Unberechenbare Größe

MFG ist in wenigen Monaten zu einem Faktor der österreichischen Politik geworden. Dass die Impfgegner nach der Pandemie wieder verschwinden werden, ist nicht sicher. Sie profitieren von viel mehr.

von Johannes Huber © Bild: Johannes Huber, diesubstanz.at

Sie versprechen, sich für ein menschliches und respektvolles Miteinander genauso einzusetzen wie für Regionalität und Natur. Bei den Kandidaten aus Kirchberg unweit von Kitzbühel deutet wenig darauf hin, dass sie für die Partei "Menschen, Freiheit, Grundrechte", kurz MFG, in die Wahl ziehen, die am letzten Februar-Sonntag in 274 Tiroler Gemeinden stattfinden wird. MFG steht gemeinhin für Impf- und Corona-Maßnahmen-Gegnerschaft. Doch nicht nur das könnte ihr erste Erfolge beschert haben: 6,2 Prozent bei der oberösterreichischen Landtagswahl im vergangenen September und ganze 17,1 Prozent bei der Gemeinderatswahl im niederösterreichischen Waidhofen an der Ybbs vor wenigen Wochen. Es dürfte mehrere Gründe dafür geben.

Mitbewerber sind alarmiert - und reagieren. Dass Landeshauptleute angefangen haben, sich von der Impfpflicht, die auf ihren Wunsch hin gerade erst beschlossen wurde, zu distanzieren, hat nicht nur mit epidemiologischen Erwägungen zu tun. Es ist auch die Angst, MFG durch ein Festhalten an der Pflicht noch größere Erfolge zu bescheren - bei den Gemeinderatswahlen in Tirol, in weiterer Folge aber auch bei der Bundespräsidentenwahl im Herbst, einer allfälligen vorgezogenen Nationalratswahl sowie Landtagswahlen von Kärnten über Salzburg bis Niederösterreich, die spätestens in einem Jahr abgehalten werden müssen.

Die Sorge ist berechtigt. Gewohnte Mehrheitsverhältnisse könnten durcheinandergeraten. Ein Regierungsinsider traut MFG ein bundesweit zweistelliges Ergebnis zu. In Umfragen ist die Partei zuletzt auf sechs bis sieben Prozent gekommen. Seit dem Abgang von Sebastian Kurz (ÖVP) sind Hunderttausende in ihren Hoffnungen schwer enttäuschte Wähler zu haben. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP), Vize Werner Kogler (Grüne), Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) und die übrigen Mitglieder des Kabinetts können den Vertrauensverlust, der entstanden ist, nicht wettmachen. Sie fallen der Bevölkerung durchwegs eher negativ auf, genauso wie führende Vertreter der Opposition. Das hat eine Umfrage der Gratiszeitung "Heute" ergeben.

Kuhhandel statt Wissenschaft

Hier beginnt das Potenzial von MFG. Nicht nur, vor allem aber durch ihren Umgang mit der Pandemie hat sich die Regierung selbst beschädigt. Zuerst ging sie mit harten Maßnahmen auf Nummer sicher, dann erklärte sie die Gesundheitskrise sowohl im Sommer 2020 als auch im Sommer 2021 für beendet. Gekommen ist es immer wieder anders. Im vergangenen November wurde im Rahmen eines Kuhhandels die Impfpflicht angekündigt. Für die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) war das eine Bedingung dafür, dass sie einem weiteren Lockdown zustimmte. Wissenschaftlich unterfüttert wurde bei alledem wenig bis nichts.

MFG-Funktionäre wie der Gynäkologe Christian Fiala zogen derweil durch die Republik, behaupteten, dass es keinen Grund gebe, sich vor dem Virus zu fürchten, dass auch in gewöhnlichen Zeiten Menschen sterben würden ("Das ist ein Problem des Lebens auf dieser Welt") und dass die Impfung eine "programmierte Autoimmunzerstörung der Zellen" sei. Der Journalist Werner Reisinger schrieb in der "Augsburger Zeitung" treffend, solche Ausführungen seien irrational und pseudowissenschaftlich und würden an Zynismus und Menschenverachtung grenzen. In Teilen der Bevölkerung sind sie angekommen.

Der Versuch nachzuvollziehen, bei wem derlei verfängt, führt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Das Sozialforschungsinstitut SORA hat erhoben, wer in Oberösterreich am ehesten MFG gewählt hat. Getan hätten es vor allem 30- bis 59-Jährige, Arbeiter und Angestellte, Frauen und Männer mit einem niedrigen oder mittleren Bildungsabschluss nach formalen Kriterien sowie Leute, die mit ihrem Einkommen schlecht auskommen. Interessant ist, dass das politisch durch alle Lager geht. MFG nahm sämtlichen Parteien sehr viele Stimmen ab, wobei es anteilsmäßig bei den Grünen am meisten waren: Sieben Prozent ihrer Anhänger des Jahres 2015 wanderten im vergangenen September zu MFG ab. Bei den Freiheitlichen handelte es sich um sechs, bei ÖVP, SPÖ und Neos um jeweils fünf Prozent.

