Gerlinde Kaltenbrunner:
Dem Himmel so nah

Profibergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner ist die erste Frau, die alle 14 Achttausender ohne Zuhilfenahme von zusätzlichem Sauerstoff erreicht hat. Nun gönnte sie sich einen Tiroler Berg. Für die 47-Jährige ein Spaziergang vor dem Frühstück, bei dem sie über Liebe, Tod und Bauchgefühl sprach

von Menschen - Gerlinde Kaltenbrunner:
Dem Himmel so nah © Bild: Patrick Baetz Photography

Die Welt der Berge ist ihr höchstes Glück: Gerlinde Kaltenbrunner ist eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen der Welt. Mit dem K2 hat sie 2011 das Projekt Achttausender abgeschlossen. Neben ihrer Leidenschaft, dem Felsklettern, zieht es sie nun um einiges entspannter auf 6.000er-Gipfel. Aber auch in heimatlichen Gefilden ist die Oberösterreicherin nun viel ­unterwegs. Ihr letzter Ausflug führte sie nach St. Anton am Arl­berg, wo sie mit anderen Bergfexen von St. Christoph zu einer Sonnenaufgangswanderung aufbrach. Der Tourismusverband St. Anton und Outdoor-Spezialist Schöffel, mit dem die Ausnahmealpinistin seit 2003 zusammenarbeitet, luden zum Ladies’ Hike „Ich bin raus“ ins Tiroler Idyll. Neun Bergbegeisterte folgten Kaltenbrunner. Oder probierten es zumindest. Dazwischen blieb Zeit für einen Gedankenaustausch.

Sie sind dafür bekannt, dass Sie bei Expeditionen auf Ihr Bauchgefühl hören. Haben Sie Ihre Intuition auch einmal ignoriert?
Ja, einmal hab ich’s klar zu spüren bekommen, und das wäre fast schiefgegangen. Das war 2007 am Dhaulagiri in Nepal, als das Lawinenunglück war. Da hab ich viele Signale gespürt, dass es überhaupt nicht mehr passt. Trotzdem war der Wille stärker, weiterzumachen. Letztendlich hat es fatale Folgen ­gehabt.

Zwei spanische Bergsteiger wurden so wie Sie unter der Lawine begraben, konnten sich aber nicht befreien.
Das war damals ausschlag­gebend dafür, noch mehr zu ­reflektieren und vor jeder Entscheidung in die Stille zu gehen und auf meine Intuition zu ­hören.

Ist das Bauchgefühl ein zweites Hirn?
Vielleicht kann man’s so nennen. Für mich ist es ein ganz starkes Gefühl, das mich bis jetzt noch nie getäuscht hat. Es war auch schon ein paar Mal so, dass ich bei Schönwetter den Impuls spüre, nicht aufzusteigen. Dann folge ich dem genauso. Und dann wird es auch manchmal schwierig, mich bei meinen Teamkollegen zu erklären. Man weiß es oft einfach nicht, wofür es gut gewesen ist. Aber ich gebe mich dem voller Vertrauen hin und denk, das war jetzt richtig so, egal ob ich dafür Bestätigung bekomme oder nicht.

Was hat Ihnen bis jetzt geholfen, am Leben zu sein? Abgesehen vom Können und Geschick.
Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Das Können und die Vorbereitung sind das eine. Es gibt aber auch vieles, was nicht greifbar ist. Ich hab ein starkes Grundvertrauen ins Leben. Das hat mir oft geholfen, zu über­leben oder etwas zu erreichen, wo andere aufgegeben haben. Aber es ist auch die Hilfe von Kollegen. Am Gasherbrum in Pakistan war ich im Abstieg und mit dem Kopf nach unten gerichtet, ganz fokussiert auf ­jeden Schritt. Damals war das mein damaliger Partner (der deutsche Extrembergsteiger Ralf Dujmovits, Anm.), der sich kurz umgedreht, raufgeschaut und gesehen hat, dass von oben jemand abstürzt. Wir waren in der Rinne drinnen, und Ralf hat mich gerade noch zur Seite gerissen. In dem Fall hat mir Ralf geholfen, in dieser Situation da zu überleben. Es braucht also auch Beistand.

