Lernen wir in der Schule noch, was wir für die Zukunft brauchen?

Die Präsidentin der uniko, Sabine Seidler, über Lehren aus der und Lernen in der Coronapandemie. Und: warum Corona-Skeptiker an den Unis zu Wort kommen müssen.

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Sabine Seidler ist Werkstoffwissenschaftlerin und seit zehn Jahren Rektorin der TU Wien

Zugangskontrollen an den Eingängen, Maskenpflicht an den Gängen, Abstände im Hörsaal, manche Vorlesungen finden nach wie vor im virtuellen Raum statt. An den Universitäten ist Corona-Routine eingekehrt. Erleichtert wird die Organisation des Studienbetriebs durch die hohe Impfquote bei den Studierenden, "wobei das bei der Planung eher noch das Prinzip Hoffnung war", erklärt die Präsidentin der Universitätenkonferenz (uniko), Sabine Seidler.

Viel wurde im letzten Schuljahr über die Situation der Kinder im Distance Learning diskutiert. Die Universitäten waren medial nicht so präsent. Wie also erging es den Studierenden? "Die Situation an den Unis wurde dann mitdiskutiert, wenn in den Schulen etwas los war", sagt Seidler, die seit zehn Jahren Rektorin der TU Wien ist. "Dabei ist manchmal der Eindruck erweckt worden, die Universitäten seien große Schulen. Der Betrieb an Universitäten ist aber wesentlich vielfältiger und braucht mehr Flexibilität." Studien mit vielen praktischen Übungen in Labors oder künstlerische Ausbildungen in Meisterklassen brauchen andere Bedingungen als jene mit einem hohen Anteil an Vorlesungen.

Während AHS-Oberstufen und berufsbildende höhere Schulen mit Lockdowns haderten, konnten die Studierenden in ausgewählten Bereichen schon früher an die einzelnen Häuser zurückkehren, erzählt Seidler: "Wir waren nur für die Öffentlichkeit aus dem Präsenzbetrieb herausgenommen. Für die TU kann ich sagen, dass wir im kompletten vergangenen Studienjahr unsere Labors offen hatten. Die Angewandte hat schon letzten Sommer wieder mit dem Betrieb vor Ort begonnen. Da hatte es seine Vorteile, dass die Universitäten unter der Wahrnehmungsschwelle fahren."

Trotzdem gilt: "Die junge Generation ist die Hauptleidtragende der Pandemie. Wir merken das daran, dass die psychosozialen Beratungsangebote ausgebaut werden mussten, weil der Bedarf so groß geworden ist. Die Einsamkeit belastet junge Menschen ganz besonders."

Aufbruchstimmung

Jetzt herrsche Aufbruchstimmung an den Universitäten, berichtet Seidler. "Wir spüren das alle. Es ist so viel Energie am Campus und in den Gebäuden, weil jetzt wieder viele Studierende da sind. Wir hatten ja reduzierten Betrieb seit letztem November. Die leeren Gebäude kamen einem da schon gespenstisch vor." Eine "Wahnsinnsstimmung" habe jetzt bei der Verleihung der Best Teaching Awards geherrscht. Dabei wurde auch in der Kategorie "Best Distance Learning" ausgezeichnet. "Es ist faszinierend, welch fantasievolle Formate in dieser Zeit entstanden sind." Buchstäblich zuhause am Küchentisch hätten das die Vortragende entwickelt. Einiges von dem, was an Universitäten wegen Corona entstanden ist, kann und darf diese Pandemie auch überdauern, manches von früher kann auch wegbleiben. Massenvorlesungen vermisst keiner. "Da haben die Studierenden einen Mehrwert, wenn sie das von zuhause anschauen können -auch mehrmals", sagt Seidler. Allerdings: "Es ist nicht damit getan, dass sich Lehrende einfach vor eine Kamera stellen und ihre Vorlesung heruntererzählen." Das reicht weder inhaltlich, noch bringt es die notwendige Interaktion von Lehrenden und Lernenden: "Selbst, wenn es in einem großen Hörsaal keine geistige Interaktion gibt, merken Sie als Vortragende schon, ob Ihnen die 500 Leute gerade wegknicken oder ob Sie sie fesseln können."

Neue (digitale) Räume

Aus der Sicht der Universitätsmanagerin ist die Herausforderung nun, klassische Vortragsformate mit den neuen Möglichkeiten zu kombinieren und dabei einen sinnvollen Studienalltag zu ermöglichen. Wer gleich nach dem Labor eine Onlinevorlesung hat, kann dazwischen nicht nachhause flitzen. "Das heißt, wir müssen Räume schaffen, wo Studierende ihre Vorlesungen online anschauen können. An den Unis wird es dann vielleicht nicht mehr die Riesenhörsäle brauchen, dafür aber mehr kleinere Einheiten. Das sind eigentlich ganz profane Dinge. Sie bringen mich aber zu dem Schluss, dass Universität dadurch keinesfalls billiger werden wird, sondern eher teurer", sagt Seidler.

