Kaum zu bremsen

Im Winter bezwingt der zweifache Olympiasieger Aksel Lund Svindal mit den Skiern den Berg, im Sommer geht er dort auf dem Bike ans Limit. News hat den Ausnahmesportler bei einem Trainingstag in Norwegen begleitet. Die Einblicke waren ungewohnt privat: Svindal spricht über sein Tiroler Zuhause, das herannahende Karriereende und den frühen Tod seiner Mutter

von Aksel Lund Svindal - Kaum zu bremsen © Bild: Frode Sandbech

Oslo, im schicken Boutique-Hotel „The Thief“ um acht Uhr morgens. Es entspinnt sich ein angeregter Frühstücksplausch unter Menschen, die der Sportsgeist zueinander geführt hat. Drei haben über die Reiseplattform Destination Red Bull einen abenteuerlichen Trainingstag mit dem fünffachen Ski-Weltmeister Aksel Lund Svindal gebucht: Scott, der Wiener Neustädter mit schottischen Wurzeln und Trainer für Atemtechnik, ist zwei Monate lang täglich 40 Kilometer bergauf und bergab geradelt, um sich auf den Trip in Aksels geliebte Oslomarka-Wälder vorzubereiten. Dazu stoßen Stefanus, skiversessener Ingenieur aus München und leidenschaftlicher Mountainbiker, und Linda, die zähe Sportmedizinerin aus Salzburg. Die Vierte bin ich, die Berichterstatterin.

Svindal gesellt sich bester Laune, mit drei Stamperln Rote-Rüben-Saft, einem Teller Schinken und Käse, einer Portion Spiegelei, Bohnen, Speck und einer Ladung Schokocroissants zu Tisch, als wären wir eine eingespielte Skikurstruppe. Allgemeines Mampfen vor der sechsstündigen Plagerei. Plötzlich lässt die drahtige Linda mit einer kurzen Durchsage aufhorchen. „Ich hab übrigens eine schwere Latexallergie. Deswegen kann es zu Atemproblemen und zum Herzkreislaufstillstand kommen. Bei Bewusstsein lad ich mich mit Antihistamin- und Cortisontabletten hoch. Bin ich weggekippt, brauch ich bitte die Epi-Pen-­Injektion, also hochdosiertes Adrenalin. Die findet ihr in meinem Rucksack.“ Allseits Stille. Die Outfits, die Fahrradschläuche – was enthält hier bitte nicht Latex oder Spandex? Das Ski-Ass sammelt sich als Erster und grinst: „Wenn ein Reifen platzen sollte, wechsel ich ihn dir. Und was meinen Radanzug angeht: Heut gibt es eben keine Group Hugs.“ Kein guter Zeitpunkt für weitere schlechte Nachrichten. Und für mich, die als einzige Sportabstinenzlerin unter all den athletischen Wadeln Richtung Svindal murmelt: „Ich sitz heute das erste Mal auf einem Mountainbike. Sollte ich schlapp machen, komm ich irgendwie öffentlich nach.“ Svindal kann sein Glück ob der haarsträubenden Teilnehmervielfalt kaum fassen, kippt den letzten Rote-Rüben-Shot und scherzt: „Na, dann hätten wir wohl ein Tandemrad, wo du hinten nur ein bissel mittrittst, für dich gebraucht.“ Jawohl! So wäre auch mehr Luft für die Fragen geblieben, denen sich Svindal als Pedalritter im Laufe des Tages gern stellte.

© Thomas Harstad/Red Bull Das Quintett, das Svindal einen Tag begleiten darf, startet nach einem Wadelvergleich in die Uphill- und Selfie-Action. Durch Wälder und über Forststraßen geht es nach Frognerseteren. Zum Kjøttkaker-Lunch stößt etwas verspätet und kreidebleich auch die News-Redakteurin. „Ich bin als Wintersportler im Sommer genauso glücklich, denn das heißt Urlaub“ Aksel Lund Svindal verbringt 85 Prozent seiner Zeit in der Kälte

Auf Ihrem Instagram-Account sieht man Sie öfters im Wald biken. Kann man mountainbiken und mit den Skiern die Hänge herunterzubrettern annähernd vergleichen?
In der Natur zu sein und einen Berg runterzufahren, ist das, was gleich ist. Ich bin auf dem Mountainbike vom Level her viel zu schlecht, um die Geschwindigkeit zu halten, so wie es die Profis können, die Downhill mountainbiken. Was für mich wichtig ist: dass es Spaß macht und ich draußen bin. So gesehen kann ich es mit dem Schifahren vergleichen.

In Ihrem Leben geht es ums Gewinnen. Wie sind Sie privat, wenn Sie zum Beispiel Karten spielen?
Ich bin schon kompetitiv, wenn es in dem Spiel ausdrücklich um Wetteifer geht. Innerhalb der Mannschaft spielen wir oft das Kartenspiel „Der Idiot“. Ich kann da schon bös werden, wenn es nicht fair ist.

