Matthias Strolz: "Wir leben auf einem Planeten der Fleischfresser"

Neos-Gründer Matthias Strolz hat "Gespräche mit einem Baum" geführt und daraus ein Buch gemacht. Wie es dazu kam, warum er auf Twitter nicht den richtigen Ton trifft, warum Politik kurzsichtig ist, erklärt er im Interview.

von Matthias Strolz: "Wir leben auf einem Planeten der Fleischfresser" © Bild: (C)2022 Ricardo Herrgott/News

In einer Sommernacht haben Sie begonnen, mit einem Baum in ihrer Nachbarschaft zu reden. Weil der nicht geantwortet hat, haben Sie es bei ihrem Lieblingsbaum im Maurer Wald versucht. Erfolgreicher offenbar, denn es gibt ein Buch, in dem das nachzulesen ist. Eher ungewöhnlich für einen Erwachsenen.
Der Kollege im Nachbargarten war eher schweigsam. Bäume reden ja nicht, habe ich mir damals gedacht. Oder vielleicht doch, und ich versteh es nur nicht? Kinder reden mit großer Selbstverständlichkeit mit Bäumen, nur Erwachsene finden das dumm. Aber wer hat es denn länger als fünf Minuten probiert? Natürlich höre ich den Baum nicht wie meine Nachbarin. Das wäre in der Tat bedenklich.

Was ist es: Meditation?
Es ist eine Persona, die in mir aufsteht und ein Eigenleben hat. Ich würde nicht zu denselben Themen und Antworten kommen, wenn ich meditieren oder Selbstgespräche führen würde. Ich habe schon das Gefühl, da läuft etwas durch mich durch. Ich bin nur das Instrument. Ich wundere mich oft selbst, wenn ich das später lese, und habe das Gefühl, von mir kommt das nicht.

Es braucht schon Mut, zu sagen, ich unterhalte mich mit einem Baum. Die Leute könnten sagen: Jetzt driftet der völlig ab. Wie waren die Reaktionen auf ihr Buch?
Ich hatte das Gefühl, wenn ich das nicht mache, dann kneife ich. Auch meine Föhre hat gemeint: "Also entweder, du bist feige, oder du machst das jetzt." Mein Umfeld hat unterschiedlich reagiert. Mache waren irritiert oder amüsiert, dann aber sehr interessiert. Aber es gibt natürlich auch welche, die aggressiv werden. Das hat sich vor allem auf Twitter abgespielt. Da war sehr viel Häme, Aggression und Untergriff. Das hat mich überrascht. Ich bin aber selbstkritisch: Vielleicht finde ich in dieser Zeit nicht den richtigen Ton für die Twitterblase. Die ist sehr geladen. Austro- Twitter ist während Corona in eine seltsame emotionale Schräglage gerutscht.

»Ich war vielleicht ab und an zu kokettierend in meinen Formulierungen und hab die Reibung auch gesucht.«

Für ihre Aussagen zu Corona wurden Sie als "Schwurbler" kritisiert. Würden Sie heute anders formulieren?
Ich war vielleicht ab und an zu kokettierend in meinen Formulierungen und hab die Reibung auch gesucht. Aber ich denke, es liegt nicht nur an mir. Nach zwei Jahren Dauerkrise ist viel Spannung da, die unterschiedlich abgearbeitet wird. Davor sind auch intellektuelle Kreise nicht gefeit. Viele Menschen suchen Erleichterung in Zynismus und Häme. Ich nehme zur Kenntnis, dass ich selbst gefährdet bin, da mitzumachen. Dann muss ich mich rausnehmen. Wenn ich darüber schlafe, vergeht der Erstreflex, zurückzuschlagen oder untergriffig zu werden. Meine Kontrollfrage ist: Was würde die Liebe tun? Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Dennoch sind Sie in die Impfskeptiker-Ecke geraten.

Ich habe immer gesagt, die Impfung ist ein wichtiger Teil der Lösung -aber ich habe immer ein "Und" nachgeschoben, nämlich: Und wir müssen das ganzheitlicher sehen. Wir haben es beispielsweise nicht geschafft, diese sehr ernste Krankheit Corona bei den Jungen ins Verhältnis zu setzen. Bei ihnen überwiegen die psychischen Schäden das Krankheitsrisiko bei weitem. Es gibt Studien in Österreich, wonach zwei Drittel der Mädchen und jungen Frauen problematische psychische Tendenzen entwickelt haben, bei Burschen sind es rund 40 Prozent. Das steht in keiner Relation zum Corona-Gefährdungsprofil von 15-Jährigen.

