Kanzlerin der
verwundeten Herzen

Eine vulnerable Gesellschaft vertraut eher einer Ärztin als politischen Heilsverkündern: Ist das die Chance der oft und gerne geschmähten Pamela Rendi-Wagner?

von Leitartikel - Kanzlerin der
verwundeten Herzen © Bild: News

Sie ist eine Frau mit Hausmacht, ausgestattet mit einem komfortablen Vertrauensvotum -könnte man meinen: Mit 97,81 Prozent der Delegiertenstimmen wurde Pamela Rendi- Wagner am 24. November 2018 zur ersten Parteichefin der SPÖ gewählt. Doch die nordkoreanische Dimension der Zustimmung täuscht völlig über die damalige Gemengelage hinweg: Weder die sozialdemokratischen Alphamännchen (Ludwig, Doskozil) noch der ewige Hoffnungsträger (Zeiler) wollten in diesen Tagen die rote Losertruppe übernehmen. Wen wundert's? Die Nation hatte in Sebastian Kurz, dem unverbrauchten Popstar der Konservativen, soeben ihren neuen Schwiegersohn gefunden, gegen den von links vorerst kein Staat zu machen war; und das wussten die roten Routiniers, also ließ man charmant der Dame den Vortritt. Als Rendi-Wagner am Tag ihrer Wahl dann auch noch verkündete, sie wolle Österreichs erste Bundeskanzlerin werden, konnten viele klatschende Funktionäre nur notdürftig ihr Grinsen verbergen.

Parteiintern galt sie bestenfalls als Interimslösung, zu verkopft und abgehoben erschien sie den sozialdemokratischen Besserwissern, zu wenig populistisch, um je populär zu werden. Und so gab es Phasen, in denen der pannonische Genosse Doskozil seiner "Chefin" in der Wiener Löwelstraße im Wochenrhythmus und in aller Öffentlichkeit das realpolitische Leben erklärte. Infektiologie und Epidemiologie, wer braucht denn so was? Rendi-Wagners wissenschaftliche Fachgebiete waren in Zeiten der alten Normalität keine politischen Disziplinen. Doch dann kam die Naturkatastrophe, und da sie kam, um zumindest mittelfristig zu bleiben, sind Volksvertreterinnen mit einschlägiger Expertise und moderatem Ton mit einem Male hochmodern. Aber könnte Rendi tatsächlich Regierungschefin? Nun, die K-Frage erscheint im Zusammenhang mit der einstigen Antipolitikerin zumindest nicht mehr ganz so abwegig wie noch am 24. November 2018.

Wir erinnern uns: Von der Ankündigung des ersten Lockdowns weg machte Medienkanzler Kurz Corona zu seinem Karrieretool, und selbst als Überbringer schauriger Botschaften und Hardliner vom Dienst generierte er anfangs noch fett Sympathien. Doch dann: gefühlt jeden Tag eine weitere Pressekonferenz, gefühlt jeden Tag ein weiteres Versprechen, das gefühlt einen Tag später an den globalen Realitäten scheitert. Der Schwiegersohn der Nation inflationiert sich -und die SPÖ-Chefin, die kaum wer wollte, profitiert davon:

Unsere Gesellschaft ist, wie das neudeutsch heißt, vulnerabel, und wer verwundet ist, sehnt sich eher nach einer echten Ärztin als einem Heilsverkünder. Das suggerieren zumindest die Umfragen und Vertrauensindizes, in denen Kurz verliert, Anschober abstürzt und Rendi- Wagner gewinnt. Zumindest vorerst.

Die wahre Bewährungsprobe steht der Kanzlerin der verwundeten Herzen allerdings noch bevor: Wenn das Virus eingedämmt ist, wird es darum gehen, die gewachsene Kluft zwischen Arm und Reich zu überbrücken, Verteilungsgerechtigkeit auf allen Ebenen wird das ganz große Thema -ein sozialdemokratisches Kernthema! Aber ist das dann auch noch ein Fall für die Ärztin? Oder doktern daran dann wieder die alten SP-Machtpragmatiker herum?

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