"Für mich ist
Selbstmord eine Option"

Sein aufwühlendes Kammerspiel über die Liebe verschaffte Michael Haneke den Oscar. Mit "Happy End" legt er ein nicht minder verstörendes Epos über die Sehnsucht nach dem Tod vor

von
Kultur - "Für mich ist
Selbstmord eine Option"

Alles, was Georges Laurent will, ist das Ende. Sein Ende. Die Baufirma hat der betagte Patriarch in die Hände seiner Tochter Anne gelegt. Sohn Thomas ist Arzt, in zweiter Ehe verheiratet und kämpft mit Schuldgefühlen, seit seine erste Ehefrau an einer Überdosis Beruhigungsmittel gestorben ist. Tochter Eve, ein Mädchen im Teenageralter, ist in die familiäre Villa in Calais eingezogen und dokumentiert das Familienleben mit ihrem Smartphone. Über ihre Ängste aber schweigt sie, so wie jeder in der Familie Laurent.

Die Laurents sind das Personal von Michael Hanekes jüngstem Werk "Happy End", das derzeit in Österreichs Kinos zu sehen ist. Das verstörende Porträt einer wohlhabenden, aber emotional devastierten Familie wurde von einer österreichischen Fachjury zum Wettbewerb um den Oscar entsandt. Für Haneke wäre das nach "Amour"(2013) die zweite Auszeichnung durch die amerikanische Filmakademie. Das aber berührt ihn im Gespräch mit News wenig. "Ich erwarte mir gar nichts. Ich lass mich überraschen. Preise sind unvorhersehbar", sagt er gelassen.

Die Titel Ihrer Filme verheißen oft Idyllen wie "Happy End" und "Amour" ("Liebe"). Die Geschichten aber erzählen vom Sterben. Ist die Welt des Michael Haneke so düster?
Was ich erzähle, ist nicht düster, sondern bloß real. Wenige erwachen jeden Morgen mit einem Lachen. Ich auch nicht. Trotzdem ist der Film eher eine Farce. Tragödien können wir nicht mehr für uns in Anspruch nehmen, angesichts der wahren Tragödien um uns herum. Tragödien, die wir und unsere Vorfahren mitverursacht haben. Die Tragödie ist ausgewandert aus Europa und in die Dritte Welt übersiedelt. Wir sollten uns also bescheiden und mit der Farce begnügen, auch wenn das unserm Stolz nicht guttut.

»Was ich erzähle, ist nicht düster, sondern bloß real«

Eve, ein Mädchen im Teenageralter, betrachtet das Familienleben durch ihr Smartphone und dokumentiert damit, scheinbar unberührt, was sie sieht. Sind wir durch die Digitalisierung emotionsloser geworden?
Das ist Ihre Interpretation. Ich möchte niemandem erklären, wie man meinen Film zu sehen hat, aber wenn Sie das so sehen wollen, ist nichts dagegen zu sagen. Ich liefere das Anschauungsmaterial, jeder darf sich daraus das nehmen, was er möchte. In der Tat hat die mediale und digitale Revolution die Welt in den letzten 15 Jahren in noch nie da gewesenem Maß und in noch nie da gewesener Schnelligkeit verändert. Wir haben heute unendlich mehr Informationsmöglichkeiten. Aber wissen wir mehr von der Realität? Was weiß ich denn von Mali oder Afghanistan? Das, was mir die Pressefotografen und Journalisten davon erzählen. Also weiß ich nichts außer ein paar widersprüchlichen Fakten und ein paar sensationslüsternen Fotos und Filmen, welche wieder gefiltert sind durch die Zeitungs- und TV-Redaktionen in den diversen Ländern mit ihren diversen von der Politik vorgegebenen Orientierungen. Also weiß ich im Grunde nichts. Ich kann es bloß glauben. Wie ich an den lieben Gott glauben kann. Sprechen Sie mir nicht von Realität, wenn Sie von den Medien sprechen.

Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignant verkörpern auch in "Happy End" zentrale Figuren. Schreiben Sie Ihre Rollen für bestimmte Schauspieler?
Wenn ich mir Rollen einfallen lasse, versuche ich, für Leute zu schreiben, die ich kenne und schätze. Das erleichtert die Arbeit.

Jean-Luis Trintignant ist an Krebs erkrankt. Im Film spielt er einen alten Mann, der sich nur noch nach dem Tod sehnt. Wie ist das Gefühl, wenn es der letzte Film sein könnte, den man mit so einem großen Darsteller gedreht hat?
In dem Alter muss Krebs nichts bedeuten. In hohem Alter setzt sich Krebs langsam durch. Meine Tante hatte Krebs, da war sie Ende siebzig. Mit 93 Jahren nahm sie sich dann freiwillig das Leben. Aber nicht wegen Krebs.