Es gibt Kinder und Teenager mit Long-Covid. So ungefährlich ist das also nicht.
Ich sage ja auch nicht,dass das nicht passiert. Aber wer versucht, diese Diskussion zu führen, der wird ins Schwurblereck gestellt. Natürlich gibt es Jugendliche mit Long-Covid. Das ist sehr ernst zu nehmen. Aber ich kenne auch Jugendliche, die Selbstmordversuche hinter sich haben, die mit dem Umgang mit Corona zu tun haben. Wir haben den gesamten öffentlichen Raum über zwei Jahre mit Angst gefüllt. Ich bleibe dabei, dass ich in dieser Debatte differenziert war, aber ab und an im Ton nicht hilfreich.

© (C)2022 Ricardo Herrgott/News

Sind Sie froh, dass Sie nicht mehr in der Politik sind und nicht selbst entscheiden müssen? Der Ton zwischen Regierung und Opposition wurde immer härter.
Vor Polarisierung ist keiner verschont. Mein großer Schmerz in dieser Zeit war, dass alle ihre nationalistischen Süppchen gekocht haben. Österreich war bei diesem Reflex ganz vorne dabei, wie es halt zur damaligen Regierung gepasst hat. Dabei wäre das in der Menschheitsgeschichte die einmalige Situation gewesen, dass der Tischler in Peru, die Friseurin in Horn und die Fischerin in Japan vom selben Phänomen betroffen waren. Aber wir haben es nicht im Ansatz geschafft, dieses Problem gemeinsam anzugehen. Das ist eine große Schande für unsere Spezies, das ist Ausdruck mangelnder Verbundenheit -um die es mir im Buch geht -, das ist eine unglaubliche Überheblichkeit und Kurzsichtigkeit der politischen Eliten. Schmerzvoll. Das macht mich gelegentlich wütend. Wut ist mitunter okay, weil sie eine Kraft ist, die Klarheit und Entschlossenheit bringt. Sie soll aber nicht die Reiseleiterin sein, denn sie führt auf falsches Terrain.

Wenn wir an der Coronakrise versagen, wie wird es erst bei der Klimakrise sein?
Ich halte die Klimakrise weniger für ein Problem für den Planeten. Der hat schon fünf Massensterben hinter sich. Wir sind jetzt im sechsten Artensterben drin. Warum sollten wir Menschen nicht Teil dieses sechsten oder des siebten Artensterbens sein? Ich glaube nicht, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Wir sind eine sehr eigentümliche Spezies mit unglaublichen Gaben, aber auch geblendet von der Aufklärung. Wir leben diese als seelenlose Optimierung und fahren damit in eine Einbahnstraße. Wir entfremden uns von den Dingen, über die wir Macht erlangen, wir empfinden uns nicht mehr als Teil der Natur, sondern haben uns über sie erhoben. Erst das macht uns fähig, sie so zu schänden. Ich plädiere dafür, diesen Haltungsfehler zu beheben. Wir glauben, die Erde gehört uns, dabei gehören wir zur Erde. Wenn man diese Art von Verbundenheit entwickelt, dann ist einem weder ein Panzerkrieg möglich noch eine Goldmine mit Kinderarbeit oder Turbokapitalismus.

Diese Kapitalismuskritik wird Ihre früheren Wählerinnen und Wähler irritieren.
Ich will nicht die Wirtschaft bashen. Die Frage ist aber, wie wir sie gestalten. Manche fragen: Warum sagst das gerade du, sind die Neos nicht neoliberal? Nein. Ich persönlich distanziere mich vom Turbokapitalismus. Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft. Wenn ich von meinem Job und meiner Karriere besessen bin, entgleitet das. Dann sind die Menschen bereit, die Umwelt und andere Menschen zu schänden. Das ist ja auch in der Politik sichtbar. Dort, wo sie beginnen, die Lüge zum Standardinstrument zu machen, sind sie nur von ihrer Karriere und ihren Machtüberlegungen geführt. Das ist eine Schande. Davon versuche ich mich fernzuhalten.

