Liebe Worte, hässliche Ansagen

Das alte Jahr, es soll bitteschön im Schein von Miteinander und Versöhnung gesehen werden, wünschen sich Kanzler und Vizekanzler. Aber bekanntlich gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung.

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Ich mag sie nicht sonderlich, die Standard-Weihnachts-und Neujahrswünsche, die dieser Tage wieder im großen Stil an fast alle verschickt werden. Aber wir leben nun mal in Zeiten knapper Budgets. Nicht nur finanziell, sondern auch in Hinblick auf Zeit, Hingabe und Muße. Gerade erreichte mich die obligatorische Weihnachtspost von Kanzler und Vizekanzler. Per Mail. Es sind, ganz praktisch, gleich zwei Briefe adressiert -einmal an einen Chefredakteur, einmal an eine Chefredakteurin. Der Brief ist recht lang, richtet sich nicht nur an mich, sondern ist vor allem für Sie, die "Leserinnen und Leser" gedacht -und mit einer Bitte verbunden. Nämlich, dass ich diesen Brief, der auf den 23.12. datiert ist und am 20.12. verschickt wurde, erst am 24. Dezember mit Ihnen teile. Da ist dieses Magazin freilich schon längst gedruckt. Einmal mehr war dem Kanzleramt wohl entfallen, dass in diesem Land nicht nur Boulevard-und Tageszeitungen erscheinen. Das kann passieren. Es passiert oft.

Andererseits: Die Medien werden in diesem Weihnachtsbrief sogar mit einem eigenen, einzelnen Satz bedacht. "Unabhängige, kritische und freie Medien sind wesentlich", heißt es. Dass Kanzler und Vizekanzler das thematisieren (müssen), ist bemerkenswert und zeigt, wie längst nicht mehr selbstverständlich eine unabhängige Berichterstattung für ein Land wie Österreich ist. Der Blick auf den Pressefreiheitsindex muss jedenfalls die Alarmglocken schrillen lassen. Österreich ist hier aktuell um 14 Plätze auf Platz 31 abgerutscht. Thematisiert werden zudem die schweren Zeiten, die Unterstützungsleistungen und Reformen der Regierung, die sichergestellte Energieversorgung und die schweren Prüfungen, die das "vielgeprüfte Österreich" in den vergangenen Monaten zu bewältigen hatte -und dank Klimabonus, Stromkostenbremse, Anti-Teuerungsbonus, Öko-Pauschale und Heizkostenzuschuss auch mehrheitlich bewältigt hat. Und dann wird der Brief feierlich. Aber auch unglaubwürdig. Es fallen Worte wie Miteinander und Versöhnung. Es sei wichtig, aufeinander zuzugehen, füreinander einzustehen und das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Was man halt so schreibt in der vermeintlich besinnlichsten Zeit des Jahres. Die Erzählung hat nur einen Haken. Sie stimmt nicht mit dem Gesagten und dem Tun der vergangenen Tage, Wochen und Monate überein. Nicht in der Innenpolitik, wo es mehr denn je Klein-Klein und Ich-Ich gab. Nicht in der Außenpolitik, wo die letzten Hemmungen gefallen sind.

»Für ein paar billige Aufmerksamkeitspunkte fallen die letzten Hemmungen«

Wir müssen endlich das Tabu Zäune brechen", hatte der Kanzler gerade noch auf den letzten Metern dieses Jahres gemeint. Endlich! Passt das zu den formulierten frommen Wünschen? Ich finde nicht. Mich, die als DDR-Bürgerin 17 Jahre hinter einer Mauer gelebt hat, schmerzen solche Sätze. Erst recht, wenn sie locker-flockig und vor allem ahnungslos dahingesagt werden. Für ein paar billige Aufmerksamkeitspunkte. Für ein bisschen Ablenkung von parteiinternen Problemen. So wie immer halt. Wer Migration mit Zäunen und Mauern eindämmen will, nimmt Tote in Kauf. Jedenfalls hässliche Bilder. Zumindest das hätte der Kanzler der Vollständigkeit halber dazu sagen müssen, bei seiner Suche nach einer Antwort auf die irreguläre Migration. 2023 wird er sie finden müssen. Billige Tricks werden nicht reichen. Ernst gemeinte Antworten würden hingegen der Glaubwürdigkeit einer Kanzlerpartei, aber vor allem dem Land guttun.

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