Opfer oder Rächer:
Wer war Ötzi?

Ein Film zeigt den Eismann von der allzu menschlichen Seite

Der Steinzeitmensch, der 5.300 Jahre im Gletscher der Ötztaler Alpen ruhte, hätte auch ein Mensch von heute sein können, behauptet der deutsche Regisseur Felix Randau. Sein Film "Der Mann aus dem Eis" hat nun Österreichs Kinos erreicht.

von Der Mann aus dem Eis © Bild: Martin Rattini for Port-Au-Prince Film /Echofilm

Flammengarben verschlingen Kelabs Haus, und von der Sippe ist er als Letzter übrig geblieben. Die Männer wurden abgeschlachtet, die Frauen geschändet und getötet. Auch Kelabs Frau und der gemeinsame Sohn haben den Zugriff der Raubmörder nicht überlebt. Und der Spiegelstein, Kelabs Heiligtum, das er stets wie sein eigenes Auge gehütet hat, ist gestohlen.

Nichts ist ihm geblieben. Schmerz und Wut verzerren das von langem Haupthaar und verfilztem Kinnbart gerahmte Gesicht eines Mannes, der nur noch eines will: Rache.

Steinzeit-Western

Ein Western? Ja, wenn man so will: Der deutsche Regisseur Felix Randau bedient sich für den Film "Der Mann aus dem Eis", der nun Österreichs Kinos erreicht, bewährter Techniken. Allerdings ist Kelab kein Siedler, der in der Prärie neues Land erschließen will, sondern der Mann, der 5.300 Jahre nach seinem Tod unter der Marke "Ötzi" zu weltweiter Prominenz gelangt ist. Für Randaus Filmporträt leiht ihm der deutsche Schauspieler Jürgen Vogel die Gestalt. Und genregemäß verpflichtete sich auch der Ehrwürdige des Italo-Westerns, der 76-jährige Franco Nero, zu drei Drehtagen, um den noblen Greis Ditob zu geben. "Er übernimmt keine langen Drehs mehr, aber er ist ein umgänglicher, sehr professioneller Mensch", dankte Randau, als ihn News in seiner Berliner Wohnung kurz vor dem Aufbruch zur österreichischen Präsentation erreichte. Anno 1991 entdeckte das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon während einer Wanderung auf dem Tisenjoch in den Ötztaler Alpen den mumifizierten Leichnam des Steinzeitmannes. Damals war der 1974 geborene Randau noch ein Teenager und hegte wenig Interesse für den Fund, der Wissenschaft und Medien bewegte. Vor wenigen Jahren aber suchte er eine "mythische Figur", deren Story sich als "universelle Geschichte" erzählen ließe. In einer alten Ausgabe des "Stern" entdeckte er den namhaften Südtiroler Ötzi für sich und als Helden für einen Film.

Tödliche Rache

Ein Mann, Mitte vierzig, von stämmiger Statur und der damals stattlichen Körpergröße von 1,6 Metern soll er Forschungsergebnissen zufolge gewesen sein. Magen und Darm des Mannes waren im Eis konserviert, daher wusste man, dass er in den Tagen vor seinem Tod in verschiedenen Vegetationszonen weite Strecken zurückgelegt hatte.

Sein Tod gibt auch noch nach 25 Jahren der Forschung Rätsel auf: Ein Pfeil hatte seine linke Schulter auf dem Rücken durchbohrt und eine Schlagader getroffen. Der Schädel wies Verletzungen auf. Woran er tatsächlich gestorben ist, muss noch geklärt werden. Vor wenigen Jahren entdeckte man jedenfalls noch eine Verletzung an der Hand, die zu Spekulationen anregte, dass er einige Tage vor seinem Tod in einen handgreiflichen Konflikt verwickelt gewesen könnte, der ihn dazu veranlasst hat, sich ins Hochgebirge zurückzuziehen, erläutert der führende Ötzi-Forscher Zink in seinem-Buch "Der Mann aus dem Eis",dass er zu Felix Randaus Film bei Reclam herausgebracht hat. Die Mumie selbst sollte noch die nächsten 5.300-Jahre bei bestem Befinden verbringen, denn Ötzi ist ein wichtiger Zeuge seiner Zeit. Gibt es mit der Kühlzelle des Bozener Museums, das eigens für ihn errichtet worden ist, einmal Probleme, steht in der Pathologie des örtlichen Krankenhauses ein frostiges Notbett zur Verfügung.

Kreislauf der Gewalt

Für Randau war das Verfassen des Drehbuchs ein "Wechselspiel zwischen Fiktion und Wissenschaft. Ich wollte die Geschichte dieses Mannes so authentisch wie möglich erzählen",sagt er. Deshalb habe er auch eng mit Wissenschaftlern zusammengearbeitet. Die Figuren kommen nahezu ohne Dialoge aus.Für deren knappe Wortwechsel und Gebete hat der Schweizer Sprachwissenschaftler Chasper Pulteine Kunstsprache entwickelt.