Wie weit haben Sie sich von den Neos entfernt?
Ich glaube, es gibt dort viele, die das auch so sehen wie ich. Und es gibt andere, die das seltsam finden vom Mitgründer. Ich wollte ja schon als Parteichef weg vom BIP als zentrale Steuerungsgröße der Wirtschaft. Das BIP freut sich über jeden Autounfall. Das ist sehr eindimensional. Wie dumpf muss eine Gesellschaft sein, die das als dominante Messlatte über den ganzen Planeten legt. Wir wollten das BIP in insgesamt 36 Steuerungsgrößen einbetten: z. B. Umwelt, Familie, Rechtsstaatlichkeit, Chancenfairness. Da würden politische Entscheidungen ganz anders ausfallen. Das geht in Richtung Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen.

Könnte die Krise solche Entwicklungen befördern, oder fallen wir in alte Muster zurück, wenn Corona und Krieg vorbei sind?
In der Tendenz machen wir weiter so. Wir sind Gewohnheitstiere. Dabei stehen uns die Folgeerschütterungen von Corona erst bevor. Es werden wilde Verteilungsfragen auf uns zukommen, dazu die Frage, wie es mit Geopolitik und Globalisierung weitergeht, und die galoppierende Inflation.

»Mein Eindruck war immer, wir brauchen sieben Krisen im Umfang der 2008er-Krise, dann geht es in Richtung eines neuen Miteinanders, einer Art Republik Europa.«

Zu Beginn der Pandemie hieß es, nun würde uns bewusst, was im Leben wichtig ist. Danach war das Wirtschaftswachstum bei fünf Prozent, die Vorsätze waren vergessen. Es hat sich schon etwas getan. Internationale Investitionsströme etwa verspüren den Druck, ökologischer zu werden. Reicht das?
Nein! Aber ich habe keine Zweifel, dass wir in die nächsten Krisen geschickt werden. Europa insbesondere. Mein Eindruck war immer, wir brauchen sieben Krisen im Umfang der 2008er-Krise, dann geht es in Richtung eines neuen Miteinanders, einer Art Republik Europa. Ich zähl mit.

Wir halten bei Nummer vier.
Da sind wir mittendrin. Wir brauchen also noch ein bisschen. Es wird große Erschütterungen geben, aber wir werden einen Umgang damit finden, weil wir eine schöpferische Spezies sind. Irritation ist die Mutter der Innovation. Wir sehen, dass die Welt im Umbruch ist. Die USA können ihre globale Führungsrolle nicht mehr ausfüllen. Europa ist mit sich überfordert. Die Chinesen sind zwar aufgeräumt, haben aber ein fragwürdiges Geschäftsmodell, wo ich nicht glaube, dass es ihnen gelingen wird, das über den ganzen Planeten zu ziehen. Aber: Geopolitisch sind wir erst in der Ouvertüre. Ob es eine Tragödie wird oder eine gemeinsame Symphonie, ist noch offen. Uns muss klar sein: Wir leben auf einem Planeten der Fleischfresser. Europa bietet sich als Beute an. Wenn wir uns weiter in dieser Position gefallen, werden wir gefressen. Das wird für unsere Kinder harte Konsequenzen haben: Die werden dann 24-Stunden-Pflege in Beijing machen.

Kann man das verhindern?
Wir müssen Selbstbewusstsein haben und wissen, was uns wichtig ist, welche Werte wir leben wollen, und diese auch verteidigen. Wenn Deutschland über Nacht 100 Milliarden Euro für Aufrüstung freimacht - was ich als Homo politicus verstehe -, wünsche ich mir, dass man auch 100 Milliarden für Friedensprojekte freimacht. Die Lösung kann ja nicht allein darin liegen, dass wir alle aufrüsten. Die Waffen, die man jetzt in die Ukraine bringt, werden in Europa zirkulieren. Die verschwinden ja nicht nach dem Krieg, die werden zu einem langfristigen Problem auf diesem Kontinent. Das kennen wir aus den Jugoslawienkriegen. Aufrüstung wird uns als Spezies nicht nach vorne bringen. 100 Milliarden für Friedensprojekte, da würde mir viele Dinge einfallen: Machen wir eine Friedensuni in fünf europäischen Städten und exportieren sie, Partnerschaftsprogramme mit Städten in Nordafrika, machen wir Hackathons in jeder EU-Hauptstadt zu Frieden und Gemeinsamkeit. Wir kennen dieses Instrumentarium ja aus dem Start-up-Bereich, gebären damit milliardenschwere Wirtschaftsgebilde, aber dass wir das politisch positiv nützen, fällt keinem ein. Das ist traurig.

