Hirscher: Sein
Gold-Geheimnis

Marcel Hirscher hat mit der Olympia-Goldmedaille seiner erfolgreichen Karriere endgültig die Krone aufgesetzt. Jetzt will er in Slalom und Riesentorlauf noch nachlegen.

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Marcel Hirscher - Hirscher: Sein
Gold-Geheimnis

Zwei Stunden nach dem Triumph steht der staatlich geprüfte Skilehrer Ferdinand Hirscher wieder in der Skischule im Salzburger Annaberg und führt fünf-bis sechsjährige Kinder behutsam in die weiße Kunst ein: "Ich bin in der Nacht natürlich vorm Fernseher gesessen und habe mit meinem Sohn mitgefiebert. Aber der Alltag geht weiter, auch nach einem Olympiasieg." Erst als mitten im Gespräch mit einem ORF-Reporter sein Mobiltelefon klingelt und der Sohn dran ist, wird der 62-jährige ehemalige Hüttenwirt und Bergführer von seinen Emotionen übermannt und bricht in Tränen aus. Und die Anspannung der vergangenen 48 Stunden weicht einer tiefen Zufriedenheit: "Wir haben gemeinsam in den letzten Jahren sportlich sehr viel erreicht. Aber eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen ist halt doch etwas ganz Spezielles."

Die entscheidenden Weichen auf dem Weg zur ersten olympischen Goldmedaille von Marcel Hirscher werden in der Nacht von Sonntag auf Montag in Annaberg gestellt. In allen Trainingsläufen für die Kombinationsabfahrt ist Hirscher bis dahin der Konkurrenz hinterhergefahren. Deshalb nimmt das Team am Tag vor dem Rennen trotz widrigster Wetterbedingungen einen letzten Anlauf, um doch noch den richtigen Ski und das perfekte Setup zu testen. Vater Ferdinand sitzt gut 8.500 Kilometer Luftlinie entfernt vom Jeongseon Alpine Centre allein vor dem Computer in seinem Haus in Annaberg, lässt sich laufend Außen-und Schneetemperaturen durchgeben, studiert ein um das andere Mal die aktuellen Videos von den Trainingsschwüngen seines Sohnes. Und trifft dann eine Entscheidung: "Ich habe mich gemeinsam mit Marcel und seinem Servicemann für die eher konservativere Variante entschieden. Die Wahl des richtigen Materials und die Abstimmung von Ski, Schuh und Bindung sind immer ein Tanz auf der Rasierklinge. Zum Glück hat es auch dieses Mal funktioniert."

Normalerweise ist Ferdinand Hirscher bei allen Rennen seines Sohnes an vorderster Front mit von der Partie. Nur in die USA oder jetzt nach Südkorea fährt er nicht mehr mit. Weniger aus Flugangst, sondern weil er zehnstündige oder noch längere Flüge hasst. Mit Schaudern erinnert er sich an seinen letzten Überseetrip zu den Olympischen Spielen 2010 im kanadischen Vancouver: "Das war für mich ein ungeheurer Stress. Von Annaberg bis nach Kanada war ich gezählte 36 Stunden unterwegs. Dabei ist es mir alles andere als gut gegangen. Eine solche Quälerei will ich mir in meinem Alter nicht mehr antun."

Das geniale Tüftler-Duo

Aber auch aus der Entfernung und trotz der acht Stunden Zeitverschiebung hat das eigentliche "Mastermind" hinter dem Hirscher-Triumphzug durch den Skizirkus alles fest im Griff. Hirscher senior: "Ich war ja selbst ein begeisterter Amateurrennläufer und habe mich damals schon intensiv mit der Materialabstimmung beschäftigt. Auch wenn ich dafür manchmal belächelt wurde, dieser Erfahrungsschatz kommt uns heute zugute."

