Das Schulfach mit
der eigenen Angst

Warum sich Eltern und Schüler vor Mathematik fürchten

Kaum etwas ist bei Kindern und Eltern so gefürchtet und braucht so viel Nachhilfe wie Mathematik. Dabei, meinen Experten, müsste man nur die Schönheit der Zahlen erklären.

von

Wenn Mathematiker Kinder für ihr Fach begeistern wollen, stellen sie ihnen Aufgaben wie diese: Entlang des Äquators wird ein Seil eng um die Erde gespannt. Dann wird dieses Seil um einen Meter verlängert und rund um den Erdball gleichmäßig angehoben. Kann nun unter dem Seil eine Maus durchschlüpfen? Wissenschaftler der Universität Innsbruck haben es sich mit ihrer Initiative "Mathe - Cool!" zum Ziel gemacht, das Interesse von Kindern und Jugendlichen an Mathematik mit Denksportaufgaben wie dieser und kreativen Experimenten zu fördern. Sie gehen in Schulklassen und wollen zeigen: Mathematik kann Spaß machen. Doch für viele Kinder, auf die sie treffen, ist Mathe ein Angstfach. Angesichts mancher Noten im Semesterzeugnis ist dieser Tage wohl oft der Satz "Warum muss ich diesen Mist überhaupt lernen?" gefallen.

Berechtigte Frage. Immerhin gab sogar der Mathematiker Keith Devlin, der am King's College in London studiert hat und an der Stanford University in den USA lehrt, in der "Huffington Post" zu, dass die mathematischen Fertigkeiten, die er während seines Studiums erworben hat, heute überwiegend nutzlos seien. Der Computer nehme ihm die Arbeit weitgehend ab.

Eins, zwei, drei, viele ...

Kleine Kinder haben meist noch Spaß an Zahlen. Die Mengen, mit denen sie hantieren, sind überschaubar und haben einen Bezug zur Realität. Ich habe drei rote und zwei gelbe Gummibärli, also insgesamt fünf. Wenn mir meine Schwester eines wegnimmt, sind es nur noch vier. Und das ist gemein.

Kinder zeigen gerne, dass sie schon zählen und rechnen können. In der Volksschule sagen je 36 Prozent der Viertklässler, dass ihre Freude an Mathematik "hoch" oder "eher hoch" ist, wie eine Befragung bei der Erhebung der "Bildungsstandards Mathematik" durch das Bundesinstitut für Bildungsforschung 2013 ergab. Bei diesem Mathetest schafften 65 Prozent das für diese Altersstufe vorgesehene Level, zwölf Prozent waren überdurchschnittlich gut, ebenso viele Kinder erreichten die Standards teilweise, elf Prozent gar nicht. Wenige Schuljahre später ist Mathematik das häufigste Nachhilfefach, bei der schriftlichen Matura jenes mit den meisten Fünfern. 2016 schafften sie 22 Prozent der Maturanten nicht im ersten Anlauf.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Zahlen nicht mehr überschaubar und der Bezug zum "wirklichen Leben" wird im Unterricht selten hergestellt. Stefan Thurner entwickelt an der Med-Uni Wien ein mathematisches Modell, mit dem man feststellen kann, wie wahrscheinlich es ist, dass Menschen, die eine Grunderkrankung haben, eine weitere Krankheit bekommen. Mathematik auf hohem Niveau also. Für ihn ist Mathematik eine "Sprache, die in immer mehr Bereichen des Lebens gesprochen wird. Wenn ich diese Sprache in der Schule nicht lerne, bin ich ein Analphabet." Da geht es nicht nur darum, beim Wohnungskauf nicht übers Ohr gehaut zu werden, oder seine Kontoauszüge zu verstehen. Es geht um grundlegende Fragen. Thurner: "Wie läuft Demokratie ab, in Zeiten von logarithmischer Beeinflussung von Wahlen durch gesteuerte Nachrichten in sozialen Medien. Wenn sich die Menschen nicht auskennen, kommen wir in ein neues Mittelalter, in dem eine winzige Elite, die mit Zahlen umgehen kann, Dinge vorgibt."

Das Faszinierendste an der Mathematik sei jedoch, "dass alles - von der Entstehung des Universums bis zum Ökosystem - nach mathematischen Regeln abläuft. Viele davon kennt man bereits, doch die meisten sind noch nicht entdeckt. Mathematik ist ein Feld in der Wissenschaft, in dem man noch neue Kontinente entdecken kann", schwärmt Thurner.

