"Eine bewusst provozierte Katastrophe"

Nur Hilfe vor Ort "unmenschlich" - Menschen leben in nassen Zelten mit schimmliger Kleidung

Einen Tag vor dem "Internationalen Tag der Migranten" haben Hilfsorganisationen, Wissenschafter sowie SPÖ und NEOS erneut an die Bundesregierung appelliert, Schutzbedürftige aus den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln aufzunehmen. Die derzeitigen Bedingungen seien "katastrophal" und "menschenunwürdig", so der Tenor. Hilfe vor Ort alleine funktioniere nicht, kritisierten Forscher des Wissenschaftsnetzwerks Diskurs am Donnerstag.

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Appell an Politik - "Eine bewusst provozierte Katastrophe"

Die Forscher von Uni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Med Uni Wien fordern deshalb eine "sofortige Evakuierung" der griechischen Lager und eine "geordnete, koordinierte, regulierte" Aufnahme von Geflüchteten in Österreich. Die Frage spaltet bisher die Bundesregierung: Während sich die Grünen dafür aussprechen, stellt sich die ÖVP gegen die Forderung nach einer Aufnahme von Schutzbedürftigen.

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Hilfe vor Ort allein "unmenschlich"

Hilfe vor Ort alleine sei unmenschlich und erhalte genau jene Strukturen aufrecht, die "ursächlich für den Brand in (dem Flüchtlingscamp, Anm.) Moria waren: chronische Überfüllung, lange Aufenthaltsdauer, fehlende Perspektiven, unzureichende Unterbringung und Versorgung", erklärte der Politikwissenschaftler Alexander Behr. Moria sei somit "keine überraschende, sondern eine bewusst produzierte Katastrophe", hieß es in der Aussendung. Durch die untragbaren Umstände in den Flüchtlingscamps werde laufend die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.

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Pull-Faktor falsch

Dass die Aufnahme von Geflüchteten einen Pull-Faktor darstelle, wie von der ÖVP als Begründung für ihre Ablehnung angeführt wird, sei aus wissenschaftlicher Sicht falsch, erklärte der Historiker Philipp Ther. Flüchtlingsströme würden vor allem durch lebensbedrohliche Umstände in den Herkunftsländern beeinflusst. Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik sei "schädlich für das politische Klima und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland sowie für das Renommee im Ausland", betonte Ther.

Warnungen seit Monaten

Experten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) würden seit Monaten vor den "Konsequenzen der ungelösten EU-Migrations- und Asylpolitik" warnen, jahrelang hätten Griechenland, die EU und ihre Mitgliedstaaten es verabsäumt, auf den griechischen Inseln für menschenwürdige Zustände zu sorgen. Dass die im von der EU-Kommission präsentierten Migrationspakt enthaltenen Vorschläge wie etwa wie "Rückführpatenschaften" und "flexible Solidarität" die Situation auf Lesbos verbessern werden, sei nicht zu erwarten, erklärte Judith Kohlenberger, Migrations- und Fluchtforscherin an der Universität Wien.

"Bewusste Desinformation"

Die Diskursforscherin Ruth Wodak kritisierte, dass Flüchtende, Asylwerber und Migranten in Medien und in der politischen Kommunikation "zu Unrecht" oft als "illegale Migranten" dargestellt würden. Dies sei "bewusste Desinformation" und würde die Faktenlage "signifikant" verzerren. Die Einreise per se sei nicht illegal, wenn sich ein Flüchtling umgehend bei den Behörden melde, berief sich Wodak auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). "Nur bei Ablehnung des Asyl-Ansuchens halten sich diese Menschen daher tatsächlich illegal in einem Land auf."

Vermehrte Berichte über Pushbacks

Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak beanstandete den Verstoß der EU gegen das in der GFK festgehaltene Prinzip der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip), wonach Geflüchtete an der Grenze das Recht auf Einreise und Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren, also einem Asylverfahren, haben. In den vergangenen Monaten hatten sich Berichte über sogenannte "Pushbacks" an den Grenzen gehäuft. Auch an der österreichisch-slowenischen Grenze soll es zu Zurückweisungen und in der Folge zu Kettenabschiebungen bis nach Bosnien-Herzegowina gekommen sein.

Frage spaltet Regierung

Neben dem Roten Kreuz und Ärzte ohne Grenzen (MSF) forderten sowohl das Forschernetzwerk als auch Politiker von SPÖ und NEOS Türkis-Grün auf, Schutzbedürftige - vor allem aus dem Ersatzlager Kara Tepe auf Lesbos, das nach dem Brand in Moria errichtet wurde - aufzunehmen. Die Frage spaltet die Regierung bisher: Während sich die Grünen dafür aussprechen, stellt sich die ÖVP vehement gegen die Forderung.

»Politische und menschliche Pflicht, Menschen aus dem Elend zu retten«

Auch die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Katharina Kucharowits appellierte an die Regierung, die "humanitäre Katastrophe" endlich zu stoppen. Es sei die "politische und menschliche Pflicht, Menschen aus dem Elend zu retten", sagte sie in Richtung Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Sich auf Hilfsgüter zu beziehen, "die medial inszeniert zur Verfügung gestellt wurden", sei zu wenig, spielte sie auf die österreichischen Hilfslieferungen nach dem Brand in Moria im September an, die Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) damals unter Begleitung zahlreicher Reporterteams medienwirksam nach Athen brachte.

