"So bin ich wieder aufgestanden"

Ex-Skispringer Lukas Müller: Sein Weg zurück ins Leben - dieser Mann macht uns allen Mut!

Er krachte im freien Fall in den gefrorenen Schnee und wurde so zur tragischen Berühmtheit. Doch nun lernt Ex-Skispringer Lukas Müller trotz seiner inkompletten Querschnittlähmung wieder gehen - und wird so zum Mutmacher der Nation.

von Ex-Skispringer Lukas Müller © Bild: Ricardo Herrgott

Und dann ist Lukas Müller aus seinem Rollstuhl aufgestanden und gegangen: gezählte acht Schritte, kurz, langsam und wackelig, die Arme ausgestreckt wie die eines Seiltänzers, halb rudernd, halb balancierend. Unmittelbar bevor er die Wand erreicht, sich umdreht und noch einmal acht Schritte zurück macht, ballt er für einen Augenblick die Hände zu Fäusten: "Okay, ich bin querschnittgelähmt, aber seht her, ich stehe! Seht her, ich gehe!"

Gerade einmal 31 Sekunden dauert das Video, das Müller am 12. Juni auf Facebook und Instagram postete. Mittlerweile haben es mehr als 1,5 Millionen Menschen gesehen, und der 27-jährige Ex-Skispringer aus Spittal an der Drau, den vor seinem schweren Sturz nur ausgewiesene Experten kannten, ist mit einem Mal so was wie der Mutmacher der Nation. Er weiß ganz genau: Es waren nicht seine sportlichen Leistungen, sondern sein Schicksal und die öffentliche Anteilnahme an diesem Schicksal, die ihn vor dreieinhalb Jahren prominent machten. "Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, so läuft das in unserer Mediengesellschaft nun einmal", sagt er heute, doch das klingt eher abgeklärt, in keinster Weise verbittert.

Der ungebremste Aufprall

Rückblende. 13. Jänner 2016. Skiflug-Weltmeisterschaft am Kulm. ÖSV-Athlet Müller ist Vorspringer. Er hebt perfekt ab, bekommt günstigen Aufwind, rechnet mit einer Weite jenseits der 220 Meter; einer Weite, die den Juniorenweltmeister von 2009 hoffen lässt, bald erneut in den dicht besetzten Wettkampfkader aufzurücken. Doch plötzlich drückt der linke Ski zum Körper, rotiert wie ein Propeller -und mit ihm Lukas Müller: Er dreht sich, aus dem eleganten Segelflug wird freier Fall, aus dem Fall ein ungebremster Aufprall. Rücklings kracht Müller auf den gefrorenen Schnee der Auslaufbahn. "Man dachte, ich hätte das Bewusstsein verloren", erzählt er, "doch das stimmt nicht: Ich wollte mich noch vom Rücken auf den Bauch drehen, aber ich konnte mich nicht bewegen." Die Ersthelfer, den Helikopter, all die Hektik, die rund um ihn entstand, habe er kaum wahrgenommen. Da war nur dieser endlos lange Moment wie in Watte, dieses innere Standbild ganz ohne Schmerz, ohne Angst, ohne Gefühl. Der Blick runter auf seine reglosen Beine und Füße, diese Klarheit noch vor der ersten offiziellen Diagnose. Fraglich war für Müller eigentlich nur noch der Grad seiner künftigen Bewegungsunfähigkeit. "Es klingt seltsam, aber bereits in diesen allerersten Sekunden war mir klar: Jetzt beginnt richtig, richtig viel Arbeit, zu der es keinerlei Alternative gibt."

Nun endlich ist das Ergebnis dieser Arbeit sichtbar. Und Müller möchte für das Mitgefühl, das er in Zeiten der Krise empfing, etwas zurückgeben, will durch das Video seiner tragischen Bekanntheit tröstlichen, aufmunternden Inhalt geben. Vom gestürzten Adler zum Stehaufmann, jene symbolschweren acht kleinen Schritte zur Wand und zurück: Wie oft war er auf genau diesem Weg zuvor schon gestrauchelt, wie oft gefallen. "Immer wieder hat's mich volley umgehauen - keiner hat gesehen, wie viele Watschen ich kassiert habe, aber es waren unzählige."