© Patrick Baetz Photography Nach zwei Stunden im Dunkeln lassen wir um 6.45 Uhr das Stanzertal, die Lechtaler Alpen mit der Parseierspitze und der Eisenspitze sowie die Verwallgruppe (re.) hinter uns

Nutznießer des Kaltenbrunner’schen Beistandes sind beim Aufstieg auf den Wirt nun wir: Die Profibergsteigerin tauscht sich zu jedem Thema, das einen um 4.30 Uhr nachts eben bewegt, aufrichtig interessiert aus, reicht „Wackelkandidatinnen“ auf feuchten Felsbrocken die Hand, kontrolliert Schürfwunden und stopft bei plötzlich auftretenden Schwitzattacken Jacken der Teilnehmerinnen in ihren Rucksack und trägt sie. „Stinkert“ wird niemand, schließlich ist in unsere neuen Funktionsshirts Kaffeesatz eingewebt. Der neutralisiert Gerüche erfolgreich. Benni Raich schwört darauf.

Bei den K2-Expeditionen unternahmen Sie sieben Anläufe, um ihn als letzten aller Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen. Am 23. August jährte sich dieser Erfolg zum siebten Mal. Haben Sie dieses Jubiläum gefeiert?
Ich habe ganz stark innegehalten. Freunde wie Fans schreiben mir zum Jahrestag E-Mails. Manche schreiben mir Geschichten, wo sie gerade gewesen sind, als ich den Gipfel bestiegen hab. Diese Energie berührt mich sehr. Es ist noch kein Jahr vergangen, wo ich nicht an diese Besteigung gedacht habe. Es ist so präsent, als ob es gestern gewesen wäre.

Sie haben beim siebten Versuch einen anderen Weg gewählt. Die Nordseite statt der Südseite.
Als ich damals angekündigt habe, dass ich die Nordseite versuchen möchte, hab ich schon starke Kritik eingefangen. Auf der Südseite habe ich es sechs Mal nicht geschafft, obwohl es die leichtere Seite ist, und dann will ich die schwierigere Seite versuchen. Ich wurde gefragt, ob ich größenwahnsinnig bin, was das soll und ob ich mich umbringen will. Über all das habe ich nachgedacht, aber mich nicht beirren lassen. Die Freude, dass es geklappt hatte, war groß und ich konnte mir selbst und anderen zeigen: „Schau, es geht, es ist ein anderer Weg, aber es ist nicht immer alles so klar, wie es von außen aussieht.“

Manchmal täusche sich das Außen nämlich, sagt Cinderella Caterpillar. Den Namen hat Kaltenbrunner von kasachischen Bergsteigern 2003 am Nanga Parbat bekommen. Zuerst wurde sie bei der Spurarbeit von den Kollegen vollkommen ignoriert – „Frau am Berg“ war schließlich sonderbar. Als sie dann doch einmal zum Zug kam und die Spur treten „durfte“, „sind mir die Kasachen nicht nachgekommen“, grinst Frau Caterpillar. Sie war zu dem Zeitpunkt einfach besser akklimatisiert. „Dann haben sie mich endlich nach meinem ­Namen gefragt. So war das Eis gebrochen und es ist zu diesem Spitznamen gekommen“, spricht das zarte Wesen mit der Kraft eines Raupenfahrzeuges. Genetisch gesehen fällt sie damit völlig aus dem Rahmen, wie wir weiter erfahren.

© Patrick Baetz Photography Mit Blick auf den Gipfel genießen wir den Sonnenaufgang

Sie haben fünf Geschwister. Bis jetzt teilte offenbar niemand Ihre Leidenschaft für die Berge.
Vor Kurzem hab ich da ein ganz ein schönes Erlebnis gehabt. Meine Schwester hat ihren 50. Geburtstag gefeiert. Den haben wir auf einer Hütte verbracht und sind zu Sonnenaufgang auf den Kleinen Pyhrgas gegangen. Das tut meiner Seele richtig gut. Auch mein Bruder aus der Schweiz ist mitgegangen und Neffen und Nichten. Sie haben einen starken Bezug zur Natur in Form von im Wald Schwammerl suchen, aber zum Bergsteigen konnte ich sie mit meiner Begeisterung nicht wirklich anstecken. Aber es wird schon.