In der (Schul-)Mathematik gehe es immer um ein konkretes Problem, das man in etwas Abstraktes übersetzen müsse. Dann spiele man mit Formeln und Berechnungsregeln und erhalte ein Ergebnis, das man dann wieder in eine konkrete Lösung übersetzen müsse. "Der Knackpunkt ist, wenn die Lehrer diese Übersetzung nicht schaffen. Kein Mensch kann auf Dauer nur abstrakt denken, ein Schüler muss wissen, was er da tut, sonst ist er verloren - und dann macht noch einer Druck, dass man durchfällt. Das ist dann wirklich eine Hölle für Kinder." Ein Lehrer brauche zu jedem Gebiet der Mathematik "fünf verschiedene Geschichten, wie er etwas erklären kann. Und die Empathie, warum ein Kind hängt."

Auf seine Schulzeit zurückblickend sagt Thurner: "Ich war ein Jahr in den USA in der Schule und habe erst dort gelernt, dass ich ein kleines Talent bin." Denn der Mathematikunterricht war anders. Zunächst wurden grundlegende Rechenschritte sehr lange geübt. "Erst dann hat der Lehrer gesagt: Jetzt zeige ich euch, wozu das gut ist. Und ihr könnt das!" Mathematische Aufgaben wurden zunächst ausführlich in Worten diskutiert und dann hieß es: "Jetzt zeige ich dir, wie das mit einer Formel in zwei Minuten geht."

Eigentlich sollte jedes Mathematikgebiet als Spiel formulierbar sein, wünscht sich Thurner. Dass das funktioniert, weiß er, seit er mit einem Vierjährigen am iPad "Dragonbox" gespielt hat. Nach kurzer Zeit löste dieser dabei, ohne es zu wissen, quadratische Gleichungen auf Maturaniveau. Seit diesem Schuljahr wird "Dragonbox School" als Lehrmittel in norwegischen Volksschulen getestet.

Auch Michael Eichmair hat sich in der Schule mit Mathe nicht geplagt. Er übersprang eine Klasse, maturierte mit 16, begann Mathematik zu studieren und ging nach England und in die USA. 2015 wurde er mit 33 Jahren jüngster Professor an der Universität Wien. Mit seinem Projekt "Mathematik macht Freu(n)de" strengt sich Eichmair gemeinsam mit Lehramtsstudierenden und Profis aus anderen Bereichen an, einen angstfreien Zugang zum Mathematikunterricht zu finden. Denn: "Dass Mathe ein Angstfach ist, kommt nicht von ungefähr", sagt er. "Bis hin zur Aufnahme an der Universität läuft die Selektion über dieses Fach. So ein Mathematik-Trauma wird sogar oft von den Eltern an die Kinder weitergegeben." Viele Erwachsene träumen ja bekanntlich immer noch von der Mathematikmatura.

Eichmairs Studierende coachen Schülergruppen. "Dabei werden die Schülerinnen und Schüler nicht nur auf Schularbeiten vorbereitet, sondern wir arbeiten am grundsätzlichen Verständnis von und der Haltung zu Mathematik", erklärt Eichmair. Manche Schüler haben sich so in wenigen Monaten um zwei Notengrade verbessert.

Zurück in die Steinzeit

"Ohne Mathematik wären wir technologisch in der Steinzeit stecken geblieben. Das Handy könnte man vergessen. Beim Navi und dem GPS würde man ohne die Erkenntnisse der Mathematik gleich einmal ein paar hundert Meter danebenliegen. Quasi alle technischen Schlüsselentwicklungen gehen mit Mathematik einher. Mathematikabsolventen arbeiten bei so bekannten Unternehmen wie Google und Facebook. Berufe, in denen Mathematik eine Rolle spielt, fallen in Vergleichsstudien als besonders attraktiv auf. Als Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, den Kindern an den Schulen die Freude an der Mathematik zu verderben", sagt Eichmair.

Doch was in der Mathematikstunde gelehrt wird, habe oft viel zu wenig Bezug zur Alltagsrealität, kritisiert der Statistiker Erich Neuwirth. Er sorgte im Sommer nach der Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl durch den Verfassungsgerichtshof für Aufsehen, indem er nachrechnete, dass die Wahrscheinlichkeit einer Wahlmanipulation bei 0,000000000132 liegt. Das ist etwa ein Tausendstel der Wahrscheinlichkeit des Lotto-Sechsers. So etwas nachzurechnen, interessiere auch die Schüler, ist Neuwirth überzeugt. Deswegen plädiert er für eine zentrale Stelle, etwa im Bildungsministerium, die als "schnelle Eingreiftruppe" aktuelle Aufgaben für die Schulen bereitstellen solle. "Denn die Schulbücher können gar nicht aktuell sein." Außerdem kritisiert Neuwirth, dass an den Schulen immer noch zu wenig am Computer gearbeitet werde. "Am Computer kann ich mit den Aufgaben experimentell und spielerisch umgehen und schauen, wie ich die Lösung finde."

