Um die Fähigkeiten von Marcel Sabitzer auf den Punkt zu bringen, lohnt es sich, die ausgelutschte In-Floskel "situationselastisch" aus der Mottenkiste zu kramen. In England, wo er als erster Österreicher ein Trikot bei Manchester United überziehen durfte, behilft man sich gerne mit zwei Worten: "Quick adapter". Damit ist ein Spieler gemeint, der sich auf die Schnelle anpassen kann, einer, der wie Sabitzer im Mittelfeld und Angriff flexibel einsetzbar ist. Wobei ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick, der ihn seit zehn Jahren kennt und ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihm aufgebaut hat, glaubt: "Eine Mischung aus Achter und Zehner ist seine beste Position."
ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick über seinen Unterschiedspieler
Auf jeden Fall ist er nicht leicht auszurechnen - was mitunter auch Rangnick selbst sprachlos zurücklässt. 6. Juni, das Wiener "Courtyard Marriott", Raum Prater 1, Kaderbekanntgabe für die wichtigen EM-Qualifikationsspiele in Brüssel und zu Hause gegen Schweden. 27 Nominierte, eine große Überraschung: Marcel Sabitzer, damals noch auf Leihbasis bei Manchester United. Rangnick, ehrlich erstaunt vor der Medienschar: "Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, ihn einzuberufen". Der 29-Jährige hatte sich selbst in das Aufgebot reklamiert, nachdem er zuvor noch die letzten Saisonspiele für seinen englischen Kult-Klub, darunter auch das FA-Cup-Endspiel gegen den Stadtrivalen City, aufgrund einer Meniskusverletzung hatte sausen lassen müssen.
Rangnick abschließend: "Nachdem ihm ein kleines Stück des Meniskus entfernt wurde, war der Heilungsverlauf so gut, dass er sogar schon wieder Richtungswechsel macht. Ein Einsatz in Belgien ist nicht realistisch, aber für das zweite Spiel in Wien gegen Schweden ist es nicht unmöglich, dass er zur Verfügung steht!"
Aber dann konnte er doch schon drei Tage vorher beim starken Auftritt des Teams in Brüssel (1:1) ran - und fightete nach seiner Einwechslung für die letzte halbe Stunde voller Leidenschaft. Beinahe wäre ihm sogar ein Tor geglückt.

Spätestens mit dieser Instant-Gala gegen einen Klassegegner zog er seine letzten Kritiker auf seine Seite: Der brennt ja jetzt fürs Team! Vor Jahren hatte sich Sabitzer nämlich auch in Sachen Teameinberufungen überaus flexibel präsentiert. Es kamen so einige verletzungsbedingte Rückzieher vor Länderspielen oder Trainingslager zusammen. ÖFB-intern soll es nicht nur einmal Zweifel am wahren Fitnesszustand gegeben haben.
Egal: 2023 erlebt Fußball-Österreich definitiv einen Sabitzer 2.0. Das war schon gut erkennbar im März in Linz: Als Kapitän anstelle der fehlenden David Alaba und Marko Arnautovic zwei Tore beim Pflichtsieg gegen Aserbaidschan (4:1) - da hatte einer echte Spiellaune. Er hat deutlich an Statur gewonnen, ist - vor allem durch seine vielen Jahre in Deutschland -zur Persönlichkeit gereift.
Heute haut er Sätze raus wie "Es braucht Typen, die sich nicht wegducken, wenn es mal nicht so lustig ist". Seine Metamorphose vom jungen Wilden zum abgeklärten Führungsspieler ist reich an Facetten, saftigen Anekdoten und Meinungsumschwüngen. Es begann jedenfalls vielversprechend: Mit nur 17 ließ Trainer Didi Kühbauer den talentierten Sohn des einstigen Teamstürmers Herfried - Typ wuchtiger Sturmtank - bei der Admira in der heimischen Bundesliga debütieren.
Transfers mit Nebengeräuschen
Im Jänner 2013 dockte Sabitzer bei Rapid an - und nicht bei Schalke 04, wie Berater Alexander Sperr gehofft hatte. Der höhnte, nachdem er vom Kärntner Manager Christian Sand verdrängt worden war: "Über Marcels Aussage, dass Rapid von klein auf sein Traumverein war, musste ich lachen. Da sieht man, wie schnell man heute für Geld seine Ideale wechselt." Die Ablösesumme: etwa 300.000 Euro - und zusätzlich soll, wie das "Sportmagazin" vor zehn Jahren recherchierte, "für den Papa ein fünfstelliger Betrag abgefallen sein".