In den meisten Ihrer Filme geht es um Tod, in den letzten beiden um den Tod als Erlösung. Hat Sie der Tod Ihrer Tante so stark betroffen?
Ja. Diese Frau hat mich erzogen. Alles, was ich geworden bin, verdanke ich ihr. Das erschüttert einen. Mich plagt auch immer ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nicht beim Sterben helfen konnte. Sie hat mich danach gefragt, und das ist auch der Grund, warum das in diesem Film noch einmal vorkommt. Das hat mich schon umgetrieben.

Im Film "Amour" beendet der Ehemann das Leben seiner dementen Frau - aus Liebe. Wie war das bei Ihnen? Sie haben Ihrer Tante also nicht geholfen, in den Tod zu gehen? Wollten Sie ihr zumindest helfen?
Nein, ich habe sie sogar einmal gerettet. Wenn ich ihr geholfen hätte, wäre ich als ihr Erbe ins Gefängnis gekommen. Und dieses Alibi war mir nur recht, denn ich bezweifle, dass ich es emotional geschafft hätte, ihr zu helfen. Ich finde es aber richtig, wenn jemand sterben will - nicht aus Liebeskummer oder weil man die Matura nicht bestanden hat, das ist albern, aber wenn einem alles wehtut, wenn die Freunde alle gestorben sind, wenn das Leben eine fortwährende Demütigung geworden ist, sollte man das Recht haben, über das eigene Leben selbst zu entscheiden. In unserer Gesellschaft ist das nicht möglich.

»Die Alten stören, weil es so viele gibt, und das immer mehr«

"Sterbehilfe" ist in den letzten Jahren immer mehr zum Thema geworden. Was sagen Sie dazu?
Dieses Thema wird noch in den nächsten Jahrzehnten brisant sein. Früher wurden "Selbstmörder", die bei ihrer Tat nicht reüssierten, sondern überlebt haben, bestraft, denn sie hinderten die Gesellschaft, das zu ernten, was in die Person investiert wurde. Im Griechenland der Antike wurden in einigen Städten die Alten über die Klippe geworfen. Auch wir tendieren in diese Richtung, die Alten stören, weil es so viele gibt und weil das immer mehr kostet. Die Jungen empfinden das oft als Zumutung. Im deutschsprachigen Raum ist Euthanasie ein zweischneidiges Schwert, weil wir damit ja die wohl fatalste Erfahrung gemacht haben. Diese Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen.

Wäre Selbstmord für Sie eine Option?
Für mich ist Selbstmord schon eine Option. Das Thema hat mich von Jugend an beschäftigt, deshalb kommt es wohl auch in fast allen meinen Filmen vor. Wenn ich einmal eine schwere Krankheit habe, wo mich bloß unerträgliche Schmerzen oder totale Verblödung erwarten, werde ich mich sicher umbringen. Ich bin kein Masochist. Und ich hab keine Angst vor dem Tod.

Würden Sie, wie der alte Laurent im Film, jemanden um Hilfe bitten, Ihr Leben zu beenden?
Nein, das mach ich schon mit mir selber aus. Das kann man von niemandem verlangen.

Und wie würden Sie in den Tod gehen?
Also das muss ich Ihnen nicht erzählen, Frau Zobl. Aber sicher überlegt man sich das Wie. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis sehe, wie viele Menschen elend gestorben sind oder an schrecklichen Krankheiten leiden, liegt der Gedanke nicht so fern, oder? Mir geht es Gott sei Dank sehr gut. Also gestatte ich mir noch, zu hoffen, dass mir solch Elend erspart bleibt. Aber das hofft jeder.

Eve, Georges' Enkelin, hat die Wirkung von Beruhigungsmitteln bereits an ihrem Hamster getestet. Das Tier starb. Es ist nicht auszuschließen, dass sie auch ihrer Mutter eine Überdosis Tabletten verabreicht hat. Ist sie damit nicht für den Großvater Georges die ideale Person, ihm ins Jenseits zu verhelfen?
Der Film lässt offen, ob es sich beim Tod der Mutter um einen Mordversuch des Mädchens oder bloß um ein Unglück handelt. Das soll jeder für sich entscheiden. Ich weiß, dass Kinder in der Pubertät zu Extremen neigen können. Aber auf die Idee, dass der Großvater in ihr ein Werkzeug sieht, mit dem er sich umbringen kann, wäre ich nie gekommen. Der findet die Kleine sympathisch, ist einsam, und es entsteht eine Nähe zwischen den beiden.