Doch das sollte keiner sehen, zumindest noch nicht jetzt. Erst als alles wirklich nach Plan funktionierte und er die neuen Bewegungsabläufe verinnerlicht hatte, habe er ein Video angefertigt. Und erst als sich das Land so richtig nach guten Nachrichten sehnte, habe er es dann auch gepostet. "Ibiza-Video, Regierungskrise, in genau dieser Situation wollte ich halt für einen kleinen Lichtblick sorgen", sagt Müller.

Ex-Skispringer Lukas Müller
© Ricardo Herrgott Koordinationsübungen mit schweren Medizinbällen sollen die Koordination verbessern

Grelles Licht und Düsternis

Doch zunächst war da die Operation. Und rund um den grellen Lichtkegel der OP-Leuchte herrschte noch ziemliche Düsternis. Sechster und siebenter Halswirbel gebrochen, die Bandscheibe dazwischen zerfetzt, der Eingriff dauerte fünf Stunden, danach lag Müller noch für weitere zwölf Stunden im künstlichen Tiefschlaf. "Wenn er aufwacht, kann er vielleicht nur noch den Kopf bewegen", orakelte einer der behandelnden Ärzte im Gespräch mit den bangenden Eltern. Doch davon bekam Müller selbst nichts mit, sein Comeback in der Welt der Lebenden habe, wie er sagt, "zum Glück" ein ganz anderer Mediziner einbegleitet. Einer, der vom ersten Moment die beste Marschrichtung für ein Gegenüber vorgab, das womöglich nie mehr einen Fuß vor den anderen setzen würde

Zuerst habe ihn der Arzt gefragt, ob er denn wisse, was mit ihm passiert sei. "Ja", sagte Müller. Dann habe er ihn gefragt, ob er irgendwelche Gefühle im Oberkörper und in den Armen habe. "Ja", sagte Müller. Womit sich die Hoffnungsdiagnose eines inkompletten Querschnitts bestätigt hatte: "Sie haben einen funktionierenden Kopf und funktionierende Hände, genau das ist Ihr Startkapital für ein einigermaßen normales Leben", konstatierte der Arzt. Und Müller sagte, noch halb weggetreten, ein drittes Mal "Ja".

Kaum spürbarer Ruhepuls

Denn auch wenn sich sein Blutdruck bei gerade einmal 70 zu 30 eingepegelt hatte und der Ruhepuls noch kaum spürbar war -dieser eine Satz hatte sich unauslöschlich ins Gehirn des Patienten eingebrannt. Es war zwar ein völlig neues Leben, das da für den ehemaligen Berufssportler und Bewegungsprofi seinen Anfang nahm, eines ohne Springen und Fliegen, dafür mit einem grundoptimistischen Leitmotiv. Aber auch ersten echten Belastungsproben. Denn da waren die ersten vier Wochen im Spital, während der Müller ausnahmslos im Bett lag. "Ich war im Zustand eines Babys mit dem Verstand eines Erwachsenen", erinnert er sich. Und genau dieser Verstand schlug zunächst oft noch die abenteuerlichsten Purzelbäume, solche, zu denen der Körper ab sofort nicht mehr fähig war. "Ich dachte mir, wenn ich meine Beine schon nicht mehr gebrauchen kann, dann sollte man sie mir doch am besten gleich amputieren, um mich so von unnötigem Ballast zu befreien", erzählt Müller. Zwei Tage später traf er dann zufällig auf eine Mitpatientin, die knapp zuvor beide Beine verloren hatte, und ärgerte sich über sich selbst und seinen "blödsinnigen" Fatalismus.

Steriles Weiß

Doch wer, umsäumt von sterilem Weiß, Tag für Tag einfach nur so daliegt wie aufgebahrt und Löcher in die Luft starrt, der gerät zwangsläufig immer wieder ins Grübeln. Und schlägt sich dabei auch mit wunderbaren Erinnerungen herum, die mit einem Mal nur noch quälend sind:

Erinnerungen wie jene an den 3. Juni 2004, das Datum wird Müller nie vergessen. Denn es war der Tag, an dem der begeisterte Skifahrer in der Villacher Alpenarena zum ersten Mal über eine echte Schanze gesprungen war. Erst hielt sich der zwölfjährige Knirps mit den 2,2 Meter langen Sprunglatten immerhin elf Meter weit in der Luft, beim zweiten Sprung waren es dann schon immerhin 13 Meter, und ab dem dritten Sprung, sagt er, war es dann endgültig um ihn geschehen. "Dieses Verlangen zu springen verwandelte sich rasch in ein Verlangen zu fliegen, und ich wusste: Genau das ist es, was ich mit meinem Leben machen will."