»Wir sollen uns nicht permanent in der Opferrolle parken. «

In ihrem Buch stellen Sie einen hohen Anspruch ans Individuum. Jeder entscheide selbst über sein Schicksal und seinen Weg. Es gibt Leute, die können das nicht. Sagen Sie da: selber schuld?
Nein. Wir alle können Opfer von Krankheiten, Unfällen oder Bedürftigkeit werden. Dafür brauchen wir das Sozialsystem, da springt die Gemeinschaft solidarisch ein. Darum bin ich ein unverbiegbarer Fan des European Way of Life. Es gibt keinen anderen Kontinent, der soziale Sicherungsnetze in dieser Qualität geschaffen hat. Die müssen wir dringend erhalten. Ich plädiere aber dafür, und da lass ich keinen aus: Wir sollen uns nicht permanent in der Opferrolle parken. Da nehme ich Anleihe bei Viktor Frankl, der vier KZ überlebt und gesagt hat: Was ihm das Überleben gewährleistet hat, war der Umstand, dass er sich die letzte Freiheit und Verantwortung nie nehmen ließ, nämlich jene, Haltung einzunehmen zu dem, was ist.

Ist die Gemeinschaft stark? Es ist viel von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede.
Es ist noch unklar, welche Richtung wir nach Corona nehmen. Verschiedene Tendenzen sind angelegt. Die Chancenfairness hat extrem gelitten. Bildung ist noch stärker vererbt als zuvor. Das erste Unicorn, also das erste Start-up mit einer Milliardenbewertung in Österreich, kommt beispielsweise nicht aus dem Biotech-Bereich, sondern aus dem Bereich Nachhilfe. Das muss uns nachdenklich machen.

In Ihnen steckt immer noch der Bildungspolitiker.
Bildung ist der Schlüssel zu so vielem. Sie hat Einfluss auf sämtliche Politikfelder, von Sozial-über Arbeitsmarkt-bis zur Gesundheitspolitik. Bildung ist auch der Schlüssel zur Selbstermächtigung des Menschen. Flügel heben! Einmal mehr. Insofern ist "Gespräche mit einem Baum" ein zutiefst politisches Buch, obwohl nicht viel Politik drinnen vorkommt. Ich kann ja nicht anders. Was raus muss, muss raus. Es geht mir immer um dasselbe: um Entfaltung und positive Lebensführung. Ich halte nichts von Guru-Büchern, die sagen, du musst das so und so machen, dann wird alles gut. Da krieg ich den Reflex: Ich geb dir meine drei Kinder für eine Woche, und dann schauen wir, wie sehr du allezeit in deiner inneren Mitte ruhst. Nein. Ich zeige mich auch verletzlich. Ich mach mir meine Gedanken, und ich mach sie mir laut, weil es für manche hilfreich ist.

Wenn "ihr" Baum den Klimawandel nicht übersteht - würde Sie das zornig machen? Verletzen?
Ja, schon. Ich schau ja beim Rasenmähen auch, dass ich nicht auf eine Blume steige. Ich kann nicht einem Mitmenschen Schaden zufügen, ohne mich selbst zu beschädigen. Ich kann nicht die Umwelt schänden, ohne mich selbst zu schänden. Dagegen hilft kein schnelles Geld. Das deckt viel zu, ist aber kein Pflaster, das ewig hält.

» Ich bleib aber ein Politschädel«

Denken Sie manchmal an eine Rückkehr in die Politik?
Nein. Ich erlebe jeden Tag zuhause, wie ich gebraucht werde. Meine Vaterrolle ist aktuell emotional und zeitlich nicht vereinbar mit einer Spitzenposition in der Politik. Ich bleib aber ein Politschädel, das kann ich nicht ändern. Ich liebe das. Ich finde Politik unendlich wichtig und spannend. Es gibt verschiedene Rollen in diesem Feld. Ich hab die des Bürgers, des Autors, des Vaters, des Unternehmers. Damit bin ich gut ausgefüllt. Und glücklich. Nicht jeden Tag. Aber immer wieder.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 18/2022.