Schmerzen ohne Ende

1,5 Millionen Österreicher leiden unter chronischen Beschwerden. Was hilft?

Rund 1,5 Millionen Menschen leiden in Österreich an chronischen Schmerzen, bei bis zu 450.000 ist der Schmerz zu einer eigenständigen Krankheit geworden. Neben der körperlichen Belastung können Angst um den Arbeitsplatz, soziale Nachteile und Depressionen die Folge sein.

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Migräne - Schmerzen ohne Ende

Wohin geht mein Leben? Bin ich mit 40 Jahren tot?", fragte sich Katharina Schweiger, als sie 35 war. Der Grund für den Leidensdruck: Migräneanfälle. Mit normalen Kopfschmerzen haben diese Attacken nichts zu tun. Die Schmerzen beherrschen den ganzen Körper, führen bis zum Erbrechen, versetzen Betroffene in einen elenden Zustand, in dem sie nur noch in der Lage sind, in einem dunklen Zimmer zu liegen und zu hoffen, dass die Medikamente endlich wirken. Drei Stunden bis drei Tage können solche Anfälle dauern.

Ihren ersten Migräneanfall hatte die Wienerin mit 18 Jahren: "Meine Eltern waren nicht zu Hause. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich die Mutter einer Freundin angerufen habe. Sie hat den Notarzt geholt." Die Attacken wurden immer häufiger: Zunächst waren es drei bis vier im Monat, mittlerweile hat Schweiger täglich Schmerzen, kann ohne Tabletten gar nicht aufstehen.

»Die Schmerzen beherrschen den ganzen Körper und können bis zum Erbrechen führen«

Die Diagnose Migräne hat sie sich selbst erlesen. "Zum Arzt bin ich nicht gegangen. Wer geht wegen Kopfschmerzen zum Arzt?" Erst vor neun Jahren war sie erstmals bei einem Neurologen, der ihr Triptane verschrieb, spezielle Arzneimittel zur Akutbehandlung von Migräne. Seit drei Jahren ist sie bei einer Spezialistin für Kopfschmerzen in Behandlung und kann ihren Alltag ohne allzu große Einschränkungen bewältigen. Eine große Erleichterung für die 42-Jährige. Eine wirksame Therapie hat sie aber nicht gefunden.

Katharina Schweiger ist eine von 1,5 Millionen Menschen in Österreich, die an chronischen Schmerzen leiden. Bei 300.000 bis 450.000 hat sich der Schmerz zu einer eigenständigen Krankheit verselbstständigt. Laut Definition der österreichischen Schmerzgesellschaft sind chronische Schmerzen solche, die länger als zwölf Wochen beziehungsweise länger als die erwartbare Heilungsdauer etwa nach einer Operation oder einem Unfall dauern, oder die immer wiederkehren.

Jahrelange Ungewissheit

Betroffene schätzen ihre Lebensqualität - für jeden nachvollziehbar -deutlich geringer ein als gesunde Menschen. Die Hälfte gibt an, dass der Schmerz ihr Berufsleben unmittelbar beeinträchtigt. Ein Drittel fürchtet um den Arbeitsplatz, elf Prozent sind berufsunfähig. Vom ersten Auftreten der Schmerzen bis zur Diagnose, woher sie kommen, vergehen durchschnittlich zweieinhalb Jahre, bis zur Behandlung drei Jahre. Die Folgen können schwerwiegend sein. "Ein akuter Schmerz hat einen Sinn. Er ist ein Warnsignal des Körpers, das etwas nicht stimmt. Wird er aber nicht richtig therapiert, dann merkt sich das Schmerzgedächtnis diesen Schmerz", sagt Wolfgang Jaksch, Arzt an der Abteilung für Anästhesie, Intensiv-und Schmerzmedizin im Wilhelminenspital und Präsident der österreichischen Schmerzgesellschaft.