Sie sind ausgebildete Krankenschwester. Steckt die immer noch in Ihnen?
Ja, sehr! (Lacht.) Das spüren meine Freunde auch. Ich kümmer mich sehr gerne um an­dere. Wenn jemand auch nur Kleinigkeiten hat, bin ich da zuständig, um zu verarzten und zu ermutigen. Das taugt mir auch. Ich hab da sehr viel mitgenommen. Fürs Leben, aber auch für meine Unternehmungen. In Ländern wie Pakistan und Nepal, wo weit und breit kein Arzt ist, da kann man sich als Krankenschwester auch noch einmal richtig entfalten, weil dort gibt’s sonst nichts. Entweder man hilft da, so gut man kann, oder das geht vielleicht nicht so gut aus.

Ihre Station war die interne Abteilung mit onkologischem Schwerpunkt. Hat Ihnen das geholfen, mit dem Tod besser umgehen zu können?
Auf jeden Fall. Wir haben oft Supervisionen gehabt, wo wir besprechen konnten, wie’s uns damit geht. Mir hat das sehr geholfen. Ich hab gelernt, den Familien der Patienten meine Anteilnahme voll zu zeigen, wenn ihr geliebter Angehöriger gestorben ist, und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. In der eigenen Familie waren schon in jungen Jahren Geschehnisse, die mir sehr nahe gegangen sind. Deshalb hab ich mich sehr früh mit dem Thema Leben und Tod auseinandergesetzt.

Wie sehen diese Gedanken aus?
Alle reden davon, was ich für große Risiken eingehe, und dann hab ich eine Schwester, die zehn Jahre älter ist und von außen betrachtet gar kein risikoreiches Leben führt, aber Schicksalsschläge erlebt hat, wo ich mir gedacht habe, es kann eben überall und jederzeit sein, dass das Leben plötzlich in jungen Jahren endet. An Plätzen, wo ich sehr abgeschieden war, kommt man nicht umhin, sich die Fragen zu ­stellen: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Das hilft mir ganz stark, nicht zu verzweifeln, wenn irgendetwas passiert.

Sie führen Tagebuch. Warum?
Da stehen Fakten drin. Aber auch meine Emotionen, um den Tag zu reflektieren. Auch wenn es gefühlt ein nicht so positiver Tag war, überlege ich dennoch, was trotzdem gut war. Und da finde ich immer zwei, drei Sachen. Es liegt dann an mir, meinen Geist eher auf das zu richten. Das ist immer ein guter Abschluss am Abend.

© Patrick Baetz Photography Frühstück am Gipfel des Wirt auf 2.339 Metern Höhe. Wir hatten Wurst- und Käsesemmeln als Proviant dabei. Gerlinde ernährt sich seit zehn Jahren vegan und ging deshalb leer aus. Zum Glück gab es Heidelbeeren am Wegesrand

Ihnen eilt der Ruf voraus, geduldig, langmütig und ruhig zu sein. Wann können Sie sich so richtig aufregen?
Ich könnt’s nicht sagen. Oft bin ich durch gewisse Situationen oder Umstände tief berührt. Ich weiß nicht, was kommen müsste, damit ich mich aufreg.

Nicht einmal beim Autofahren?
Na, gar nicht. Nachdem ich seit einigen Jahren „The Work“ (ein Prozess der Selbsterkenntnis nach Katie Byron, Anm.) praktiziere, weiß ich, dass alles, was mir mit anderen Menschen widerfährt, ein Spiegel für mich ist und ich sofort reflektiere. Das ist auch hilfreich für Beziehungen. Mein Partner und ich machen das auch ­miteinander, wenn uns etwas emotionalisiert. Mit dem Leitfaden reduziert man das eigene Ego ziemlich. Ich kann das nur empfehlen.

Haben Sie durch die Beziehung zu Ihrem Partner Manfred, einem Yogalehrer und Bioresonanztherapeuten, Neues entdeckt?
Die Beziehung mit Manfred hab ich nur eingehen können, weil ich vorher mit mir ganz viel gearbeitet habe – mich genau zu kennen und meine Muster. Und nicht dem anderen umzuhängen, dass meine Ehe auseinandergegangen ist. Erst als ich mit mir im Reinen war und sehr gut mit mir allein sein konnte, hat sich die neue Beziehung aufgetan. Ein gleichgesinnter Partner ist wirklich ein Geschenk. Eine Bereicherung. Ich bin gerade sehr glücklich und dankbar.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe 36 2018