Aber es ist doch nie fair, wenn man verliert …
(Lacht) Wenn jemand die Regeln bricht, das mag ich überhaupt nicht. Da zu tricksen, ärgert mich brutal.

Sind Sie als Wintersportler im Sommer unglücklich?
Nein. Ich bin da mindestens so glücklich. Denn Sommer heißt für mich Urlaub.

Wo verbringen Sie danach Ihre Zeit?
Von Anfang Oktober bis Ende März bin ich fast nie in Norwegen, sondern viel in Innsbruck. Den Juni und Juli verbringe ich in Norwegen oder in Schweden in meinem Sommerhaus. August und September reise ich gern nach Südamerika. Danach geht es wieder nach Innsbruck.

Ist die Gemeinde Mutters nahe Innsbruck schon zum Zuhause geworden?
Für mich wird Norwegen immer meine Heimat bleiben. Aber dass ich bei Innsbruck mein Haus gebaut habe, hat einen großen Unterschied gemacht. Seitdem fühl ich mich in Innsbruck viel mehr zu Hause.

Haben Sie beim Hausbau selbst auch mit angepackt?
Das nicht. Aber in der Planung hab ich sehr viel getan. Das hat mir wirklich Freude gemacht. Das Haus ist ganz modern mit viel Glas. Schließlich will ich vom Alpenpanorama so viel wie möglich sehen!

Sie haben im Februar in Pyeong­chang Ihr zweites Olympiagold geholt und sind mit 35 Jahren der älteste alpine Olympiasieger der Geschichte. Wie lange verfolgen Sie das noch?
Nicht sehr lange. Man spürt, wenn es fertig ist, dass es fertig ist. Blöd ist für mich, dass ein Knie weh tut. Wenn ich aufhöre, ist das eine Mischung daraus, dass es mit dem Knie nicht so gut geht, und aus einer anderen einfachen Rechnung: Man muss ehrlich sein. Es muss Spaß und es muss Sinn machen. Die Gesundheit ist natürlich auch sehr wichtig.

© Privat

Zu welchem Schluss kommen Sie, wenn Sie das alles rational betrachten?
Man muss nicht immer gewinnen, aber man muss den Ausgangspunkt und die Möglichkeit haben, sein Bestes zu geben. Wenn man aber Verletzungen hat, kann man nicht so viel trainieren, wie man möchte. Dann kann man auch nicht die Leistungen bringen, die eigentlich möglich wären. Das geht bei mir immer noch sehr gut. Aber es ist jetzt langsam am Limit.

Das spüren Sie so?
Ja. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich fahren kann, in denen ich verletzungsbedingt weniger als viele andere trainiere und trotzdem Rennen gewinne. Das geht nicht ewig.

Conclusio: Spaß macht’s noch, aber Sinn nicht mehr so viel?
Das hängt auf jeden Fall zusammen. Ich glaube, wenn es keinen Sinn macht, dann macht’s auch keinen Spaß mehr. Wenn ein Faktor nach unten geht, zieht er den anderen mit und dann macht es überhaupt keinen Sinn mehr.

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Es macht auch keinen Sinn mehr, dem gut trainierten Grüppchen zu folgen. Des einen Freud, des anderen Leid – Anstieg heißt in meiner Welt Ausstieg. Noch bevor der Spitzensportler und seine motivierte Gefolgschaft beim Sognsvann-See eine Plauderpause einlegen, gebe ich, die heuschnupfende Flachländerin, nach einem Hügel mit frischgemähten Gras hyperventilierend das sportliche Unterfangen vorerst auf. Frognerseteren liegt hoch oben auf dem Holmenkollen. Dort ist die Mittagsrast geplant, und weil in Norwegen vieles anders ist, erreiche ich mit geschultertem Rad den Berg per U-Bahn.

Svindal entscheidet sich nach der Vormittagsetappe für Kjøttkaker, die norwegische Version von Fleischbällchen. Der Rest der Truppe ordert wegen Sprachschwierigkeiten „the same.“ Gestärkt entscheidet sich Aksel für eine Rebel Road, wie er die einladende Mischung aus Wurzeln, Steinen und Erde nennt. Er ist kaum zu bremsen. Der Weg gibt nach, Svindal und sein Gravel-Bike überschlagen sich spektakulär, und der Sportler verabschiedet sich mit seinen 102 Kilo in die Botanik. Als wäre nichts gewesen, sammelt er seine Sachen aus der Rückentasche zusammen, putzt sich Erde vom Latex und stellt überrascht wie amüsiert fest: „Dabei war ich gar nicht so schnell unterwegs. Offenbar hab ich in der Luft noch ziemlich beschleunigt!“

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Sie sind eben wie ein Verrückter geradelt und haben einen Salto in den Abgrund gemacht.
Aber das war Pech. Ich hab gar nicht so viel Speed gehabt.

Es gibt kein Glück oder Pech. Es gibt Können …
(Lacht) Das stimmt. Aber ein bissel Glück oder Pech spielt schon mit.

Sie können aber sehr gut fallen. Nach dem Sturz in den Abgrund waren Sie sofort wieder auf den Beinen …
Auf der Schulter habe ich ein paar Kratzer. Das ist aber schnell wieder okay.

