Der Präsidenzfall "Wir sind TikTok"

Wie Alexander Van der Bellen seinen Coolness-Effekt bei jungen Zielgruppen erreicht, erinnert an Erwin Pröll, der 2016 dann doch nicht angetreten ist. Der "Lowlander" und "Erwinizer" war ein Vorläufer für "May the Mehrheit be with you" auf TikTok

von Medien & Menschen - Der Präsidenzfall "Wir sind TikTok" © Bild: Gleissfoto

Während Alma Zadić (38) und Martin Kocher (48) noch bei "Wir sind Kaiser" sitzen, veröffentlicht Alexander Van der Bellen (78) schon sein drittes Video auf TikTok. Verkehrte Welt: Die Minister versuchen im öffentlich-rechtlichen Hauptabendprogramm, was der Präsident mit dem chinesischen Social-Media-Giganten probiert: Sympathiegewinn bei politikfernen Zielgruppen. Dabei sucht das Koalitionsduo vor allem die eigenen Generationen, die im Innenvergleich des ORF-Publikums noch zu den jüngeren zählen. Der Hofburgherr hingegen hat seine Enkel-Jahrgänge im Visier, denen das lineare Fernsehen schon fremd ist. Breitenwirkung und Nischenkontakt scheinen dadurch klar verteilt. Doch das ist ein Vorurteil. "Wir sind Kaiser" hatte 346.000 Seher. "Der Kandidat" steigerte sich unterdessen von Clip zu Clip: 30.000, 160.000, 260.000 Abrufe - Bilanz der ersten TikTok-Woche.

Zadić, Kocher und Van der Bellen liefern sich aus. Auf geradezu konträre Weise. Die beiden riskieren, sich bei Kabarettist Robert Palfrader der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie akzeptieren, bei allfälligen künftigen Gesprächsabsagen an diesen Auftritt erinnert zu werden: "Aber dafür hatten Sie Zeit?" Ein schwieriger Balanceakt angesichts von doppelt so viel Publikum bei einer "ZIB 2". Aber dort sind es die üblichen Verdächtigen: Politikinteressierte im Durchschnittsalter 60. Das reicht nicht. Auf Dauer.

UHBP VdB agiert oberflächlich betrachtet kontrollierter. Kein lästiger Fragesteller - weder Kabarettist noch Journalist - stört die Videobotschaften. Doch der Algorithmus - bei TikTok noch stärker als bei Facebook und Instagram - entscheidet, wer wann welchen Clip erhält. Der gute Präsident und die bösen Meinungsblasen: Dieser Grauschleier liegt über dem glänzenden Image vom jugendtauglichen Polit-Opa. Der Popularisierungszweck heiligt die Polarisierungsmittel. Im Zweifel für das Mitmachen.

Das ist weder neu noch grün oder gar bei Türkis abgeschaut. Van der Bellen und sein roter Vorgänger Heinz Fischer gelten zwar neben dem blauen Heinz-Christian Strache als Pioniere der Social-Media-Ansprache junger Zielgruppen, doch der Vorreiter ist heute schon in Pension: Niederösterreichs Ex-Landeshauptmann Erwin Pröll (75) hat solche Spezial-Wahlkämpfe bereits vor einem Vierteljahrhundert (ein-)geführt. Von den "Men in Black" über den "Lowlander" bis zum "Erwinizer" reichten die Filmzitate - per Plakat bis zum Angebot einer Landesfrisur (seine Haarpracht stilisiert als Mütze). Selbstironie ebenso inklusive wie der Versuch, nie die Falschen zu erreichen. Denn was die einen cool finden, geht für die anderen gar nicht. Das Prinzip war schon vor Social Media da, wo der Algorithmus zwar mehr Trennschärfe garantiert, die massenhafte Teilbarkeit aber das Gegenteil bewirkt.

Der Effekt ist mittlerweile durchaus erwünscht: Er gibt den jungen Plattform-Nutzern das Gefühl der Erstinformierten. Unterdessen bröckelt bei den älteren Technologie-Nachhinkern die Übereinkunft, was ein politischer Würdenträger darf und was nicht, ebenso schnell wie ihre Scheu vor der digitalen Vernetzung. Dass Van der Bellen antreten werde, wurde vielen Eltern von ihren Kindern schon am Freitag mit seinem TikTok-Clip vor seiner Erklärung am Sonntag klargemacht. Für diese Integration der Generationen braucht es aber auch die richtige popkulturelle Ansprache. Als The Clash "Should I Stay or Should I Go" veröffentlichten, war VdB so alt wie Zadić heute - und sie noch nicht geboren. Ähnlich ins kollektive Gedächtnis zielt der dritte Clip mit der Randnotiz "May the Mehrheit be with you" - Erinnerungen an "Star Wars" funktionieren heute wie einst die Märchen der Gebrüder Grimm.

Wer diese Infantilisierung der politischen Kommunikation ablehnt, dürfte als Mandatar schneller aus der Zeit fallen, als ihm lieb ist. Wo heute noch TV-Tauglichkeit ausreicht, entscheidet morgen schon Social- Media-Fähigkeit. Das ist ein Schritt wie von der Bühnenrede zum Fernsehtalk. Doch anders als bei dieser Entwicklung ist das Kompetenzziel ein flüchtiges. Was gestern Facebook war und heute TikTok ist, kann morgen schon etwas Neues sein. Wenn es die Politikbeteiligung verbreitert, ist es gut.