NEOS: "Überfällig, zu handeln"

Ähnlich äußerte sich Stephanie Krisper, NEOS-Sprecherin für Migration und Asyl: Es sei "schon überfällig zu handeln". "Auf europäischem Boden vegetieren Menschen, darunter viele Familien und Kinder, unter Zuständen dahin, die Folter beziehungsweise unmenschliche Behandlung darstellen. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen und nichts zu diskutieren", sagte Krisper via Aussendung, in der sie auch die "zynische Politik" des Kanzlers kritisierte.

Menschen müssen in "feuchten bis nassen" Zelten schlafen

Indes ist die Situation auf Lesbos, vor der Hilfsorganisationen schon vor Wochen gewarnt hatten, eingetreten: Der Winter ist über die griechische Insel hereingebrochen, der damit einhergehende starke Wind und Regen haben Zelte Tausender Menschen im Flüchtlingscamp Kara Tepe überschwemmt. Diese würden teilweise gar nicht mehr trocknen, die Menschen müssten in "feuchten bis nassen" Zelten schlafen, erzählte Rotkreuz-Mitarbeiterin Christine Widmann am Donnerstag im APA-Gespräch.

Schimmlige Kleidung

Durch die starken Regenfälle in den vergangenen Tagen und Wochen sei das Wasser in die Zelte eingedrungen und könne im hügeligen Camp, das nach dem Brand in Moria Anfang August hastig errichtet wurde, nur schlecht wieder abfließen, berichtete die Tirolerin. Auch Bemühungen der Helfer, das Wasser abzupumpen, würden nur temporäre Erleichterung bringen. Durch die permanente Feuchtigkeit würden sogar Kleidungsstücke zu schimmeln beginnen.

Menschenunwürdig

Die Zustände seien "inakzeptabel" und "menschenunwürdig", monierte Widmann. Aktuell könnten nicht einmal die Grundbedürfnisse der rund 7.000 Geflüchteten in dem Camp erfüllt werden. So gebe es kaum Warmwasserduschen und zu wenige Toiletten. "Manche Bewohner sagen, dass es teilweise sogar in Moria besser war", so die 53-Jährige. Moria war bis zu seiner Zerstörung durch einen verheerenden Brand im September 2020 das größte Flüchtlingslager Europas. Es war heillos überfüllt, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisierten die Zustände dort immer wieder als untragbar.

»Es braucht dringend eine langfristige europäische Lösung«

"Es braucht dringend eine langfristige europäische Lösung", wiederholte Widmann eine Forderung von Rotkreuz-Präsident Gerald Schöpfer. Eine Unterbringung in Kara Tepe könne nur eine Notfalllösung sein. Mittel- und langfristig sei eine Verlegung der Geflüchteten auf das griechische Festland und eine Verteilung auf andere EU-Staaten notwendig.

Durch Lockdown erschwerte Beschaffung von Gütern

Bis es zu dieser "fairen Lösung" komme, sind Widmann und die anderen Rotkreuz-Helfer - derzeit drei aus Österreich - mit der Wasserversorgung, der Entsorgung von Abwässern, dem Installieren neuer Waschmöglichkeiten und der Koordination mit externen Partnern, um die sanitäre Situation zu verbessern, beschäftigt. Die größte Herausforderungen sei derzeit die durch den Lockdown in Griechenland erschwerte Beschaffung von Gütern. Dadurch verzögere sich die Umsetzung von Maßnahmen erheblich, so Widmann, die noch bis Anfang Jänner auf Lesbos sein wird.

"Zwischen Ratten und Schlangen"

Manche Menschen in Kara Tepe oder im Lager Vathy auf der Insel Samos würden bereits seit vielen Monaten bzw. Jahren dort festsitzen. "Im Schlamm, zwischen Ratten und Schlangen, mit unzureichender medizinischer Versorgung. Sie haben kaum Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation", schilderte Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich, in einer Aussendung. Sie bitte die Regierung "inständig": "Das Gebot der Stunde ist die umgehende Evakuierung der Menschen von den griechischen Inseln, und daran sollte sich auch Österreich beteiligen."

Psychische Probleme nehmen stark zu

Außerdem leiden die Flüchtlinge und Migranten zunehmend unter psychischen Problemen. So heißt es in einem Bericht, den die Hilfsorganisation IRC (International Rescue Committee) am Donnerstag in Athen veröffentlicht hat. Demnach hat sich die Situation vor allem wegen der Corona-Pandemie und dem darauffolgenden Lockdown der Lager verschlimmert.

Unmittelbar danach habe das IRC einen 71-prozentigen Anstieg von Personen verzeichnet, die über psychotische Probleme klagten; die Zahl der Selbstverletzungen sei um 66 Prozent gestiegen. Die Menschen seien per Lockdown gezwungen worden, in Lagern zu bleiben, in denen es schmutzig und gefährlich sei, in denen man für Essen und Toiletten Schlange gestanden werden müsse und es kaum Platz für Hygiene und Abstand gibt, begründete die Organisation den Anstieg. Sie beruft sich auf Daten, die IRC-Psychologen zwischen März 2018 und Oktober 2020 erhoben haben. Die Organisation habe in diesem Zeitraum auf Lesbos, Samos und Chios 904 Menschen betreut, von denen 41 posttraumatische Symptome zeigten und 35 Prozent von Suizidgedanken sprachen.

Die Organisation IRC, die aktuell rund 80 Mitarbeiter vor Ort hat und sich seit 2016 vor allem auch um den psychischen Zustand der Migranten kümmert, fordert seit langem, die Menschen aufs Festland zu bringen und nachhaltige Lösungen zu finden.