"Ich urteile nicht"

Der Chef des Staatsballetts über das Sarkissova-Eklat, sein Jahr in Wien und Fukushima

von
Manuel Legris in NEWS - "Ich urteile nicht"

NEWS: Wie war Ihr erstes Jahr als Chef des Wiener Staatsballetts?
Manuel Legris: Das Publikum konnte sich überzeugen, dass sich beim Ballett viel Neues tut. Das empfinde ich als ersten Etappensieg. Ich hege keinerlei Zweifel an den ausgewählten Choreografien und Tänzern. Ich denke, ich habe ein Auge dafür. Allerdings habe ich viel dazulernen müssen, was das Budget und administrative Fragen angeht. In Wien klappt nichts, wenn man mit dem Kopf durch die Wand will. Statt stur zu bleiben, setze ich Veränderungen jetzt auf andere Art durch. Das Ergebnis spricht für sich. Hätte ich leere Säle, miese Kritiken und streikende Tänzer gehabt, wäre ich mit Sicherheit wieder zurück in Paris. Ich gebe in meinem Beruf alles. Wenn das nicht reicht, verzweifle ich nicht, sondern gehe woanders hin, um meine Arbeit zu machen. Ich muss nicht jedem gefallen, sondern tue, was ich für richtig halte. Das erwartet man auch von einem Direktor.

NEWS: Sie haben in Ihrer ersten Saison stolze acht Ballett-Premieren gefeiert. Würden Sie sich diesen Stress noch mal antun?
Legris: Ehrlich gesagt war es etwas zuviel, aber notwendig. Ich habe mich noch nie so auf Urlaub gefreut, wie nach dem ersten Jahr. In Wien hielt man sich bisher eher an ein festes Repertoire, das ich in gewisser Weise als tot empfinde, weil es immer dasselbe ist. Ich habe mich bemüht, neue Stücke aufzuführen, mit Choreografen, die man in Wien bisher nicht kannte. Das ist eine Bereicherung für die Tänzer und fürs Publikum. Natürlich kann man auf „Schwanensee“ und ähnlich populäre Ballette nicht verzichten. Aber nur darauf zu setzen, wäre zu einfach.

NEWS: Wie hat das Publikum Ihre Neuerungen angenommen?
Legris: Ich war überrascht, dass ich keinen großen Fehlschlag erlitten habe. Man hat mir im Vorfeld gesagt, das Wiener Publikum sei sehr konservativ, aber das stimmt nicht. Wenn man Qualität bietet, kommen die Zuschauer auch wieder.

NEWS: Es heißt, Sie seien ein Workaholic...
Legris: Ich bin ambitioniert und arbeite unglaublich gerne. Ich könnte es mir wahrscheinlich einfacher machen, aber der Typ war ich noch nie. Ich bin immer gerne Risiken eingegangen.

NEWS: Hatten Sie deshalb auch keine Angst, nach Japan zu fliegen, wie viele andere Künstler?
Legris: Ich war nur kurz nach dem Unglück in Fukushima verunsichert. Aber ich bin ein Fatalist und denke immer zuerst an die anderen, statt an mich. Also bin ich im Sommer in Japan aufgetreten und habe es meinen Tänzern freigestellt, mich zu begleiten. Die Hälfte kam mit. Ich bezweifle, dass ich mein Leben verkürze, weil ich in Japan tanze. Das würde bedeuten, dass alle Tokioter in größter Gefahr schweben. Ich liebe das Land und seine Bevölkerung, die mir in 30 Jahren enorm viel gegeben hat. Deshalb habe ich nun wieder bei einer Charity-Gala in Tokio getanzt. Das wollte ich unbedingt machen.

NEWS: Zu Beginn Ihrer Amtszeit kam es gleich zu einem Eklat, weil Sie Tänzerin Karina Sarkissova nach unerlaubten Nacktaufnahmen von der Arbeit freistellten. Wie ist Ihr Verhältnis heute?
Legris: Karina Sarkissova und ich hatten einen schlechten Start. Ich habe mich dennoch absolut korrekt verhalten. Nachdem sie drei Monate später zum Ballett zurückkehrte, habe ich sie wieder integriert und in großen Produktionen tanzen lassen. Dann hat sie sich entschieden, etwas anderes zu machen. Sie hat mich um ein Jahr Auszeit gebeten, um andere Ambitionen zu verfolgen. Es ist ihre persönliche Entscheidung, die ich respektiere.

NEWS: Ist sie, wie jetzt als „Große Chance“-Jurorin, besser im Fernsehen aufgehoben?
Legris: Ich urteile nicht. Jeder Mensch ist anders. Ich erwarte mir Aufrichtigkeit gegenüber dem Ensemble, sowie eine gewisse Ethik und Arbeitsmoral.

NEWS: Fehlt Ihnen Paris?
Legris: Überraschenderweise nicht wirklich. Ich bin so beschäftigt mit meiner Arbeit in Wien. Ich wäre nicht glücklicher, wenn ich in Paris Ballettlehrer geblieben wäre. Ich habe eine gute Wahl getroffen. Ich hoffe, dass ich in Wien bleibende Spuren hinterlassen kann.

NEWS: Wie erleben Sie Wien als neuen Lebensmittelpunkt?
Legris: Ich hätte gerne ein bisschen mehr Zeit, um die Stadt zu erkunden. Wenn ich nicht arbeite, bin ich zu anderen Vorstellungen eingeladen. Dazu kommen noch die Tourneen. Ich hatte deshalb noch nicht das Gefühl, richtig angekommen zu sein. Ich ärgere mich maßlos darüber, dass ich noch immer nicht richtig Deutsch spreche. Ich möchte es wirklich lernen, habe aber überhaupt keine Zeit dazu.

NEWS: Kommt Ihr Privatleben durch den Job auch zu kurz?
Legris: Nein, das läuft gut, alles beim Alten. Aber, wie man so schön sagt, es ist privat.

NEWS: Was wünschen Sie sich für die neue Saison?
Legris: Meine Bemühungen sollen sich bezahlt machen. Der schwierigste Punkt ist es, neue Choreografen zu finden. Die Großen sind meistens schon Jahre im Voraus ausgebucht. Die Zeit läuft mir davon und ich habe Angst, dass ich nicht alles schaffe, was ich mir vorgenommen habe.