniker aus dem Innviertel und heute 41 Jahre alt, war zwischen seinem zehnten und 15. Lebensjahr von einem Benediktinerpater namens Berthold missbraucht worden. Regelmäßig, systematisch und brutal. Kirchenintern wird der Gottesmann mittlerweile sogar als "gefährlicher Krimineller" und "hochgradig psychisch kranker Mensch" eingestuft. Zu spät für Georg, denn Pater Berthold verstarb vor nunmehr acht Jahren - ohne je vor einem irdischen Gericht Rechenschaft abgelegt zu haben. Und ohne etwas von der Strahlkraft eingebüßt zu haben, die er in all den Jahren zuvor auf Georgs Familie ausgeübt hatte.

"Ich will dir ja helfen, aber es darf nichts Schlechtes über die Kirche gesagt werden, denn dein Bruder verkündet das Evangelium", erklärte Georgs Mutter ihrem Sohn, als er mit ihr vor ein paar Jahren, bereits als Mittdreißiger, erstmals über sein Kindheitsmartyrium zu sprechen versuchte.

»Meine Mutter sagte mir, dass ich den Teufel in mir trage und zur Beichte gehen soll«

Ihr zweiter Sohn, Georgs um zwei Jahre älterer Bruder, hatte nämlich, inspiriert und motiviert durch Pater Berthold und dessen Kollegen, mittlerweile selbst in der Kirche Karriere gemacht: Nach seinem Theologiestudium ist er Pfarrer geworden und bekleidet heute sogar einen hochrangigen Posten im Umfeld eines Bischofs. "Ich will meiner Mutter nichts vorwerfen", sagt Georg. "Aber als sie zu mir sagte:,Du trägst den Teufel in dir, du solltest beichten', hat mich das schon schwer getroffen."

Oberflächlich betrachtet ist Georgs Fall einer von vielen, viel zu vielen. Bei genauerem Hinsehen offenbart er jedoch, mit welch perfider Weitsicht sich ein Würdenträger zur Befriedigung seiner Lust in der Seele eines Kindes einnistete - und nebenbei dessen gesamte Familie infiltrierte.

Georgs Eltern sind einfache Bauern. Arbeitsam, hart zu sich selbst, gottesfürchtig. Welch Ehre, als da plötzlich Pater Berthold, der stattliche Kirchenmann, in die Stube trat und wortreich über das Zweite Vatikanische Konzil und den damit einhergehenden Werteverfall schwadronierte; als der Repräsentant des Herren generös das Vieh im Stall segnete -und als er Georg und dessen älteren Bruder, die nie zuvor auf Urlaub gewesen waren, zu mehrtägigen Ministrantenausflügen einlud.

Einmal ging es auf ein Schloss ins nahe Mühlviertel, ein anderes Mal ins Lavanttal, dann nach Passau, zuletzt sogar in die Schweiz. Provinz zwar, aber für die Buben vom Bauernhof dennoch eine völlig neue, faszinierende Welt. Und so entspann sich ein Wechselspiel aus kleinen Aufmerksamkeiten und immer abartigeren Gegenleistungen. Ein Spiel, in das Georgs Bruder nicht mehr involviert war: "Während ich eher Halt suchte, war er schon sehr eigenständig, bei dem hat die Masche nicht so funktioniert", sagt Georg.

Schmerzvolles Geheimnis

Wohl aber beim Jüngeren: Da ein Besuch im Eissalon, dort erste, noch wie beiläufig wirkende Berührungen. Da ein Kinobesuch - Georg erinnert sich an "Otto, der Film" -, dort immer eindeutigere Annäherungen. Da eine neue Hose aus dem Kaufhaus in der Stadt, dort erste heimliche Zwischenstopps im Wald. Da ein buntes Schlauchboot, ein Abendessen im Restaurant, sogar mit Wein, ein Briefmarkenalbum -und immer wieder diese Zwischenstopps im Wald. Auszug aus Georgs Zeugeneinvernahme: "Ich habe gesagt ,Mir tut das so weh, Herr Pater", ich habe immer ,Sie' gesagt." - Hochwürdens Antwort: "Brauchst dich nicht fürchten, Georg, ich werde immer auf dich aufpassen."

Pater Berthold habe immer wieder "über die griechische Mythologie gesprochen, über das Besondere der Liebe des Mannes zum Knaben". Und darüber, dass "erst durch Eva das Unreine in die Welt gekommen sei". Das zwischen Georg und ihm, das sei hingegen etwas ganz Besonderes, so kostbar, dass es vor der Außenwelt um jeden Preis geheim gehalten werden müsse. Georgs Eltern wiederum habe er weisgemacht, dass sie als Vertreter der Bauernschaft die letzte Bastion gegen den Glaubensverfall seien, zudem war mit dem Besuch des Oberstufengymnasiums die priesterliche Karriere von Georgs Bruder bereits vorgezeichnet - und so blieb das Unsagbare konsequent ausgespart. Über Jahre, Jahrzehnte hinweg.

