Der Raum macht den Talk

Mit dem 1976 erstmals ausgestrahlten "Club 2" gelangen dem ORF europaweit Maßstäbe zur TV-Diskussion. Der Anteil von Möbeln und Licht daran wird immer noch unterschätzt. Die Gesprächssituation ist eine gleichwertige dritte Variable neben Gästen und Moderation

von Medien & Menschen - Der Raum macht den Talk © Bild: Gleissfoto

So wie der "Tatort" sich zum letzten Kult des linearen Fernsehens entwickelt hat, lockt danach der Talk-Vergleich am Wochenende. Von "Im Zentrum mit Claudia Reiterer" (ORF) über "Links. Rechts. Mitte." (Servus TV) zu "Anne Will" (ARD). Das ist mehr als nur ein Wettlauf von Talkmastern, die unterschiedlicher kaum sein könnten (was auch für die interne Differenzierung zwischen Katrin Prähauser und Michael Fleischhacker gilt). Die abgestufte Betitelung der Sendungen - vom puren Namen der Moderatorin über ihre Mitnennung bis zur Hinweislosigkeit - sagt aber so wenig über deren wahre Egopflege, wie die heftige Personalkritik via Social Media eine wichtige Rahmenbedingung ignoriert: Der Raum macht das Gespräch. "Im Zentrum" leidet oder profitiert - je nach Gusto - unter der größten Distanz. Die Sessel der Diskutanten stehen, auch als Folge von Corona, weit auseinander, im Halbrund geöffnet in Richtung eines virtuellen Publikums, das es seit der Pandemie vor Ort nicht mehr gibt. Entsprechend kalt wirkt der Talk sogar dann, wenn er hitzig wird. Uns fehlt die Stellvertretung der Reaktionen eines Studiopublikums. Dieses Handicap spiegelt sich allerdings nicht in den Marktanteilen wider. Gute Quoten sind der Feind jeder Veränderung.

Doch Anne Wills virtuelles Vorzimmer zur Macht und mehr noch der vermeintliche Stammtisch von "Links. Rechts. Mitte." verschaffen schon durch ihre intimere Sitzsituation eine intensivere Gesprächsatmosphäre. Ersteres unterstrichen durch lichte Farben, ein Leichtermacher wie in jedem klug gestalteten Warteraum. Letzteres durch sparsame Beleuchtung noch weiter zu einer Debattenklause verengt, ein Animator zum Infight. In anderer Art der Fragestellung und Zahl der Mitredner könnte es eine Verhörzelle sein. Nicht nur die strategische Moderation, die polarisierende Gästewahl und die emotionale Grundausstattung der Diskutanten lassen es bei "L. R. M." häufig "Zur Sache" kommen - wie der Vorgänger von "Im Zentrum" hieß.

Für dieses Salz aller Talk-Suppen gibt es kein Patentrezept. Der Rahmen für Corinna Milborn und Gundula Geiginger für "pro und contra" auf Puls 24 ist jenem für Reiterer zum Verwechseln ähnlich. Auch Fleischhackers ServusTV-Setting von "Talk im Hangar 7" unterscheidet sich wenig davon: etwas enger, aber in der irritierenden Weite der Flugzeuggarage. Unterdessen setzen für ARD und ZDF Sandra Maischberger und Maybrit Illner auf Blautöne und Coolness, Markus Lanz und Frank Plasberg auf rotbraune Heimeligkeit.

Dass sie alle Erfolg haben, verführt zum Trugschluss, nur auf die Personen komme es an. Spätestens wenn jemand unter zu hohen Armlehnen leidet, im zu tiefen Sofa lümmelt, auf zu hartem Stuhl verkrampft, konzentrieren wir uns aber noch mehr auf diese Oberfläche als ohnehin. Inhalt? Er bestimmt weniger als zehn Prozent unseres Gesamteindrucks vom Fernsehen. Kleidung, Aussehen und Stimme der Darsteller nehmen es locker damit auf. Doch auch das ist noch die persönliche Ebene. Nirgends ist sie wichtiger als im Ego-Streit der Polit-Talks. Doch nirgends wird das Rundherum vom Zuschauer stärker unterschätzt.

Die Sendungen sind wie regelmäßige Events im echten Leben. Um Publikum zu binden, braucht es erst die langwierige Gewöhnung an ein Ritual. Doch irgendwann benötigt auch der beste alte Wein neue Schläuche. Diese Treue eines Stammpublikums lässt sich nicht allein durch wechselnde Diskutanten erreichen. Auch in Deutschland mit zehnmal mehr Bevölkerung gibt es Gesprächsgäste mit hoher Wiederholungsfrequenz. Doch ein neues Haus oder zumindest anders eingerichtetes Wohnzimmer locken zu weiteren Besuchsversuchen. Deshalb haben Langzeit-Talkerinnen wie Maischberger und Illner ihr Live-Setting auch schon neu erfunden. Nach mehr als fünf Jahren unter Claudia Reiterer wäre für "Im Zentrum" der Übergang in die Low-Corona-Saison mit Studiopublikum ideal für eine solche Renovierung. Je seltener das Personal sich ändert, desto öfter muss es sein Umfeld ändern. Das ist beim Talk nicht anders als beim "Tatort".