Sie sind grob gerechnet fünf Mal operiert worden, hatten zusätzlich ungefähr fünf Verletzungen, durch die Sie eine Zeit lang ausgefallen sind. Was raten Sie Menschen, die gerade mit Schrauben in den Knochen auf Reha sind?
Reha ist etwas, das man einfach machen muss. Wenn man vom Arzt gesagt bekommt, es dauere jetzt zwölf Wochen, bis man die Krücken wieder weglegen kann, dann kann man sich entweder zwölf Wochen lang denken, alles ist nur Scheiße. Oder du denkst dir, okay, jetzt bin ich gerade am tiefsten Punkt, aber die nächsten zwölf Wochen geht es jeden Tag besser. Und je fleißiger man in der Reha ist, umso schneller geht es. Dass es aufwärts geht, ist ja etwas Gutes, und darauf kann man sich konzentrieren.

Ihre letzte Reha war besonders erträglich. Da haben Sie Ihre damalige Freundin, das norwegische Model Gitte Lill Paulsen, kennengelernt.
Das Wichtigste ist, dass es eine positive Stimmung gibt. Wenn man glücklich ist, kann man etwas, das langweilig ist, viel besser machen.

Frisch verliebt sind alle glücklich.
Ja, genau. Und das hilft dann. Es ist wirklich der perfekte Zeitpunkt, verliebt zu sein, wenn man eine Reha machen muss.

Themenwechsel: Haben Sie Marcel Hirscher schon zur Vaterschaft ­gratuliert?
Nein, ich schreib ihm jetzt gleich.

© Frode Sandbech „Es ist der perfekte Zeitpunkt, ­verliebt zu sein, wenn man eine Reha machen muss“ Aksel Lund Svindal wurde 2016 erneut vom Athleten zum Patienten

Inwiefern beeinflusst die Vaterschaft einen Ski-Profi?
Ich glaube, man wird ein bisschen ruhiger.

Wird man vorsichtiger und langsamer?
In bestimmten Dingen sicher vorsichtiger. Man sieht dann vielleicht mehr das größere Bild. Das ist kein Nachteil. Dadurch wird man ruhiger und kann bessere Entscheidungen treffen.

Haben Sie Kinder geplant, bevor Sie 40 werden?
Keine Ahnung. Das Leben und solche ­Sachen kann man nicht planen.

Im Mai war Muttertag. Ist das für Sie ein schwieriger Tag? Ihre Mama ist sehr früh gestorben.
Es liegt sehr weit zurück. Es ist ein Tag, an dem ich mir einige Gedanken mache. Ich war acht, mein Bruder damals sechs Jahre alt. Es war für meinen Vater viel schwieriger als für uns zwei. Mein Vater und meine Großeltern haben dafür gesorgt, dass es für uns weitergeht.

Haben Sie später eine Ersatzmutter gefunden?
Nicht so richtig.

Sie sind dafür bekannt, Rückschläge gut wegzustecken, positiv und ausdauernd zu sein. Wie gelingt Ihnen das?
Wenn man Ausdauer trainieren will, dann geht das nur, indem man etwas findet, das Freude und Sinn macht. Sonst macht man es nicht oft genug.

Vielen Situationen begegnen Sie mit Humor. Worüber können Sie sich so richtig amüsieren?
Über Menschen, die sich selbst nicht zu ernst nehmen. Und ich lache viel über die Serie „Seinfeld“. Sie ist großartig!

Womit möchten Sie sich in Zukunft beschäftigen?
Ich habe die Bekleidungsfirma Greater Than A gegründet, ein Label für funktionale, nachhaltige Streetwear aus biologischen Fasern wie Biobaumwolle, Tencel und Wolle.

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Unabhängig von den Fasern, in denen wir stecken, schwitzen wir reichlich nach diesem Ritt über Stock und Stein. Während ich noch mit der Abfahrt auf viel zu viel Schotter beschäftigt bin, springen Aksel, Linda, Scott und Stefanus bei 29 Grad und praller Sonne bereits in den Ausläufer des Oslofjords. Alle sind wohlauf, nur Aksel ist nach seinem Salto minimal an der Schulter angeschlagen. Anschließend klingt der Trainingstag im angesagten Genusstempel Miss Sophie aus. Der Profisportler ordert Stockfisch und Wein und unterhält die Truppe mit Anekdoten aus dem Skizirkus. Leistungscoach Scott kann das Arbeiten nicht lassen und demonstriert seine Flow2life-Atemübung. 30 Mal schnell ein- und ausatmen, danach die Luft anhalten, so etwa. Man darf dabei offenbar auch schwindlig werden. Wir hecheln im hippen Ambiente brav mit. Tiefenentspannung tritt ein – als wären wir nur gemütlich um den Häuserblock spaziert und nicht sechs Stunden auf dem Drahtesel gesessen. Eines ist fix: Für Svindal war der ganze Tag maximal das Warm-up.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe 23 2018