Warum Genuss wie Radfahren ist

Kein Genuss ist vorübergehend. Denn der Eindruck, den er hinterlässt, ist bleibend. Sagte schon Goethe. Und jetzt? Wird in der Rehaklinik, wo ich beschäftigt bin, wie in anderen Kliniken auch eine Genussgruppe angeboten. Achtsamkeit und Wahrnehmung wollen gelernt sein. Aber wie?

von Liebes Leben - Warum Genuss wie Radfahren ist © Bild: Nathan Murrell

Anton liebt Saskia. Saskia Anton. Aber es kommt nicht mehr zum, nennen wir es "bewussten Genuss ihrer Liebe". Seit Jahren haben sie nur noch den Kopf für Arbeit, Haushalt und Kinder. Sowie Hund Cosmo, der kommt auch nicht zu kurz. Klingt fast nach Superman und Superwoman im Single-Modus. Und vor allem bei Saskia nach olympischem Gold im Allrounderin-Sein. Saskia liebt es, zu kochen, fast wie beim "Perfekten Dinner", das sie nach der Arbeit beim Bügeln im Fernsehen schaut. Die Kinder sind halbwüchsig, aber nicht minder zeitaufwendig. Denn es gibt immer was zu coachen, wen zu trösten, was zu organisieren und zu besorgen.

Aber wie geht es dem Paar eigentlich damit, auf Genuss zu verzichten? Genießen ist eine Fähigkeit wie Radfahren. Man verlernt sie nicht, aber muss schon etwas dafür tun, nämlich, beim Radeln in die Pedale treten und für den wahren Genuss von der Alltagsmaschinerie runterkommen. In ihrer Paartherapie können Saskia und Anton erstmals wieder wirklich in Ruhe vor allem eines: miteinander reden. Heraus kommt so einiges. Zum Beispiel Saskias Angst vor dem Älterwerden. Ihre Flucht vor den eigenen Emotionen. Und ihre Vermeidung von Nähe, nicht nur zu ihrem Mann, sondern ebenso zum "Rest der Welt". Ihre durch die Zahl 50 und das Plus dahinter geschürten Selbstzweifel haben Saskia um ihre Genussfähigkeit gebracht. Das wird ihr in meiner Praxis unter Tränen bewusst: "Dass ich mich selbst so nicht akzeptieren kann und irgendwie minderwertig fühle." So, als habe sie es nicht verdient, zu genießen. Ja, und auch der Verzicht auf Zärtlichkeit und Sex gehört hierher. Familienhund Cosmo ist der Einzige, mit dem Anton und Saskia Zärtlichkeiten austauschen.

© iStockphoto.com

Ein kurzer Auszug aus einer Paartherapie sagt mehr als tausend Worte. Saskia: "Du begrüßt Cosmo liebevoller als mich und streichelst ihn und hast dabei eine zärtliche Stimmlage." Anton: "Cosmo kommt schwanzwedelnd auf mich zu. Du siehst grimmig zur Seite." Saskia: "Weil ich mich nicht wertgeschätzt fühle." Anton: "Du machst es mir nicht leicht." Saskia: "Und du es mir auch nicht." Die Lösung einer eingefrorenen Beziehungskultur wie dieser liegt im Genuss. Und diesen gilt es, Schritt für Schritt zu reaktivieren, zu trainieren. Und vor allem: Erlauben Sie sich, Ihr Leben zu genießen, statt geplagt Ihre To-do-Liste abzuarbeiten. Saskia und Anton machen sich in ihrer Paartherapie bewusst, worauf sie jahrelang verzichtet haben. Das Wunder gemeinsamen Genusses. Auf genussvolles Essen, Spaziergänge, Gespräche, Wanderungen, Freizeitaktivitäten, Reisen, Momente auf der Couch. Genussvolle Feierabende und Wochenenden. Genussvolle Autofahrten, Radtouren. Sich bewusst dem Hier und Jetzt zu öffnen und sich -ruhig einmal auch laut -zu sagen: "Schön, dass wir da sind." Auf einmal ist Saskia nicht mehr im ewigen Hamsterrad der Wert-durch-Leistung-Endlosschleife. Und Anton und Saskia sind wieder im Leben angekommen, das sie so richtig genießen können. Aber nur, wenn sie achtsam sind und wahrnehmen, wann der nächste Genussmoment kommt. Dann heißt es, sich folgende Erlaubnis zu geben -bitte mit Bauchatmung: vier Sekunden tief durch die Nase einatmen, die Bauchdecke hebt sich, dann sechs Sekunden innehalten und circa acht Sekunden tief und genießerisch ausatmen, die Bauchdecke senkt sich leicht.

Und jetzt, ja, jetzt geben Sie sich die Erlaubnis, einfach nur da zu sein, nichts tun zu müssen - außer sich diese Erlaubnis zu geben, da zu sein und das Leben zu lieben. Und zu genießen.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
Haben Sie noch Fragen? Schreiben Sie mir bitte: praxis@wogrollymonika.at