Lwiw - Florenz des Osten

Bereitet sich auf den russischen Angriff vor

von Lwiw © Bild: Dan Kitwood/Getty Images

In der ehemalige Stadt Lemberg im Westen der Ukraine verpacken Arbeiter der Stadtverwaltung Statuen, Gemälde und andere Kostbarkeiten in Kirchen und Museen, vernageln Fenster mit Holzbrettern und errichten die ersten Straßensperren in den Außenbezirken. Lemberg und Czernowitz waren einst die wichtigsten Städte der östlichen Gebiete der Habsburgmonarchie, die von 1772 bis 1918 diesen Teil der heutigen Ukraine kontrollierte. Jetzt erwarten sie den Angriff der Russischen Armee. Lemberg, einst Hauptstadt des Königreichs Galizien, wuchs zur viertgrößten Stadt der Monarchie und entwickelte sich unter österreichischer Verwaltung zum kulturellen und intellektuellen Zentrum Osteuropas - durchaus vergleichbar mit Wien, Prag und Budapest. Geografisch liegt Lemberg genau in der Mitte Europas.

Seit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine übernimmt sie die Rolle der provisorischen Hauptstadt. Die meisten Botschaften sind von Kiew hier her übersiedelt, ebenso einzelne Ministerien der ukrainischen Regierung. Durch die zentrale, osteuropäische Lage der Stadt mit Grenzen zu Polen, der Slowakei und Rumänien ist sie der Korridor für viele Flüchtlinge. "Es gab Tage, da sind bis zu 100.000 Menschen durch die Stadt gezogen, wir haben weder genügend Schlafplätze noch genug Essen für sie, darauf hat uns niemand vorbereitet", erklärte die Vertreterin der Stadtverwaltung, Viktoria Khrystenko gegenüber der "New York Times".

Während Tausende am Bahnhof von Lwiw aus allen Teilen der Ukraine ankommen auf der Suche nach einem Weg in die umliegenden Länder, erreichen auf anderen Bahnsteigen junge Männer aus dem Ausland, die sich als Freiwillige der ukrainischen Armee anschließen wollen, die Stadt.

Freiwillige

Die Ukraine hat ihre Botschaften im Ausland vorbereitet, Anträge für den Militärdienst in der Ukraine anzunehmen. Bisher sollen sich 16.000 gemeldet haben. Die Versorgung weiter Teile des Landes mit Hilfsgütern aus dem Ausland wird ebenfalls über Lwiw abgewickelt. "Kiew ist das Herz der Ukraine, Lwiw jedoch die Seele", beschreibt der Bürgermeister der Stadt die wichtige strategische Position und geistige Tradition der Stadt und seiner Umgebung. Nicht nur Diplomaten und Beamte übersiedelten, auch die Büros internationaler Organisationen und Konzerne.

Lwiw ist heute Ukraine, und doch wieder nicht. Besatzer lösten einander in den letzten Jahrhunderten ab, mal war es Polen, dann wieder Österreich, es wurde von den Deutschen besetzt, lag nach dem Krieg in der Sowjetunion bis zur Selbstständigkeit der Ukraine. Dennoch hat vor allem die Verwaltung der Habsburger das alte Lemberg besonders stark geprägt. Die gesamte Architektur der Stadt ist "österreichisch", und wenn man durch die Straßen spaziert, könnte man sich in eine Kleinstadt nicht weit von Wien versetzt fühlen. Durch einen Zufall wurde sie während des letzten Krieges verschont. Gotik, Renaissance, Barock und Jugendstil -alles ist noch da und zum Teil während der letzten Jahre wunderschön renoviert. In den breiten Boulevards und großzügigen Plätzen reihen sich Cafés aneinander, die zu den schönsten in Europa zählen. Das "Masoch-Café" ist nach dem in Lwiw geborenen Schriftsteller Leopold von Sacher- Masoch benannt, dessen Weltbild mit ästhetisch formuliertem Unterwerfungsverlangen in seinen Werken zum Begriff des "Masochismus" führte. Angeblich wird zur Tasse Kaffee auch ein Hieb mit der Peitsche angeboten.

In den engen Nebengassen mit ihren Kopfsteinpflastern bieten Geschäfte traditionelles Handwerk, auf den zahlreichen Märkten Bauern aus der Umgebung Obst und Gemüse und in den oft winzigen Restaurants lokale Spezialitäten. Die Stadt hat etwas unwirklich Verspieltes. Mit den alten Straßenlaternen, den laut rumpelnden, langsamen Straßenbahnen aus vergangenen Zeiten wirkt alles wie eine Kulisse für ein historisches Drama aus der Monarchie.