Bei Karin Gussmack vergingen 30 Jahre, bis sie die Diagnose Fibromyalgie erhielt, eine Krankheit, die sich durch Schmerzen in Muskulatur, Gelenken und Organen kennzeichnet. Zum ersten Mal traten die Beschwerden in der Pubertät in den Knien auf. Wachstumsschmerzen hieß es damals. Die Schmerzen breiteten sich auf beide Beine aus, während ihrer Friseurlehre machten sie sich in Schultern, Nacken und Rücken bemerkbar, später in den Ellbogen und Handgelenken. Die Schmerzen wurden unerträglich stark, mit der Zeit kamen Magen- und Darmschmerzen sowie Übelkeit dazu. "Ich bin von Arzt zu Arzt gelaufen. Keiner konnte wirklich helfen", sagt die 52-jährige Niederösterreicherin. "Das Schlimme an dieser Krankheit ist: Sobald die Schmerzen da sind, gehen sie nicht mehr weg."

»Manche leiden auch an Angstzuständen, weil der Schmerz unberechenbar ist«

Erst als sie ihr Hausarzt an einen Rheumatologen überwies, weil ihm auffiel, dass es ihr im Winter schlechter ging als im Sommer, kam die Diagnose Fibromyalgie. Therapie gibt es keine. "Das einzige, was mir Linderung bringt, ist der Heilstollen in Gastein. Aber den übernimmt die Krankenkasse nicht, und ich muss die Aufenthalte selber bezahlen", sagt Karin Gussmack. Ständig Schmerzen zu haben oder befürchten zu müssen, dass sie zurückkommen, hat nicht nur körperliche, sondern auch seelische und soziale Folgen. "Die Hauptfolge sind depressive Erkrankungen. Die Menschen sind ständig damit beschäftigt, gegen die Schmerzen zu kämpfen. Sie stecken voller Hoffnungen, dass der Schmerz mit herkömmlichen Mitteln gelindert werden kann", sagt der klinische Psychologe und Psychotherapeut Wolfgang Pipam vom Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin (ZISOP) am Klinikum Klagenfurt. "Viele könnten einen Reiseführer schreiben zu allen Ärzten und Wunderheilern Österreichs. Aber diese Hoffnungen werden jedes Mal zerschlagen. Manche leiden auch an Angstzuständen, weil der Schmerz unberechenbar ist."

Unverständnis des Umfelds

Dazu kommt, dass Betroffene oft auf Unverständnis und Misstrauen ihrer Mitmenschen stoßen, weil ihnen ihre chronische Erkrankung nicht anzusehen sind wie ein gebrochenes Bein. "Viele haben auch normale Phasen. Sie müssen dauernd erklären, dass es ihnen schlecht geht. Dieser Rechtfertigungsdruck belastet die Patienten enorm und fördert das depressive Geschehen", erklärt Pipam.

Karin Gussmack hat das selbst erlebt: An schlechten Tagen liegt sie im Bett, an guten kann sie fast normal spazieren gehen. "Viele Leute tuscheln, weil sie mich ja nur an den guten Tagen sehen. Ich bin oft als eingebildet krank oder faul abgestempelt worden." Auch Katharina Schweiger kennt Sprüche wie: "Na und? Kopfweh hat jeder!" Auf gute Ratschläge, etwa: "Trink genug Wasser", reagiert sie mittlerweile ziemlich genervt. Auch um dem aus dem Weg zu gehen, ziehen sich nicht wenige Schmerzpatienten zurück.

»Ich bin oft als eingebildet krank oder faul abgestempelt worden«

Am Arbeitsplatz entstehen Fehlzeiten, Betroffene fürchten, beim nächsten Krankenstand ihre Stelle zu verlieren, sie müssen Schmerzmittel nehmen, was zu Konzentrationsschwierigkeiten führt. Andere gelten aufgrund ihrer chronischen Erkrankung als unvermittelbar, wie Karin Gussmack von Fibromyalgie-Patienten erzählt. Katharina Schweiger hat erlebt, dass sich der Freundeskreis verändert, weil es manchen Menschen schlicht zu mühsam ist, dass chronisch Kranke bei Einladungen oder gemeinsamen Urlauben jederzeit ausfallen können.

Die Diagnose ist ein Schlag

Selbst wenn sie nach jahrelangem Suchen endlich wissen, welche Krankheit sie haben, ist die Diagnose für viele Betroffene wie ein Keulenschlag, weil ihnen bewusst wird, dass sie nicht wieder schmerzfrei werden. Junge Menschen trifft es noch härter als Ältere, weil bei ihnen Erwerbstätigkeit, Beziehungen und Familienleben beeinträchtigt werden. "Nach meiner Diagnose bin ich in ein tiefes Loch gefallen, weil mir klar wurde, dass es keine Heilung und keine echte Hilfe gibt", sagt Karin Gussmack.