Ursprünglich, so Randau, wollte er ganz auf Sprache verzichten. "Ich finde es lächerlich, wenn sich Schauspieler in einem historischen Film in Oxford-Englisch unterhalten." Die Lösung fand Sprachwissenschaftler Pult: Er hat fundierte Indizien, dass die Steinzeitmenschen in den Ötztaler Alpen schon eine Urform des heutigen Rätoromanisch sprachen. Daraus konstruierte er die Filmsprache.

Die Struktur der Geschichte hatte Randau rasch für sich geklärt: "Eine Rachegeschichte zu erzählen, war für mich die einzige Möglichkeit." Den Pfeilschuss, der Ötzi getroffen hat, sieht-Randau als"heimtückischen Mord", dem seinerseits eine üble Tat -in Kelabs Fall ein Racheakt - vorangegangen sein muss. Die Ähnlichkeit zu Alejandro González Iñárritus Oscar-prämiertem Film "The Revenant" liegt auf der Hand: In beiden Filmen fahndet ein einsamer Held nach einem Scheusal und ringt dabei ums eigene Überleben in eisiger Winterkälte und feindlicher Natur. Inspiration sei Iñárritus Film für ihn aber keine gewesen, versichert Randau. "Mein Drehbuch war bereits fertig, als sein Film ins Kino gekommen ist. Aber der Vergleich stört mich nicht."

Nach der Rache

"The Revenant", fügt er hinzu, sei dem Superhero-Genre zuzuordnen. Ötzi, der Film, hingegen verstehe sich als "Parabel über menschliche Gewalt. ,The Revenant' hört auf, wenn der Held seine Rache vollzogen hat. Wir aber erzählen weiter." Denn Randau wollte wissen, ob und wie Rache einen Menschen wandelt. "Rache ist ein hochkomplexes Gefühl. Man will, dass der Gegner das Gleiche zu spüren bekommt wie man selbst. Aber als Kelab die Verbrecher getötet hat, erkennt er, dass auch sie Menschen waren. Deshalb verschont er deren Familie und hilft, seine Mordopfer zu bestatten." Auslöser für die Bluttaten in seiner Geschichte ist ein religiöser Fetisch, Kelabs Spiegelstein, für den die Aggressoren morden. "Für mich war es ganz wichtig, dass wir einen Fetisch im Film zeigen. Der muss damals für die Leute großen Wert verkörpert haben, ist aber für uns heute komplett wertlos. Das zeigt, dass der Anlass eines jeden Krieges fast immer haltlos ist", sucht Randau den pazifistischen Mehrwert. "Heute werden Kriege um Öl geführt. Vielleicht wird man es in hundert Jahren lächerlich finden, dass man einmal Kriege um etwas geführt hat, das kein Mensch später mehr braucht", sagt Randau. Ihm gehe es darum, "den Kreislauf der Gewalt zu zeigen. Denken Sie nur an die Kreuzzüge." Religion sei doch immer nur als Ausrede angeführt worden, um Kriege zu führen. "Die Menschheitsgeschichte hat sich nie geändert. Die Umstände sind nur anders geworden, aber nicht besser."

"Ötzi war ein Mensch wie du und ich. Und deshalb habe ich versucht, ihn so zu zeigen, dass er auch ein Mensch von heute sein könnte. Was er erlebte, hatte ihn seelisch total ausgebeutet. Nach unserem heutigen christlichen Weltbild hat er sich schuldig gemacht. Ich würde sagen, er ist unschuldig schuldig geworden", erklärt Randau. Dass der Mann aus dem Eis aber seit mehr als zwanzig Jahren als Ausstellungsstück im Bozener Museum der letzten Ruhe verlustig geht, sei der Strafe zu viel, meint Randau. Die Recherchen hätten ihn oft ins Bozener Archäologiemuseum geführt. "Mir tut er immer leid. Das Ausstellen ist eine Störung der Totenruhe. Ich verstehe, dass er für die Forschung extrem wichtig ist, aber ich fühle mich nicht wirklich wohl dabei. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, sollte man ihn bestatten. Denn obwohl er schon über 5.000 Jahre tot ist, ist er trotzdem immer noch ein Mensch."

Das Schicksal teilt der Eismann letztlich mit vielen ethnologischen Objekten.

Zum Film: Epos über Rache und Gewalt
Die Geschichte des Steinzeitmenschen Ötzi sei universell und zeitlos, meint Regisseur Felix Randau, und das zeigt er auch in seinem Film "Der Mann aus dem Eis". Eindrucksvolle Kamerafahrten durch die Natur und aussdrucksstarke Schauspieler wie Jürgen Vogel und Franco Nero erheben die Geschichte eines Rächers zum großen Epos der Menschheitsgeschichte. Derzeit im Kino