Galizien und Lodomerien

Mit der Machtübernahme der Habsburger begann die kreative Blütezeit der gesamten Region mit Lemberg als Verwaltungszentrum für Galizien und Lodomerien. Durch die Schulreform Maria Theresias war die Unterrichtssprache Deutsch und öffnete den Absolventen den Zugang zu den Universitäten in Wien. Die Stadt verfügte über eine eigenen Universität und ein Polytechnikum und war Sitz des k. u. k. Stadthalters als Vertreter des Kaisers. Es residierten dort drei Erzbischöfe (römisch-katholisch, griechisch-katholisch, armenisch-katholisch mit mehr als hundert Kirchen) und ein Oberrabbiner, als würde sich die Vielfalt der gesamten Monarchie in dieser Kleinstadt konzentrieren.

Um 1900 hatte Lemberg etwa 160.000 Einwohner, die Hälfte Polen, ein Viertel Juden und Ukrainer. Während der Herrschaft der Sowjets sollte die Stadt im Sinne Stalins zu einem Symbol der sowjetischen Stadtplanung "erneuert" werden. Die Bewohner wehrten sich, teils mit Boykott und Verzögerungen, bis Stalin es aufgab und Lemberg seinen musealen Charakter bewahren konnte. Das historische Stadtzentrum rund um den Rynok- Platz ist heute UNESCO-Weltkulturerbe. "Mit seiner städtischen Struktur und seiner Architektur ist Lwiw ein hervorragendes Beispiel der Verschmelzung von architektonischen und künstlerischen Traditionen Osteuropas mit denen von Italien und Deutschland", heißt es in der offi ziellen Erklärung der UNESCO.

Multikulturelles Dreieck

Mit den Städten Czernowitz und Brody in der Umgebung von Lemberg bildete sich ein multikulturelles Dreieck mit einigen der wichtigsten Schriftsteller, Komponisten und Intellektuellen des letzten Jahrhunderts.

Aus Lemberg kommen Stanislaw Lem, weltberühmter Science-Fiction-Autor, der Komponist Wojciech Kilar, der die Musik zu den Filmen "Der Pianist", "Die neun Pforten" und Coppolas "Dracula" schrieb, und der Philosoph Tadeusz Kotarbiński, Erfinder des "Logischen Empirismus".

Joseph Roth, einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller mit seinem wunderbaren, unerreichten Erzählstil, kommt aus der Kleinstadt Brody und hat in vielen seiner Werke die Welt der Händler, Soldaten, Zöllner und Schmuggler porträtiert, etwa in der Erzählung "Das falsche Gewicht" und in "Der Leviathan". In seinem wichtigsten Roman, "Der Radetzkymarsch", beschreibt Roth das Städtchen Brody als trostlose Kulisse für den Dienstort des Carl Joseph Trotta von Sipolje am äußersten Ende der Donaumonarchie.

Kalaschnikow

In Czernowitz geboren sind Joseph Schmidt, der berühmteste Tenor des 20. Jahrhundert, der mit den Liedern "Ein Lied geht durch die Welt" und "Ein Stern vom Himmel" weltweiten Ruhm erreichte, und Paul Celan, einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker, der Schriftsteller Gregor von Rezzori und die Autorin Rose Ausländer. Paul Celans Gedicht "Todesfuge" ist die bis heute unerreichte lyrische Verarbeitung des Holocausts. Isaac Stern, ebenfalls aus Czernowitz, ein Weltstar unter den Geigern seiner Generation, wurde mit mehr als hundert Aufnahmen einer der erfolgreichsten klassischen Musiker der Geschichte. 1979 erhielt er den Oscar für Dokumentarfilm "Von Mao bis Mozart".

So wie die Bevölkerung von Lemberg ihre Identität gegenüber polnischen, österreichischen, deutschen, sowjetischen und ukrainischen Besatzern verteidigte, hat sie auch nicht die Absicht, sich der russischen Armee kampflos zu ergeben. In den Waffengeschäften sind Pistolen und Jagdgewehre ausverkauft, Kasernen bieten Kampftraining für Zivilisten, und eine Webpage gibt Auskunft, welche Ausrüstungsgegenstände für den Widerstand gesucht werden und wo man sie abgeben könnte. Unter den Freiwilligen, die gruppenweise in den Straßen stehen und Ausbildner beobachten, wie eine Kalaschnikow zerlegt und wieder zusammengesetzt wird, sind die wenigstens ehemalige Soldaten oder Polizisten. Handwerker, Ärzte, Journalisten und Softwaredesigner melden sich zur Verteidigung der Stadt.

"Sklaven kommen nicht automatisch in den Himmel" - einer der Sprüche aus vergangenen Zeiten der Stadt ist plötzlich wieder aktuell.