Eine weitere Erkenntnis aus dieser Zeit: Neue Kooperationen wären möglich. Universitäten könnten gemeinsam Online-Grundkurse für Studienrichtungen entwickeln, die an mehreren österreichischen Standorten angeboten werden. "Solche Prozesse dauern allerdings eine gewisse Zeit. Lehrende sind ja auch starke Persönlichkeiten, die erst einmal ausdiskutieren müssen, wer welchen Part bei so einem übergreifenden Konzept übernimmt. Das ist ja nicht wie bei einem Orchestermusiker, der das lernt, wie man zusammenspielen kann und muss."

Die Studienanfängerinnen und -anfänger von 2021 sind die zweite Corona-Generation an den Universitäten. Groß war der Zweifel, ob in Zeiten von Lockdown und Distance Learning an den Schulen wesentliche Lehrinhalte auf der Strecke bleiben. Merkt man also etwas bei den Neuen? "Letztes Jahr hatten die Maturantinnen und Maturanten ja fast ein vollständiges Schuljahr, für heuer kann man noch nicht abschätzen, ob es Lücken gibt. Allerdings machen wir schon seit Jahren Anpassungskurse für Studienanfänger, zum Beispiel in Mathematik. Die sind sehr erfolgreich." Spürbare Niveauunterschiede gab es also schon vor Corona, auch die Zentralmatura brachte da keine Veränderung: "Es geht ja nicht um das, was Jugendliche an einem bestimmten Tag, für den sie noch dazu trainiert haben, als Leistung abrufen, sondern darum, welche Skills sie im Laufe der Jahre erworben haben. Die Zentralmatura macht vielleicht den Unterschied zwischen einzelnen Schulen sichtbarer, aber hat nur einen geringen Einfluss auf das z. B. mathematische Verständnis der einzelnen Schüler."

Lernen wir überhaupt das Richtige?

Ist es nötig, den gesamten Lehrplan intus zu haben? Lernen wir in der Schule noch, was wir für die Zukunft brauchen?"Das ist eine philosophische Frage. Ich habe vorhin über die sozialen Nöte der Studierenden gesprochen. Was man nicht vergessen darf: Studierende und Schüler erwerben miteinander soziale Skills. Ich glaube, dass wir uns an Unis und Schulen viel stärker auf den kritischen Diskurs konzentrieren müssen. Faktenwissen ist gut und schön, aber das vergisst man irgendwann. Die Halbwertszeit ist bei manchen Studierenden, die auf eine Prüfung hingelernt haben, wirklich kurz. Wissen anzuwenden, lernt man hingegen nur, wenn man sich damit auseinandersetzt. Das wird durch digitale Formate sehr gefördert. Man konsumiert die Vorlesung online und trifft sich dann mit den Lehrenden, um das Gehörte und Gelesene kritisch zu hinterfragen."

Mathematik, Physik, Chemie, Technik, Naturwissenschaften insgesamt - vor Corona konnte man in Österreich eher mit dem Eingeständnis totaler Unwissenheit in diesen Bereichen punkten als mit einer Liebeserklärung an die Wissenschaft. Hat die Coronapandemie mit der medialen Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Verständnis verbessert? "Es war schön, zu sehen, wie stark Wissenschaft auf einmal in den Mittelpunkt gerückt ist und welche wichtige Rolle Wissenschaftskommunikation hat. Die Menschen wissen nun etwas über Statistik oder Inzidenzen. Allerdings glaube ich, dass es nicht nachhaltig ist. In der Wissenschaft gibt es selten eine Meinung, es gibt aber jeden Tag neues Wissen, das es zu interpretieren und zu verifizieren gilt. Gerade dieser Diskurs in der Öffentlichkeit war der Sache aber nicht immer zuträglich, weil man das außerhalb des Systems kaum verstehen kann. Dann heißt es: Die sind sich ja selbst nicht einig, die können uns das nicht erklären. Der Mensch möchte aber Handlungsanweisungen haben, wie er sich und seine Umgebung schützen kann."

Auch an den Universitäten wird zum Thema Corona gestritten. Eine Ringvorlesung an der Uni Wien kam ins Gerede, weil hier Skeptiker der Coronamaßnahmen vortragen. Hat so eine Veranstaltung Platz auf akademischem Boden? Rektorenchefin Seidler: "Als Lernergebnis heißt es in der Ankündigung zu dieser Lehrveranstaltung: Studierende seien danach in der Lage, mit der Coronapandemie und dem Klimawandel, mit der Vielfalt wissenschaftlicher Sichtweisen, Kontroversen und Zielkonflikten umzugehen. Sie erhielten die Fähigkeit, Dialoge zwischen unterschiedlichen Positionen und Perspektiven zu führen. Wenn ich das lese, muss ich sagen: Das ist richtig. Ich frage mich aber, ob eine Ringvorlesung, bei der keine Diskussion zwischen den Positionen, etwa zwischen Virologen und Impfverweigerern, vorgesehen ist, das richtige Mittel dazu ist. Trotzdem bin ich der Meinung, dass man eine solche Veranstaltung nicht verbieten dürfte. Wir haben ja auch eine Freiheit der Lehre. Das ist ein extrem hohes Gut, das es zu schützen gilt."