Hat also die Mathematik, so wie sie jetzt gelehrt wird, zu Recht einen schlechten Ruf? Jein, meinen die Innsbrucker Experten von "Mathe - Cool!"."Ja, wenn im Mathematikunterricht nur die Frage ,Wie etwas berechnen?' beantwortet wird und nicht die Frage nach dem ,Warum' gestellt wird; wenn also Mathematik nur als das Ausrechnen nach bestimmten Schemata verstanden wird. Nein, wenn Mathematik verstanden wird als das Kennenlernen, Entdecken und Formulieren von Zusammenhängen und damit verbunden das Auffinden - nicht das Auswendiglernen - von Methoden, um bestimmte Größen zu ermitteln."

Zu Recht gefürchtet

Eine Gruppe von Menschen fürchtet sich allerdings ganz unabhängig von der Qualität des Unterrichts zu Recht vor Zahlen. Jene drei bis sechs Prozent der Bevölkerung, die an Dyskalkulie leiden. Bei diesen Menschen funktioniert jener Teil des Parietallappens des Gehirns, der für die Verarbeitung von Mengen und mathematischen Symbolen zuständig ist, nicht so wie bei anderen, erklärt Roland Grabner, Begabungsforscher an der Universität Graz. Man erkenne diese ganz spezielle Leistungsschwäche, wenn Kinder von Anfang an massive Probleme beim Umgang mit Zahlen haben, sonst aber normale Schulleistungen erbringen. Wer sich dadurch kein Grundverständnis von Zahlen und Mengen aufbauen kann, hat ein Problem beim weiteren Rechnenlernen.

Leidet jemand an Dyskalkulie, kann mit Spielen das Verständnis von Zahlen gefördert werden. Zudem gibt es erste Versuche, jene Gehirnteile, die defizitär arbeiten, mit ganz schwachem, kaum wahrnehmbarem Gleichstrom zusätzlich zu stimulieren. Die Forschung dazu stecke noch in den Kinderschuhen, sagt Grabner. "Doch das Bewusstsein, dass Lehrer auch über Dyskalkulie Bescheid wissen müssen, wächst." Grabner verweist aber auch auf Umfragen, die zeigen, dass Mathematik "das einzige Schulfach mit einer eigenen Angst ist". 17 Prozent der Befragten haben "überdurchschnittliche" und drei bis vier Prozent sogar "extreme Angst" vor Mathe. "Bei diesen Menschen werden vor Mathematikaufgaben jene Gehirnareale aktiviert, die auch für die Schmerzwahrnehmung zuständig sind. Während diese Menschen die Aufgaben lösen, sinkt die Aktivität in diesem Gehirnbereich aber wieder."

Wer jetzt noch immer über der Aufgabe mit der Maus tüftelt: Man rechnet einen Meter geteilt durch 6,4 (zweimal Pi). Das ergibt etwas mehr als 0,15 Meter, also 15 Zentimeter. Eine Maus kann da leicht durch.

Kommentare

Oliver-Berg

Solange man Pädagogen an Schulen akzeptiert, die nicht in der Lage sind den Ihnen anvertrauten Kindern den Schulstoff anschaulich zu vermitteln, so lange wird auch das Fach und/oder die Lehrer Angst davor haben. Es gibt aber auch Schüler, die leider zu wenig Talent haben und auch von den Pädagogen zu wenig gefördert werden. Ein ehemals Betroffener.

Rigi999 melden

So einen Schwachsinn verbreiten!!! Gerade in diesem Fach ist der Lehrer besonders gefordert, den Kindern das Fach entsprechend zu erklären und nicht wie schon vor 50 Jahren: Friß oder stirb"(wie heute noch in den Mittelschule). So erklären, dass es jeder versteht, das ist alles!

strizzi1949
strizzi1949 melden

Ja, und genau das wird in diesem Artikel beschrieben! Ich denke, Sie haben ein Problem mit sinnerfassend lesen!

Seite 1 von 1