Die Geschichte von "Happy End" ist in Calais angesiedelt. Ein Ort, den man mit Tragödien von Flüchtlingen in Verbindung bringt. Weshalb sind Flüchtlinge in Ihrem Film nur ein Randthema?
In jedem Film, der heute gefördert werden will, kommen Flüchtlinge vor. Das liegt am schlechten Gewissen. Aber ich kann keinen Film über Flüchtlinge machen, weil ich zu wenig darüber weiß. Ich kann aber sehr wohl einen Film über unsere Indifferenz gegenüber Flüchtlingen machen. Mir geht es um unsere Art von Autismus. Wir setzen uns nur mit Dingen auseinander, die unsern Bauchnabel betreffen, alles andere ist uns lästig. Natürlich gibt es Menschen, die sich sozial engagieren und die wirklich versuchen, zu helfen, wo Hilfe nötig ist. Aber das ist eine verschwindende Minderheit. Und die ist nicht Gegenstand dieses Films.

Wie sieht der Privatmann Haneke die Flüchtlingskrise?
Wir ernten, was wir gesät haben. Das ist das Resultat des Kolonialismus, der zeigt seine Langzeitwirkung. Damit muss man lernen, umzugehen. Und das ist unangenehm.

Was verstehen Sie eigentlich unter Glück?
Glück ist eine Sache des Augenblicks. Du bist frisch verliebt, du bist glücklich. Du bekommst einen Preis, du bist glücklich. Morgen bist du weniger verliebt. Morgen ist der Preis vergessen, und du gierst nach einem neuen. Glück ist peripher. Wir wollen alle immer mehr, als wir haben. Hast du hundert Euro, willst du zweihundert, hast du zweihundert, willst du tausend. Das ist erbärmlich, und es ist menschlich.

Heißt das, dass Sie noch mehr Preise, noch mehr Oscars erreichen wollen?
Ich freue mich über jeden Preis, über jede Anerkennung. Wir sind alle süchtig nach Anerkennung. Wer das leugnet, lügt. Es ist aber nicht so, dass ich zusammenbreche, wenn ich keinen Preis bekomme. Aber mehr als über Preise freue ich mich über die Anerkennung durch einen Kollegen, den ich schätze oder bewundere, denn ich weiß, der kann meine Arbeit beurteilen.

Können Ihnen Verrisse überhaupt noch etwas anhaben?
Wir sind doch alle eitel. Aber ich ärgere mich über bewusste falsche Behauptungen, was oft bei Kritiken passiert. Wenn ich Kritiken lese und dann die Filme sehe, glaube ich oft, ich bin im falschen Film. Natürlich sieht jeder Zuschauer einen anderen Film. Dennoch sollte man als Kritiker dem Leser eine Vorstellung davon geben, was tatsächlich auf der Leinwand zu sehen ist. Dann kann man gern darüber urteilen. Leider ist die Beschreibungskultur im Schwinden begriffen. Ich weiß, wie schwer es ist, Dinge oder künstlerische Sachverhalte angemessen zu beschreiben. Ich war selbst einmal Kritiker.

Fällt es leichter, an einem neuen Film zu arbeiten, wenn man schon viel erreicht hat?
Man fängt mit jedem Film bei null an. Natürlich sind die Erwartungen hoch, wenn man schon Erfolg gehabt hat. Und natürlich lauern viele darauf, dass einem ein Film nicht gelingt. Aber das muss man in dem Job aushalten. Selbstmitleid gilt nicht. Wenn einem etwas misslingt, dann hatte man Pech.

Sehen Sie es auch als Pech, dass Sie in Cannes für "Happy End" die Goldene Palme nicht bekommen haben?
Mit der Palme habe ich gar nicht gerechnet. So schnell wird niemand drei Goldene Palmen bekommen. Dazu bräuchte es schon eine Weltsensation. Aber dass ich gar keinen Preis bekommen habe, hat mich natürlich enttäuscht. Wenn man an einem Wettbewerb teilnimmt, hofft man auch, zu gewinnen. Und dabei geht es gar nicht so sehr um persönliche Eitelkeit, Preise dienen der Publicity und schaffen bessere Produktionsbedingungen beim nächsten Film.

Wie schaffen Sie es, aus Ihren Geschichten auszusteigen und im wirklichen Leben zu funktionieren?
Das gehört zum Metier. Wenn man nicht in der Lage ist, eine gewisse Distanz zu wahren, ist man ein Dilettant.


Michael Haneke

wurde 1942 in München als Sohn des deutschen Schauspielers Fritz Haneke und der österreichischen Burgschauspielerin Beatrix Degenschild geboren. Der Fernsehfilm "Lemminge" verschaffte ihm 1979 den Durchbruch. Die Verfilmung von Elfriede Jelineks Roman "Die Klavierspielerin" machte ihn weltweit bekannt. Haneke lebt mit seiner Frau Susanne in Wien und im Waldviertel.

Happy End

Für sein verstörendes Familienporträt holte Michael Haneke internationale Schauspielgrößen: Isabelle Huppert (Anne) und Georges Trintignant (Georges) als Vater und