Aber nun war da auf einmal der Rollstuhl, dieses unbekannte Ungetüm aus Stahl, Draht und Kunststoff, mit dem sich Lukas Müller zu arrangieren hatte. Doch die Annäherung verlief durchaus freundschaftlich. "Ich betrachtete ihn von Anfang an als eine Erleichterung, als Hilfe, nicht als Symbol meiner Einschränkung." Nach der gefühlten Ewigkeit im Bett war der Rollstuhl der Inbegriff der Mobilität.

Denn da war, wie der Arzt gesagt hatte, ja immer noch der funktionierende Kopf, und da waren noch immer die funktionierenden Hände und Arme, das grundoptimistische Leitmotiv aus dem Aufwachraum war zurückgekehrt. Diesmal, ohne sich alsbald wieder in dunklen Gedanken zu verlieren. Lukas Müller, der gestürzte Spitzenathlet, hatte endlich wieder etwas, wofür es sich hart und konsequent zu trainieren lohnte. "Das ganz große Ziel, die Vision, war von Anfang an, irgendwann einmal wieder richtig gehen zu können", sagt er. Doch das ganz große Hindernis, das ließ sich nicht aus dem Weg räumen, nicht sofort und auch nicht irgendwann in der Zukunft -ganz im Gegenteil, es ließ sich nur integrieren. "Ich wusste: Mein inkompletter Querschnitt war ein Feind, den ich nicht besiegen konnte, also habe ich ihn mir zum Freund gemacht."

Glück im Pech

Denn eigentlich, sagt Müller, habe er innerhalb seines Pechs noch richtiges Glück gehabt: "Im Grunde habe ich mir das Genick gebrochen. Fünf, sechs Zentimeter weiter oben, und ich hätte dem Gras von unten beim Wachsen zugeschaut." Skiflieger ist er zwar keiner mehr, dafür, und nur das zählt wirklich, ist er dem Tod von der Schaufel gesprungen.

Ex-Skispringer Lukas Müller
© Ricardo Herrgott

Entgegen ursprünglichen Befürchtungen war nicht einmal eine zweite Operation zur Stabilisierung des Rückens nötig. Und entgegen ursprünglichen Befürchtungen habe sich, was immer wieder vorkommt, die Lähmung in den Tagen unmittelbar nach dem Eingriff auch nicht vom Bauch aufwärts ausgebreitet. Und so hat Müller so rasch als möglich mit dem intensiven Training im Olympiazentrum Rif bei Salzburg begonnen. Koordinationsübungen mit schweren Medizinbällen, schweißtreibende Einheiten am Antigravitationslaufband und, in letzter Zeit, immer wieder intensive Gehübungen und sogar winzige Sprünge, barfuß in den Sand, um die alten, neuen Bewegungsabläufe zu verinnerlichen. Glaube und Realität

Fast zwei Jahre mit vier bis sechs Einheiten pro Woche liegen hinter ihm, jede Einheit bis zur Erschöpfung, mit kleineren und größeren Fortschritten, mit kleineren und größeren Rückschlägen. Mittlerweile hat Müller die Intensität auf zwei bis drei Trainings pro Woche gedrosselt. "Als Sportler bin ich gewohnt, mit Niederlagen umzugehen und sie zu verarbeiten, ohne den Glauben an das Projekt aufzugeben, anderseits aber auch, bei Erfolgen nicht den Blick auf die Realität zu verlieren: Und die Realität ist, dass ich einen anatomischen Schaden habe."

Die Beine, die ihn nun wieder zu tragen beginnen, lassen ihn noch immer keine Temperatur spüren, auch keinen Schmerz, und selbst die Heilung kleinerer Wunden dauert fünf bis sechs Wochen. Manchmal, das spürt er, schauen die Menschen ihn ziemlich seltsam an. So, wie er selbst geschaut hatte, als er noch ein Kind war und mit einer Mischung aus Scham und Unsicherheit auf Rollstuhlfahrer hinabblickte. "Es gibt Tage, an denen ich vor Freude herumtanzen könnte, und Tage, wo ich am liebsten liegen bleiben und gar nicht aufstehen möchte." Doch meist besinnt sich Lukas Müller recht rasch, erinnert sich an die regungslosen Tage im Spitalsbett und weiß: Blauzumachen und nicht aufstehen zu müssen, das ist kein Glück. Glück ist - aufstehen zu können.

Dieser Beitrag ist in der Printausgabe von News (30/2019) erschienen.