Österreichische Lösung

Da und dort hofft man, dass sich die Partei nach der Pandemie wieder auflöst. Und dass man vielleicht ein bisschen nachhelfen kann, wenn man die Impfpflicht einer österreichischen Lösung zuführt: Man belässt das Gesetz, wendet es aber halt nicht an. Omikron könnte dies erleichtern. Sollte irgendwann eine Virusvariante auftauchen, die zu schwereren Erkrankungsverläufen führt, wird die Sache jedoch verhängnisvoll.

Aber wen interessiert schon die ferne Zukunft? Für die nächsten Monate könnte es reichen. Zumindest das würde etwa dafür sprechen, die eine oder andere Wahl spätestens bis zum Frühherbst durchzuführen, wenn es aufgrund niedriger Infektionszahlen am ehesten gelingt, nicht an Corona zu denken und auch nicht andauernd davon reden zu müssen.

Waidhofen ist kein Zufall

Zum Beispiel die niederösterreichische Landtagswahl: Dass MFG in Waidhofen an der Ybbs auf Kosten der ÖVP abräumte, war kein Zufall. Die Statutarstadt gehört zu einer Region, in der Impfskepsis und -gegnerschaft beträchtlich sind. Bezirke wie Amstetten oder Scheibbs zählen mit Waidhofen zu denen mit der niedrigsten Durchimpfungsrate österreichweit. Problem der ÖVP ist, dass sie hier bestimmend ist und den Unmut über die Impfpflicht als bisherige Befürworterin am stärksten abbekommt. Das ist ein Motiv dafür, das Thema verschwinden zu lassen. Es geht um viel: Unter Mikl-Leitner hat die Partei bei der Landtagswahl demnächst eine absolute Mandatsmehrheit zu verteidigen. Aus heutiger Sicht ist das schwer bis unmöglich.

Davon, dass MFG in absehbarer Zeit Geschichte werden könnte, sollte man nicht ausgehen. Es ist möglich, aber nicht fix. Die Partei lebt von mehr, nämlich auch von einer Krise des Politischen. Nicht umsonst sieht ihr Chef, Michael Brunner, sie lieber als "Bürgerbewegung", fordern er und seinesgleichen die Abschaffung von "Berufspolitikern" und "Funktionären", wollen, dass "Experten" übernehmen und die direkte Demokratie gestärkt wird.

Das sind Ansagen, die in Krisenzeiten ankommen, wenn Regierende mit katastrophalen Popularitätswerten zu kämpfen haben und wenn sie sich wie derzeit infolge türkiser Korruptionsaffären selbst noch weiter zusetzen. Dann kann man punkten, wenn man zur Demontage dessen antritt, was gemeinhin als Establishment gilt - von professioneller Politik über das Parlament bis hin zu den bekannten Parteien.

Masse fühlt sich nicht vertreten

Der Boden dafür ist nahrhaft wie selten zuvor: Laut Demokratiemonitor, der ebenfalls vom SORA-Institut geführt wird, sind bereits sechs von zehn Menschen in Österreich davon überzeugt, dass das politische System nicht gut funktioniert. Im unteren Drittel der Gesellschaft ist der Anteil noch größer, fühlen sich sogar vier von fünf im Hohen Haus nicht vertreten. Ihnen drängt sich MFG auch abseits der Impfpflicht auf.

Natürlich: Die Partei profitiert bisher davon, nicht herausgefordert zu werden. Wo möglich, ist sie ignoriert worden. Das ändert sich jedoch. Wer auch immer für sie in eine Nationalrats- oder Bundespräsidentenwahl zieht, wird permanent im Fokus stehen und Gefahr laufen, sich zu entblößen. Das ist schon vielen passiert: Frank Stronach beispielsweise, als er sich vor der Nationalratswahl 2013 für die Wiedereinführung der Todesstrafe aussprach. Damit hat er sich nichts Gutes getan. Oder Norbert Hofer, der, die Hofburg in Sichtweite, 2016 übermütig erklärte, dass man sich noch wundern werde, was einem Staatsoberhaupt alles möglich sei - das kam so bedrohlich rüber, dass es zu seiner Niederlage gegen den heutigen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen beitrug.

Auch MFG hat schon gezeigt, dass es mit dem menschlichen und respektvollen Miteinander, das in Tirol gerade so beschworen wird, nicht weit her ist: Der Linzer Fraktionsobmann Norbert Obermayr wurde mit sofortiger Wirkung aus der Partei ausgeschlossen, nachdem er im Gemeinderat auch nur für die Verlängerung eines Impfbusses gestimmt hatte. Damit wurde sichtbar, wie wenig es braucht, damit es zum Bruch kommt.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik www.diesubstanz.at