Ferdinand und Marcel Hirscher gelten im Skizirkus mittlerweile als die genialsten Tüftler, was Material und Feintuning anlangt. Der Riesentorlaufski von Atomic erlaubt zum Beispiel 1.640 Einstellungsvarianten. Mit einer speziellen Software wird jeder Schwung von Marcel Hirscher bis ins kleinste Detail zerlegt. Üblicherweise werden vor einer Rennsaison aufgrund der im Training gewonnenen Daten aus einer Unzahl von Rennmodellen die schnellsten hundert Paare herausgetestet -je 40 für Slalom und Riesentorlauf, 20 für Einsätze im Super-G oder in einer Kombinationsabfahrt. Ferdinand Hirscher: "Es geht in der Feinabstimmung eines Rennskis um Millimeter, um ganz kleine Nuancen. Das ist eine überaus sensible Arbeit, die aber im Endeffekt über Sieg oder Niederlage entscheidet."

Gleich zu Beginn der Olympiasaison werden diesmal am 17. August 2017 beim ersten Training auf dem Mölltaler Gletscher alle Planungen für die Olympischen Spiele in Südkorea über den Haufen geworfen. Marcel Hirscher bricht sich bei einem "Einfädler" den linken Außenknöchel, seine erste schwere Verletzung seit dem Kahnbeinbruch unmittelbar vor der Ski-WM 2011 in Garmisch-Partenkirchen. Von einer Sekunde auf die andere sind alle Trainingspläne und Skitests Makulatur. Sogar der Start bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang scheint zunächst gefährdet. Dazu kommt, dass ausgerechnet in diesem Winter ein neues Reglement für den Riesentorlaufski in Kraft tritt. Eine zusätzliche Herausforderung für das "Team Hirscher". Jetzt ist die ganze Kompetenz gefragt, die sich Marcel Hirscher und sein Vater in den letzten 20 Jahren, seit den ersten Schülerrennen, gemeinsam erarbeitet haben. Der beste Skifahrer der Welt begreift die verletzungsbedingte Zwangspause nach sechs Gesamtweltcuperfolgen in Serie und sechs Weltmeistertiteln bald auch als Chance: "Es wird eine spannende, vielleicht sogar die spannendste Saison meiner bisherigen Karriere", schreibt Hirscher in einem Blog-Eintrag Anfang Oktober, als der Knöchel schön langsam wieder zusammenwächst.

Der Material-Poker

Am 3. Dezember, nicht einmal vier Monate nach seinem fatalen Trainingssturz, feiert der 28-jährige Salzburger in Beaver Creek ausgerechnet im Riesentorlauf seinen Comebacksieg. Auch dabei entscheidet Vater Ferdinand aus der Entfernung die Wahl des richtigen Skimaterials. Zwischen erstem und zweitem Durchgang steigt Marcel Hirscher auf einen Prototyp um, den er zuvor noch nie im Renneinsatz getestet hat. Ferdinand Hirscher: "Wir haben damals hoch gepokert, weil wir ja kaum Testtage hatten. Da war auch viel Glück dabei."

Zum Testen ist Marcel Hirscher auch in den Wochen darauf nicht viel gekommen, weil der rekonvaleszente Knöchel immer wieder geschont werden muss. Stattdessen legt der Salzburger im Weltcup eine unglaubliche Siegesserie hin, gewinnt bis zum Abflug nach Südkorea insgesamt zehn Rennen (viermal Riesentorlauf, sechsmal Slalom) - schon jetzt die erfolgreichste Saison seiner fast zehnjährigen Weltcupkarriere. Diese Bilanz setzt sogar seinen Vater noch in Erstaunen: "Ich habe mir seinerzeit auch einmal den Knöchel gebrochen. Bei mir hat es fast zwei Jahre gedauert, bis ich bei den Rennen wieder Vollgas geben konnte."