Damit fertig zu werden, ist alles andere als leicht, damit umzugehen, noch viel schwieriger. "Es ist wichtig, dass die Patienten lernen, ihr Leben mit dem Schmerz zu akzeptieren und es zu bewältigen. Dass sie sich sagen können: Ich habe zwar Schmerzen, aber ich kann trotzdem ein gutes Leben führen", sagt Rudolf Likar, ärztlicher Leiter des ZISOP. "Wenn sich der Tagesrhythmus nur noch um den Schmerz dreht, dann lebe ich nicht mehr mein Leben, sondern das des Schmerzes."

»Nach meiner Diagnose bin ich in ein tiefes Loch gefallen, weil mir klar wurde, dass es keine Heilung und keine echte Hilfe gibt«

Darum sollen die Patienten lernen, im Leben zu bleiben, sich an dem zu orientieren, was ihnen wichtig ist, sich ohne Zwang für neue Erfahrungen zu öffnen, aktiv zu bleiben. Katharina Schweiger bestätigt: "Für mich ist meine Arbeit eine Form der Therapie. Egal, wie schlecht es mir geht, ich werde nie aufhören, zu arbeiten."

Ein wichtiger Schritt, um sich wieder im Alltag bewegen zu können, ist, Verständnis zu ernten, für glaubwürdig erachtet zu werden. "Chronische Schmerzpatienten erwarten sich auch Zeit. Die Akzeptanz, die Patienten beim Arzt erfahren, macht wahrscheinlich 50 Prozent der Wirkung aus, weil Dopamin ausgeschüttet wird, wenn mir jemand zuhört. Das Gefühl, dass einen jemand ernst nimmt, ist einer der wichtigsten Aspekte bei der Behandlung von Schmerzpatienten. Aber bei der heutigen Fünf-Minuten-Medizin, die vielerorts praktiziert wird, ist das nicht mehr möglich", sagt Likar. Die Folge ist, dass Patienten von Arzt zu Arzt gehen, weil sie nirgends das bekommen, was sie brauchen.

Wenig Therapieangebot

Akzeptanz und Verständnis erhalten Betroffene auch in Selbsthilfegruppe, weil sie dort nicht erklären müssen, was mit ihnen los ist. Karin Gussmack gründete nach ihrer Diagnose die Selbsthilfegruppe Fibromyalgie, die sich vor allem über Facebook austauscht. Katharina Schweiger ist in der Wiener Zweigstelle der Selbsthilfegruppe Kopfweh aktiv, die sich in mehreren Bundesländern engagiert.

Die Mediziner des ZISOP verfolgen einen multimodalen Ansatz, ihre Patienten erhalten medizinische Betreuung, Physiotherapie und Psychotherapie, mit Meditation wurden ebenfalls gute Ergebnisse erzielt. Interdisziplinäre Therapieangebote sind aber selten, kritisiert Wolfgang Jaksch von der Schmerzgesellschaft, genauso, wie es viel zu wenig Prävention gibt. Krankheiten wie Fibromyalgie oder Migräne sind genetisch bedingt, andere werden durch den Lebensstil beeinflusst -so wie Rückenschmerzen, die häufigste Ursache für chronische Schmerzen. "Der Grund dafür ist häufig zu wenig Bewegung und Übergewicht. Rückenschmerzen verursachen in Österreich jährlich Kosten von etwa 3,5 Milliarden Euro", sagt Jaksch. "Da wäre es doch sinnvoller, in die Prävention und frühzeitige Therapie zu investieren. Eine tägliche Turnstunde in den Schulen wäre zum Beispiel sinnvoll." Und ein Weg, vielen Menschen viel Leid zu ersparen.

Information: Selbsthilfe

Plattform. Die "Allianz Chronischer Schmerz" ist ein Zusammenschluss von über 50 Selbsthilfegruppen in ganz Österreich. Sie informiert zum Thema Schmerz, listet Anlaufstellen für Betroffene auf und setzt sich mit einer Petition für die Anerkennung von Schmerz als eigenständige Krankheit ein.

Hier geht's zur Homepage der "Allianz Chronischer Schmerz Österreich"