"Mahler, live":
Beginn mit Strahlkraft

In dieser Spielzeit übernahm der Schweizer Martin Schläpfer die Direktion des Wiener Staatsballetts. Seine erste Premiere, „Mahler, live“, ist derzeit Pandemie-bedingt als Stream auf „Arte concert“ zu sehen. Zur Aufzeichnung am 4. Dezember waren Journalisten in die Wiener Staatsoper geladen. News war dabei und hat den Vergleich.

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Ballett - "Mahler, live":
Beginn mit Strahlkraft © Bild: Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Beide Versionen, jene Live in der Staatsoper und der Stream, ziehen in ihren Bann. Dennoch mutet es seltsam an, wenn die Wirklichkeit das Geschehen auf der Bühne in einer anderen Dimension betrachten lässt. Denn Schläpfer hätte den ersten Teil seines Programms nicht treffender planen können: Hans van Manen hatte „Live“ als „Videoballett“, so nennt er es auch im Untertitel konzipiert.

Visionär

Unter den heutigen Umständen klingt das visionär, aber unter anderen Vorzeichen als zur Zeit seiner Uraufführung 1979. Die Choreographie sieht zwei Tänzer vor, doch der Pas de deux wird zum Pas de trois, denn die Kamera, respektive der Kameramann, verfolgt jede Szene. Der ist Henk van Dijk, van Manens langjähriger Partner. Er setzt sie in Rachel Beaujeans Neueinstudierung kunstvoll als Mittel zur Projektion und als Spiegel für Solotänzerin Olga Esina ein. Fünf kleine Klavierstücke von Franz Liszt (am Klavier Shino Takizawa) geben die musikalische Basis für das packende Kammerspiel. Eine Frau ist allein, die Kamera ist ihr Partner und Spiegelbild zugleich.

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Über der Bühne prangt eine Leinwand mit den Projektionen von dieser Frau. Sie betrachtet ihre Selbstbetrachtung, die Kamera wird immer mehr Mittel zur Selbstbespiegelung, bis Solotänzer Marcos Menha auftritt. Doch seine erste Szene ist nicht mehr als ein Sich-Blicken-Lassen und gleichzeitig ein Nachsehen, wenige Takte später verlässt er das Szenario. Die Tänzerin folgt ihm. Die Kamera wandelt sich vom Partner zum dem, was sie tatsächlich ist. Denn van Manen hat das Geschehen aus dem Saal ins Foyer und in die Gänge verlagert. Von dort wird in den Saal übertragen. Was man seit Castorf im Theater als vierte Wand kennt, schafft heute eine Gleichstellung des Publikums, zwischen jenen, die im Saal sein dürfen, und der großen Mehrheit, die ausschließlich den Stream sehen kann.

Die Szenen, in Schwarz-Weiß übertragen, erinnern an französische Kunstfilme der Sechzigerjahre. Frau und Mann tanzen ihre Partnerschaft. Jede Bewegung erfolgt akkurat und in dieser Präzision liegt eine unfassbare Freiheit. Er erhöht sie im besten Wortsinn - hier naturgemäß mit präzisen Hebefiguren - und verlässt sie. Ein Rückblick auf die Proben ist als Einschub zu sehen. Das Klavier verstummt. Nur die Geräusche aus dem Probenraum sind zu hören. Am Ende nimmt die Tänzerin einen Trenchcoat, schlägt den Kragen hoch und tritt auf die Straße. Die Vorstellung endet aber hier nicht. Um die Aufzeichnung nicht zu stören, darf man nicht applaudieren, das fällt fällt extrem schwer, lässt aber das Verneigen der Künstler wie eine weitere Szene erscheinen.

Poesie pur

Diesem Kammerspiel stellt Schläpfer seine großangelegte Arbeit mit dem schlichten Titel „4“ gegenüber. So nennt er seine erste Choreographie an der Wiener Staatsoper zu Gustav Mahlers vierter Symphonie in G-Dur, bei der er alle Tänzer des Staatsballetts auftreten lässt. Axel Kober, der im Vorjahr mit seinem Dirigat bei Wagners „Ring“ an der Staatsoper nachvollziehbar Euphorie bei Publikum und Kritik entfachte, steht am Pult. Er weiß, die philharmonischen Vorzüge dieses Orchesters und ihre Mahler-Kompetenz zu nützen und trägt Schläpfers filigranes Flechtwerk.

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Florian Etti hat ein Bühnenbild geschaffen, das im Saal und auch auf dem Bildschirm funktioniert. Über der Bühne prangt ein Dreieck, auf das je nach Szene eine andere Farbe projiziert wird. Von den Bühnenseiten fallen Lichtstreifen auf den Boden. Miniaturen sind Schläpfers Szenen, jede nur wenige Takte kurz. Leicht, schwebend wie Mahlers Musik wird Tanz zum Mittel für Schauspiel. Spitzentanz, Pirouetten, Arabesken, Elemente des klassischen Balletts vermengen sich mit Bewegungen aus dem wirklichen Leben. Hier wird Tanz gelebt und bleibt dennoch kunstvoll. Frauen und Männer in weißen, schwarzen Kostümen ähnlichen Schnitts suggerieren eine gewisse Gleichheit, eine ausgewogene Gesellschaft. Das Geschehen gibt die Musik vor. Der langsame Satz, den Mahler mit dem Titel „Ruhevoll“ überschrieben hat, zieht ganz in seinen Bann. Einfach nur der Schönheit verpflichtete musikalische Passagen und Szenen auf der Bühne stehen da absoluter Gewalt gegenüber. Schläpfer setzt um, was man hört. Details lassen aufmerken, prägen sich ein, etwa wenn eine Frau die Spitze ihres Schuhs in eine am Boden ausgestreckte Hand ihres Partners presst. Gruppen bewegen sich in absoluter Harmonie oder beziehen gegeneinander Stellung.

Alles spielt ganz organisch, ganz natürlich ineinander, Tanz, Musik und am Ende der Gesang von Slávka Zámečníková. Wenn sie mit ihrem klaren, sinnlichen Sopran vom „himmlischen Leben“ singt, wird sie Teil der Truppe. Schläpfer macht Mahlers Musik sichtbar, lässt aber trotzdem Tanz und Symphonie als zwei eigenständige Kunstwerke nebeneinander bestehen. Der Strahlkraft seiner Choreographie konnte auch der Stream nichts anhaben. Bleibt zu hoffen, dass der Vergleich bald wieder möglich ist.

Stream von „mahler, live“ auf: www.arte.tv

ORF2 zeigt „4“ am 8.12. um 9.05 Uhr