Nicht ganz astrein wirkte auf jeden Fall der nächste Wechsel: Da Sabitzer eine Ausstiegsklausel fürs Ausland um zwei Millionen hatte, kaufte offiziell RB Leipzig Rapids Young Gun - um ihn sofort an Salzburg weiterzuverleihen. Dort machte ihm nach einer Saison ein gewisser Ralf Rangnick Leipzig - damals noch in der zweiten deutschen Liga - schmackhaft. Aus dem vermeintlichen Abstieg sollte eine Erfolgsstory werden: Sechs Saisonen hielt "Sabi" den Sachsen die Treue, etablierte sich nach dem Aufstieg in die erste Bundesliga als Sechser, als zentraler Mittelfeldspieler, als Leader, als Kapitän. Im März 2020 gelang ihm als erstem Österreicher ein Doppelpack in der K.-o.-Phase der Champions League - gegen Harry Kanes Tottenham. Auch als Familienvater fand Sabitzer in Leipzig höchstes privates Glück.

Dann ein falscher Umschaltmoment, der Irrtum mit Bayern, seinem verbürgten Lieblingsklub schon als Kind. Als Wunschspieler seines Trainers in Leipzig, Julian Nagelsmann, im Sommer 2021 mit einem Vierjahresvertrag ausgestattet, japste er im Münchner Haifischbecken vergebens nach Luft. Meist Edeljoker, biss er sich an den deutschen Teamspielern Joshua Kimmich und Leon Goretzka die Zähne aus. "Das Gefühl, hier werde ich gebraucht oder vielleicht sogar geliebt, ist ihm wahrscheinlich abgegangen", analysierte "Sky"-Experte Alfred Tatar.
Frust beim Lieblingsklub
Dabei hatte Oliver Kahn, damals noch Vorstandschef, bei der Verpflichtung vor Optimismus gesprüht: "Sabitzer bringt alles mit, was ein Spieler für den FC Bayern braucht. Er wird außerdem keine lange Eingewöhnungszeit benötigen, weil er mit der Philosophie unseres Trainers Nagelsmann bereits bestens vertraut ist." Freilich zog mit Karl-Heinz Rummenigge schon ein halbes Jahr später eine weitere FCB-Klublegende ein erstes bitteres Zwischenfazit: "Er war ein Luxustransfer. Marcel Sabitzer hat den Kader nicht so verbessert, wie man sich das vielleicht vorgestellt hat."
Der Ausweg für alle Beteiligten: Ein Leihgeschäft mit Manchester United - und das in letzter Sekunde vor dem Ende der Transferfrist am 31. Jänner 2023. "Ein perfekter Fang", jubelte Englands Yellow Press doppeldeutig - mit seiner "neun Jahre älteren Verlobten Katja, der Reality-TV-Beauty", schienen die Boulevardmedien noch mehr Freude zu haben.
Traumtor im Theater der Träume
Was sich spätestens Ende April bewahrheiten sollte, als News den englischen Blätterwald durchforstete: Da hatte die "Mail on Sunday" Sabitzer in eine B-Elf verräumt und ihn auch namentlich degradiert, zum SAUBITZER. Dabei hatte der Österreicher, ehe er sich Mitte Mai verletzte, einige echte Magic Moments im Old Trafford, dem "Theatre of Dreams": Zum Beispiel sein cooles Fersler-Tor im FA-Cup gegen Fulham, das selbst der abgebrühten United-Trainerikone Alex Ferguson einen Schmunzler in der Loge entlockte. Oder auf internationaler Ebene sein Doppelpack in der Europa League gegen FC Sevilla - nur Slapstick-Patzer seiner Abwehrkollegen sollten den Einzug ins Semifinale verhindern.
Fix erwerben wollte United seine Nummer 15 trotzdem nicht, es hieß "return to sender". Den Bayern passte er aber auch nicht in den Kram. Quo vadis, Marcel? Mit "Buongiorno" begrüßte er eines Julitages seine Fans in den sozialen Medien aus dem Urlaub - und schon wurde mit AS Roma als siebenter Profi-Station des ÖFB-Teamspielers spekuliert. Aber alle Wege führten dann statt in die Ewige Stadt zum ewigen Zweiten der deutschen Liga, Borussia Dortmund. Wo Sabitzer von Sportdirektor Sebastian Kehl mit warmen Worten begrüßt wurde: "Ein Box-to-Box-Akteur, der seit Jahren auf internationalem Topniveau spielt". Auch "Sky"-Kritiker Didi Hamann wähnt Sabitzer in Dortmund besser aufgehoben als in München: "Weil er der unangenehme, aggressive Typ ist, der Bälle gewinnt. Sein Wille, die Widerstandskraft - das hat den Dortmundern gefehlt."
Aber den holprigen Saisonstart des Vizemeisters konnte auch der Neue nicht verhindern. Den österreichischen Fans würde freilich schon genügen, wenn Sabitzer in der EM-Qualifikation einmal mehr zum "Difference Maker" wird - so sein öffentlich von Teamchef Rangnick verliehener Adelstitel.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 36/2023.