Als haushoher Gold-Favorit fliegt Marcel Hirscher nach Südkorea. Die ganze Skination Österreich erwartet vom Salzburger wie selbstverständlich einen Olympiasieg - mindestens. Er selbst versucht, den Ball flach zu halten: "Ich bin deswegen kein schlechterer Skifahrer, wenn das mit dem Olympiasieg nicht klappt, und meine bisherigen Erfolge sind dann auch nicht weniger wert." Bis zuletzt zögert er, ob er neben Riesentorlauf (Sonntag, 18. Februar) und Slalom (Donnerstag, 22. Februar) vorher auch noch in der alpinen Kombination an den Start gehen soll. Das Risiko für den Kombinationsweltmeister von 2015 ist deshalb so groß, weil er wegen des Knöchelbruchs schon seit einem Jahr nicht mehr auf den langen Rennlatten gestanden ist. Nach den großen Zeitrückständen in den ersten Trainingsläufen steht das Unternehmen alpine Kombination gerüchteweise sogar kurz vor dem Abbruch.

Aber es wäre nicht Marcel Hirscher, wenn er nicht gerade in schwierigen Situationen und angesichts des überbordenden Erwartungsdrucks der Öffentlichkeit erst recht zur Höchstform aufläuft. Für das ganze "Team Hirscher" ist die Goldmedaille in der alpinen Kombination dann wie eine "Erlösung". Trainer Mike Pircher bringt es nach dem Triumph auf den Punkt: "Bei mir sind heute sogar Tränen geflossen, obwohl ich ja sonst ein cooler Hund bin. Wir sind nach Südkorea gekommen, um Gold zu holen. Das ist uns jetzt gleich im ersten Bewerb gelungen. Alles, was jetzt noch kommt, ist eine Zugabe."

Marcel Hirscher selbst hat den ersten Olympiasieg seiner Karriere bis jetzt betont zurückhaltend kommentiert. Wie es tief drinnen ausschaut, wissen wahrscheinlich nur seine Eltern, sein jüngerer Bruder Leon und seine langjährige Lebenspartnerin Laura Moisl, eine studierte Kommunikationswissenschaftlerin.

Die Krönung einer Karriere

Dass er mit dem Olympiasieg seiner unvergleichlichen Karriere endgültig die Krone aufgesetzt hat, wird Marcel Hirscher wahrscheinlich erst in ein paar Jahren bewusst werden. Franz Klammer zum Beispiel, der Abfahrtsolympiasieger von 1976 in Innsbruck, erklärte die Langzeitwirkung seiner Goldmedaille erst kürzlich in einem Ö3-Interview so: "Dass ich im Skisport mit meinem Olympiasieg etwas bewegt habe, ist mir erst nach Jahren so richtig bewusst geworden. Auch mein Leben hat sich durch die Goldmedaille enorm verändert. 42 Jahre später zehre ich noch immer positiv von diesem Olympiasieg."

Ähnlich bewertet Leodegar Pruschak, der als Raiffeisen-Marketingchef die Karriere Marcel Hirschers vom ersten Weltcupsieg 2009 bis zum Olympiagold 2018 als Sponsor begleitet hat, die Bedeutung dieses Olympiasieges: "Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber Olympiagold strahlt halt ganz anders. Zu einer rundum gelungenen Skikarriere gehört der Olympiasieg einfach dazu. Das ist definitiv die Krönung. Und keiner hat sich diesen Sieg mehr verdient als Marcel, auch aufgrund seiner bisherigen Erfolge im Weltcup und bei Weltmeisterschaften."

In der Nacht von Samstag auf Sonntag wird Ferdinand Hirscher daheim in Annaberg wieder vorm Computer sitzen und am Ende den schnellsten Ski für seinen Sohn auswählen. Und sein "Goldhändchen" erneut unter Beweis stellen.

Das Hirscher-Prinzip: Wie auch Sie vom Ski-Champion lernen können lesen Sie im aktuellen News Nr.7/18

Dieser Artikel erschien im News Nr. 7/18

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