Heute arbeitet Georg im Außendienst. Immer, wenn er übers Land fährt, muss er durch die düsteren Wälder der Kindheit. "Für mich ist das noch immer kontaminiertes Gebiet." Zu seinen Eltern hat er kaum Kontakt, zu seinem Bruder, heute Fachmann für Moraltheologie mit Spezialgebiet Sexualmoral, noch weniger. "Bei unserem letzten Gespräch hat er mir gesagt, dass mir meine Wut rein gar nichts bringt."

Das weiß Georg. Deswegen versucht er sie zumindest in Worte zu fassen - weil er möchte, dass ein Talar kein Mantel des Schweigens mehr sein kann.

Kommentare

Übrigens kann man anhand des doppelten Spiels, das "die Kirche" da im Hinblick auf Kinderschutz treibt, wirklich nur wütend werden. Ich halte das sogar für die einzig angemessene Reaktion. Sie zeugt von Menschlichkeit. Von jemandem, dessen Gefühle echt sind, weil das moralische Empfinden nicht verwurstet wurde.


Ich wünsche Georg P. bei seinem Versuch, an den bisherigen opferfeindlichen Einstellungen in seinem Umfeld etwas zu verändern, viele UnterstützerInnen und alles Gute! Nur so funktioniert dann auch der Kinderschutz.

Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen erwachsenen Menschen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden


Das bedeutet nicht, dass man sich von Eltern und Geschwistern abwenden muss. Aber man sollte versuchen, sie mit den Augen des Erwachsenen zu sehen. Als das, was sie offensichtlich sind, nämlich nicht in der Lage, sich reif mit traumatischen Anteilen der eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen. Und folglich damit überfordert, Kinder zu schützen.

Wichtig ist, als erwachsenes Opfer eine gesunde Distanz zu allen Menschen einzunehmen, die sich am Missbrauch und dessen Vertuschung beteiligt hatten oder das fortgesetzt tun. Und das sind auch bei Tätern, die Institutionen oder von außen kommen, oft die eigenen Familienmitglieder.

Jedes Missbrauchsopfer muss seinen eigenen Weg finden, das, was ihm widerfahren ist aufzuarbeiten. Häufig hilft eine zertifizierte psychotraumatologische Behandlung, oder der Kontakt zu Fachberatern. Andere schließen sich Opferverbänden an oder betreiben Selbsthilfe. Manche engagieren sich im Kinderschutz bzw. wählen Helferberufe.

Einige der Männer und Frauen, die ihre Sexualität nicht auf erwachsene Weise leben können, weil sie dazu zu gestört und in ihrem Charakter zu deformiert sind, wählen den Weg in eine kirchliche Funktion indem Ordensfrau oder Priester werden. Die von Dopplung gekennzeichnete katholische Sexualmoral tut ein Übriges. Und macht die katholische Religionsgemeinschaft zum idealen Tatort.

Die auch dann fortgesetzt wird, wenn die Opfer später eigene Familien gründen und ihre Kinder schützen wollen. Weil sie sich von den Missbrauch fördernden Überzeugungen nicht gelöst haben, gelingt ihnen das häufig nicht. Manipulative Missbrauchstäter erspüren das und machen sich gezielt auf die Suche nach Menschen, die es in besonderer Weise gewohnt sind, Missbrauch zu beschweigen.

So etwas ist viel verbreiteter als uns die verbreiteten Klischees von der weiblichen und männlichen Sexualität glauben machen wollen. Da missbrauchende Mütter und Väter alles daran setzen, zu vertuschen, was sie ihren Kindern antun, entwickeln solche Familien eine Tradition des Verschweigens und Tabuisierens.

Ein Kind kann, im Gegensatz zum Erwachsenen noch nicht zwischen Liebe und Sex unterscheiden. Durch das Gierige und Aggressive, das jedem Sexualakt ein Stück weit inne wohnt, wird es geschockt. Es kann sein, dass „Liebe“ fortan von diesem Kind als etwas Böses und Bedrohliches eingeordnet wird. Denn es kennt nur eine besonders schmutzige Form davon.

So ist es möglicherweise auch bei Pater Berthold passiert, seine abwertenden Äußerungen über Frauen im Zusammenhang mit sexuellen Praktiken deuten darauf hin. Die Sexualität des Vaters wirkt auf seine Tochter bedrohlich, unfassbar und brutal, wenn er sie missbraucht und das gilt auch für den kleinen Jungen, der von seiner eigenen Mutter sexuell ausgebeutet wird.

Seite 1 von 2